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„Eine einzige Katastrophe“

Titelthema - „Eine einzige Katastrophe“
Endlich Frieden: Nach erfolgreichen Friedensverhandlungen liegen sich im September 1978 Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat und Israels Ministerpräsident Menachem Begin in den Armen. US-Präsident Jimmy Carter applaudiert. © Arnie Sachs/cnp/ddp/sipa usa

Wenn Israel weiterhin als jüdischer Staat existieren soll, muss unsere fatale Siedlungspolitik endlich ein Ende haben.

Avraham 'Avi' Primor01.05.2023

Wenn ich in diesen Tagen gebeten werde, mich zu erinnern, muss ich ein wenig ausholen. Mein Vater stammte aus Holland und wanderte mit seiner Familie 1929 nach Palästina aus. Meine Mutter entstammte einer deutschen jüdischen Familie aus Frankfurt am Main. 1932 kam sie als Touristin mit einer Jugendgruppe im Rahmen einer Mittelmeerreise für einen Tag nach Palästina, Tel Aviv, lernte zufällig meinen zukünftigen Vater kennen und ging nicht mehr zurück. Obwohl sie nur ein paar Fetzen Französisch miteinander sprechen konnten, wollte sie bei ihm bleiben. Sie teilte ihren Eltern die Entscheidung in einem Brief mit, die empört reagierten: „Was soll der Blödsinn? Was will ein anständiges, bürgerliches deutsches Mädchen in der Wüste?“ In ihrer frechen Art, sie war gerade erst 18, antwortete sie so, dass der Kontakt zu den Eltern abriss. Als sie Jahre später erfuhr, dass die Eltern in der Shoah ums Leben gekommen waren, wollte sie nie wieder etwas mit Deutschland zu tun haben.

Während des Zweiten Weltkriegs ging es uns in Palästina gut. Den Holocaust kannten wir nur aus Erzählungen. Unsere Feinde waren nicht die Deutschen, sondern die englischen Besatzer, die jüdische Flüchtlinge, die ins Land wollten, nicht hereinließen. In Tel Aviv lebten wir damals Seite an Seite mit den Arabern. Viele kamen zu uns Juden, um uns ihre landwirtschaftlichen Waren zu verkaufen. Es gab sogar Eheschließungen zwischen Juden und Arabern. Da ich unter den Engländern in Palästina aufwuchs, stand in meinem ersten Pass, dass ich Palästinenser bin – mit dem Zusatz: britischer Untertan. Der Bruch mit den Arabern kam erst 1947/48, als die Vereinten Nationen das Ende des britischen Mandats erklärt und das Land geteilt haben in einen arabischen und einen jüdischen Teil. Unseren Staat haben die Araber nie anerkannt, die Kämpfe dauern bis heute an.

Den Krieg gewonnen, aber nicht den Frieden

Ich ging in Tel Aviv in eine normale jüdische Schule. Obwohl wir eine britische Kolonie waren, lief die Schulbildung ganz autonom. Wir Kinder wurden in der Schule sehr nationalistisch erzogen – nationalistisch, nicht streng religiös. Heute weiß ich: Nicht alles, was wir damals gelernt haben, war richtig. Richtig aber war, dass wir einen eigenen Staat haben mussten – nach dem Holocaust mehr denn je. Die Feinde waren jetzt nicht mehr die Engländer oder die Deutschen, sondern die Araber, die nach der Unabhängigkeit ganz offen sagten, dass sie uns Juden physisch vernichten wollen. Wir hatten den Krieg gewonnen, aber nicht den Frieden.

In den Jahren nach dem Krieg war es vor allem wirtschaftlich schwer, weil wir nach dem Abzug der Briten nicht länger Teil der Sterling-Zone waren. Der Handel mit den arabischen Nachbarn brach völlig ein und wir etablierten einen Tauschhandel mit den Türken, deren Produkte genauso schlecht und teuer waren wie unsere.

Mit Ausnahme Deutschlands

Erst mit den deutschen Wiedergutmachungszahlungen konnten wir endlich eine wirtschaftliche Basis schaffen. Die meisten Israelis wollten mit den Deutschen aber nichts zu tun haben. Selbst in unseren Pässen stand auf Französisch: Gültig für alle Länder mit Ausnahme Deutschlands. Mein erstes Buch, das ich schrieb, als ich Botschafter in Deutschland war, hieß: Mit Ausnahme Deutschlands. Adenauer und Ben-Gurion gelang dennoch eine Annährung. Diese fand zuerst im Geheimen statt, denn in beiden Ländern gab es erhebliche Widerstände. Der Wiedergutmachungsvertrag von 1952 bedeutete noch nicht den Beginn diplomatischer Beziehungen, aber es war der Beginn unseres wirtschaftlichen Aufschwungs, denn mit deutschen Industriegütern und deutschem Know-how wurde der Grundstein für unsere wirtschaftliche Entwicklung gelegt. Das war wichtig, denn zu diesem Zeitpunkt wollte kein anderes Land in Israel investieren, weil man dachte, dass unser Staat keine Zukunft hätte. Um sich aber mit der deutschen Industrie und deutschen Maschinen vertraut zu machen, mussten einige Israelis nach Deutschland reisen. Dabei kamen Deutsche und Israelis natürlich miteinander ins Gespräch und es entwickelten sich zwischenmenschliche Beziehungen – das ließ sich gar nicht vermeiden. Doch Israel war noch nicht bereit für diplomatische Beziehungen.

Dann, einige Jahre später, geschah etwas Seltsames: Erster deutscher Botschafter in Israel wurde 1965 Rolf Friedemann Pauls, ausgerechnet ein alter Wehrmachtsoffizier. Der sollte das neue Deutschland bei uns vertreten? Das konnten die Israelis nicht verstehen. Als er kam, um sein Beglaubigungsschreiben dem israelischen Präsidenten zu überreichen, wurde er von Massen von Demonstranten vor der Präsidentenresidenz angegriffen, die sein Auto von allen Seiten mit Steinen bewarfen. Das war fürchterlich. Doch Pauls war tapfer, hielt durch und wusste, wie er mit den Israelis sprechen musste. Und er wurde durch seine ausgleichende Art ein beliebter Diplomat in Israel. Als ich ihn Jahre später kennenlernte, fragte ich: „Als Ihr Auto damals mit Steinen beworfen wurde, wie lange mussten Sie mit verbeultem Auto durch Israel fahren?“ Da sah er mich verwundert an und antwortete: „Keinen einzigen Tag, das war doch das Auto Ihres Präsidenten.“ Es entwickelte sich sogar eine Freundschaft zwischen uns.

Den Deutschlandkomplex überwinden

Der erste Deutsche, den ich jemals kennenlernte, war Claus von Amsberg. Er war zweiter Botschafter Deutschlands in der Elfenbeinküste, ich war zweiter Botschafter Israels. Und er bestand darauf, mich kennenzulernen. Ich habe versucht, es zu verhindern, aber es gelang mir nicht. Eines Tages stand er in meinem Büro. Später besuchte er sogar meine Frau und mich zu Hause. Und auch aus diesen Gesprächen entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.

Jahrelang blieb er mein einziger deutscher Kontakt. Das änderte sich erst, als ich Botschafter in Brüssel wurde, denn für die Europäische Union ist Deutschland einfach zu wichtig – ich konnte Deutschland nicht länger ignorieren. Dort traf ich deutsche Kollegen, sprach mit ihnen aber rein beruflich und auf Französisch. Als ich dann vor der Wahl stand, deutscher Botschafter zu werden, dachte ich, es ist höchste Zeit, diesen Deutschlandkomplex in meiner Seele zu überwinden. Also lernte ich Deutsch, erst in Israel, dann in Mannheim, und zwar von frühmorgens bis spätabends. Was mich in der ersten Zeit als Botschafter dann am meisten verwunderte, war, dass meine deutschen Kollegen mich bei jedem Treffen auf den Holocaust ansprachen. Ich dachte, das Thema sei für alle weit weg, aber es gab praktisch kein Gespräch ohne dieses Thema. Und ich lernte, dass es eine andere Sichtweise auf die Dinge gab als unsere jüdisch-egoistische. Wir stritten nie über die Tatsachen, aber es gab doch unterschiedliche Sichtweisen.

Nicht nur im Dialog mit den Kollegen war es wichtig, die deutsche Sprache zu beherrschen, sondern auch für den Dialog mit dem deutschen Volk. Denn ich bekam sehr viele Briefe. Auch antisemitische, aber vor allem viel Anerkennung. In anderen Ländern habe ich das nicht erfahren, diese Briefflut war ein deutsches Phänomen.

Trennen und Frieden schließen

Heute, ein Vierteljahrhundert später, glaube ich, dass die deutsch-israelischen Beziehungen so gut sind wie noch nie. Erstaunlich gut, obwohl immer mehr Deutsche sich kritisch zur israelischen Siedlungspolitik äußern. Dennoch: Es gibt kein anderes Land in Europa, in dem die Medien die israelische Politik so wenig kritisieren wie in Deutschland. Die diplomatischen Beziehungen und die militärische Kooperation sind intakt. Aber: Die israelische Politik ist in diesen Tagen eine einzige Katastrophe. Und ich frage mich, wie lange die deutsche Unterstützung unter diesen Umständen noch halten kann. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns von den besetzten Gebieten trennen müssen. Wenn wir das tun, werden wir Frieden schließen mit der gesamten arabischen Welt. Wir werden das aber nicht tun, weil die Siedlungspolitik von einem Großteil der israelischen Bevölkerung unterstützt wird – aus religiösen, nationalistischen oder fanatischen Gründen. Es gibt nur zwei Optionen: Entweder wir trennen uns von den besetzten Gebieten und schließen Frieden mit den Palästinensern und der arabischen Welt, oder wir werden ein binationaler Staat, wenn wir die besetzten Gebiete annektieren. Dann hätten wir keine andere Möglichkeit, als den Arabern im Land die israelische Staatsangehörigkeit zu geben. Aber dann hätten wir in absehbarer Zeit keinen jüdischen Staat mehr.

Schon heute beträgt der Anteil der arabischen Israelis 22 Prozent, im Westjordanland und im Gazastreifen bilden die Palästinenser schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Ihr Bevölkerungswachstum ist so viel höher als unseres, dass sie uns bald überholen werden. Der binationale Staat kann nicht funktionieren. Ich hoffe für die Zukunft Israels, dass wir es nicht darauf ankommen lassen, sondern eine Zweistaatenlösung erreichen.

Wir haben Avi Primor gebeten, sich einerseits für uns zu erinnern, und andererseits die Gegenwart seines Landes einzuordnen. Das über einstündige Gespräch bildet die Basis für diesen Artikel. 

Avraham 'Avi' Primor

Avraham „Avi“ Primor war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland und wurde zu einer der wichtigsten Stimmen des deutsch-israelischen Dialogs. Im Jahr 2003 erhielt er das Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband.

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