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Titelthema: Tradition

Eine Botschaft für das Hier und Jetzt

Wer über Traditionen spricht, redet über die Gegenwart und nicht die Vergangenheit. Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion.

Hermann Mückler01.06.2017

Traditionspflege, Rückbesinnung auf Traditionen, die Instrumentalisierung und der Missbrauch von Tradition – die Bandbreite der Zugänge zum Umgang mit dem überlieferten materiellen und geistigen kulturellen Erbe wird aktuell heftig diskutiert und in seinen Bedeutungen hinterfragt. Die Debatte, ob die deutsche Bundeswehr in der Tradition der Wehrmacht der NS-Zeit steht, bietet dabei eine Projektionsfläche für die verschiedensten Interessen­gruppen, angemaßte Deutungshoheiten nach außen zu tragen und daraus politisches Kapital zu schlagen. Dabei wird der Begriff „Tradi­tion“ häufig in pauschalisierender Weise verwendet, ohne dass man sich im Klaren zu sein scheint, dass es sich hier um keinen wertfreien Begriff, sondern um ein – je nach Interessenlage – aufgeladenes und damit instrumentalisierbares Konzept handelt. Instrumentalisiert wird es dabei von zwei Seiten: von jenen, die Traditionen zu pfle­gen vorgeben, und von jenen, die genau dies mit dem Verweis auf eine belastete Geschichte, von der man sich distanzieren muss, kritisieren.

Konstruierte Überlieferung

Traditionen existieren nicht per se, sondern sie werden geschaffen, indem sie von jemandem als solche festgelegt und benannt werden. Das heißt wiederum, dass es sinn­voll ist, sich bei allen sogenannten traditionellen Praktiken und als traditionell bezeichneten Manifestationen zu fragen, wer festlegt(e), etwas als „traditionell“ zu bezeichnen und vor allem warum. Die Diskussion um Tradition ist eine Diskussion um die Gegenwart: Es geht dabei um das Hier und Jetzt, es geht um Defizite und Desiderate in der gegenwärtigen herausfordernden Gesellschaftsentwicklung. Denn Gegenwart wurde und wird immer durch den Verweis auf kürzer oder länger bestehende, überlieferte und angeeignete Gepflogenheiten legitimiert, indem damit unbewusst antizipiert wird, dass diese überlieferten Praxen erprobt, bewährt und daher gut sein müssen. Die Frage dabei ist, was ist überliefernswert und was nicht?

Um- und Neudeutungen sowie das Erfinden von Wurzeln dienen vor allem Legitimationszwecken, insbesondere in Zeiten kollektiver gesellschaftlicher Des­orientierung bzw. Neuorientierung. Ein gutes Beispiel dafür war das Aufflammen nationalistischer Tendenzen in den ehemals sozialistischen Ländern Zentral- und Osteuropas nach den Umbrüchen Anfang der 1990er Jahre. Doch schon davor, noch in realsozialistischer Zeit, wurden immer wieder Mythen bemüht, die keine oder nur eine weit hergeholte bzw. stark verbogene Geschichte bemühten, um den herrschenden Marxismus durch einen identitätsstiftenden Nationalismus zu festigen. In Rumänien etwa entstand der „dako-rumä­nische“ Mythos, in Bulgarien beschwor man die Sage der „Thraker“. Und vielerorts wurden einfach Traditionen erfunden, um Legitimation zu gewährleisten.

Die Historiker Eric Hobsbawm und Te­rence Ranger haben in ihrem programmatischen Band „The Invention of Tradition“ nationale Traditionen moderner Nationalstaaten auf ihre historische Tiefe hin untersucht. Sämtliche Studien gelangten zu dem Ergebnis, dass ein vergleichsweise großer Teil der sich alt, oft archaisch gebenden na­tionalen Traditionssysteme in Wirklich­keit Produkte des 19. Jahrhunderts waren. Die sogenannten „Ossian-Gesänge“ der gälischen Mythologie sind ein Beispiel für diese Erfindung von historischer Konti­nui­tät durch Bezüge auf alte, meist lange ver­schollene, aber nun scheinbar wiederentdeckte Dokumente einer ruhmreichen Vergangenheit. Die tschechischen „Königinhofer-“ und „Grünberger-Handschriften“ sind ein weiteres Beispiel dieser Erfin­dun­gen einer eigenen nationalen in die zeitliche Tiefe reichenden Geschichte einer im Entstehen begriffenen Nation; eine Geschichte, die als Basis für die Etablierung von darauf fußenden Traditionen dienen sollte.

Sehnsüchte und Trugbilder

Der amerikanische Autor und Filmemacher Woody Allen formulierte einmal in einem seiner Filme den Satz „Tradition ist die Illusion von Dauerhaftigkeit“. Tatsächlich impliziert diese Äußerung zwei wesentliche Faktoren für die Definition dessen, was Tradition ausmacht: Illusion verweist auf das Faktum der Vorstellung, also darauf, dass in der Wahrnehmung wirklich Vorhandenes als etwas anderes erlebt oder für etwas anderes gehalten werden kann, als es tatsächlich ist. Nicht immer, aber sehr oft geht es bei Dingen und Praktiken, die als traditionell bezeichnet werden, um Illusionen und Projektionen; hier gibt es häufig eine Gemengelage, die Einbildung, Sehnsüchte, Erdichtung, Fiktion, Trugbild und Wunschtraum in zum Teil sehr unübersichtlicher und schwer voneinander zu trennender Weise verknüpft. Dauerhaftigkeit wiederum impliziert zwei Komponenten, nämlich einerseits im gegenständlichen Sinn Haltbarkeit und Stabilität, die im Regelfall über lange Zeiträume hinweg sichergestellt werden sollen, andererseits im übertragenen philosophisch-psychologischen Sinn Dauer und Regelmäßigkeit, wobei letztere eng mit der Periodizität, also dem Turnus bzw. der möglichen Wiederkehr in Verbindung steht.

 Natürlich sind Traditionen nicht automatisch verfälschte Wahrnehmungen, wie sich aus diesen Ausführungen ableiten ließe, aber sie haben das Potential, Ereignis se im Rückblick und mit dem Wachsen des zeitlichen Abstands so abzubilden, dass eine Rekonstruktion tatsächlicher Umstände erschwert wird. Darüber hinaus kann die scheinbar entwaffnende Feststellung „Das war schon immer so …“ unter Umständen blockierend wirken, wenn es dem krampfhaften Festhalten an überkommenen Strukturen dient und solcherart mangelnden Veränderungswillen dokumentiert. Die Beschäftigung mit dem Wesen von „Tradition“ dreht sich hier im Kern der Thematik meist um die Begriffe „Identität“ und „Selbstrepräsentation“.

Hermann Mückler
Prof. Dr. Hermann Mückler ist Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Zuletzt erschien „Die Marshall-Inseln und Nauru in deutscher Kolonialzeit. Südsee-Insulaner, Händler und Kolonialbeamte in alten Fotografien“ (Verlag Frank & Timme, 2016). hermann-mueckler.com