Titelthema
Eine verspätete Liebe
Israel und die DDR erkannten sich gegenseitig nicht an. Als sie sich einander annähern wollten, war es zu spät. Erinnerungen eines israelischen Beobachters
Die verblüffende Nachricht vom Fall der Berliner Mauer bekam ich in Brüssel. Ich diente damals als israelischer Botschafter beim belgischen König, beim luxemburgischen Herzog und vor allem bei der Europäischen Union. Wie die meisten Beobachter saß ich stundenlang erregt vor dem Fernseher und verfolgte Nachrichten in allen möglichen Medien.
Deutschland war damals für mich ein widersprüchliches Land. Einerseits Terra incognita, ein für mich unbekanntes und mysteriöses Land. Andererseits ein Land, dessen Nachrichten ich ununterbrochen verfolgt habe. Ich wollte bis dahin nie den deutschen Boden betreten. Obwohl ich 1935 in Tel Aviv geboren wurde und den Zweiten Weltkrieg in keiner Art persönlich erlebt habe, war er für mich Teil meines Lebens, seitdem ich im Alter war, etwas davon zu verstehen. In meiner Kindheit war Politik ein Teil des Lebens der damaligen Kinder. Wir verfolgten die Weltpolitik, wie es heute kein Kind verstehen würde. Unser Feind, dennoch, war nicht unbedingt Nachkriegsdeutschland, sondern eher Großbritannien: die Großmacht, die Palästina beherrschte und die wir loswerden wollten.
Gemeinsam, zwangsweise
Ich aber bin in Tel Aviv in keiner Atmosphäre des arabischen Feindes, sondern in der des deutschen Feindes aufgewachsen. Meine Mutter, eine geborene Frankfurterin, besuchte im Rahmen eines Jugendausflugs 1932 das Mittelmeer und Palästina. Aus reinem Zufall hatte sie meinen zukünftigen Vater kennengelernt und fuhr nicht mehr zurück nach Deutschland. Ihre Familie in Deutschland hingegen wurde im Holocaust ermordet.
Meine Mutter hat meine Geschwister und mich mit der Idee aufgezogen, dass es kein Deutschland mehr gäbe, und wir dürften dieses Land gar nicht erwähnen. Jahre später, als das Wiedergutmachungsabkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik 1952 in Luxemburg unterschrieben wurde, weigerte sich meine Mutter, es wahrzunehmen, hat auch nie Wiedergutmachungszahlungen von Deutschland angenommen.
Das Wiedergutmachungsabkommen kam für Israel zu einem kritischen Zeitpunkt. Dieses Abkommen sorgte nicht für Bargeldüberweisungen von Bonn nach Jerusalem. Abgesehen von den Zahlungen an Holocaust-Überlebende lieferte Deutschland dem Staat Israel nur Güter. Die Wirtschaft der Bundesrepublik hatte sich vom Krieg noch nicht erholt. Bargeld stand den Deutschen nicht zur Verfügung. Daran war jedoch auch Israel nicht interessiert, sondern am Aufbau einer Volkswirtschaft. Es freute sich, Industriegüter, Transportmittel wie Schiffe und Eisenbahnen und moderne Landwirtschaftsgeräte zu bekommen. Die allerersten neuen Schiffe, die die Deutschen Schiffswerften in der Nachkriegszeit bauten, gingen an Israel. So konnte sich der junge Staat eine Modernisierung leisten, die alle Phasen des öffentlichen Lebens beeinflusste.
Dieses Wiedergutmachungsabkommen zwang Israelis und Deutsche zusammenzukommen, denn Israel musste die deutsche Industrie kennenlernen, nach Deutschland Experten schicken und in Israel deutsche Experten empfangen. Zwischenmenschliche Kontakte bahnten dadurch einen Weg zu zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn auch widerwillig, aber äußerst wirksam.
Israels Sorgen
Als die Berliner Mauer fiel, war in Israel das Gefühl der Feindseligkeit gegenüber Deutschland schon eine Geschichte der Vergangenheit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war für Israel auch keine schlechte Nachricht. Freunde des Kommunismus und der Sowjetunion gab es in Israel schon längst nicht mehr. Dennoch sorgte die Idee der deutschen Wiedervereinigung für Kopfschmerzen in Israel. Was für ein Deutschland wird es nun geben, fragten die Israelis. Gegen den traditionellen Hass und alle Vorurteile hatte sich eine Freundschaft und eine Zusammenarbeit zwischen der demokratischen Bundesrepublik und Israel entwickelt. Die DDR war ein besonders feindseliges Land gegenüber Israel. Sie hat Israel nie anerkannt, hat Feinde Israels aufgenommen, sie militärisch ausgebildet und ihnen Waffen geliefert.
Wie würden die deutsch-israelischen Beziehungen nun aussehen? Der israelische Ministerpräsident Itzchak Schamir schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl im Geheimen und bat ihn, die deutsche Wiedervereinigung nicht in die Tat umzusetzen. Trotz dieses absurden Briefes erwiderte der Bundeskanzler mit einem sehr sanften und freundlichen Brief, in dem er dem israelischen Ministerpräsidenten versprach, dass die Wiedervereinigung für die deutsch-israelischen Beziehungen keine Änderung bedeuten wird. Schamir gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden und schrieb dem Kanzler einen zweiten Brief im selben Sinn. Der Kanzler erwiderte auch im Sinne seines ersten Briefes.
Ein merkwürdiges Angebot
Anfang des Jahres 1990 flog der israelische Außenminister Mosche Arens nach Bonn, um den Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu treffen. Da Arens im Sinn hatte, mit seinem deutschen Kollegen auch die Beziehungen zwischen Israel und der Europäischen Union zu erörtern, lud er mich von Brüssel nach Bonn ein, um an den Gesprächen teilzunehmen. Der Grund dafür war allerdings auch zufällig von mir initiiert worden: Kurz zuvor hatte sich in meiner Botschaft in Brüssel der DDR-Botschafter an mich gewandt und um einen dringenden Termin gebeten. Diesen Botschafter hatte ich schon öfter gesehen, aber jedes Mal schaute er mich an, als wäre ich durchsichtig, und sprach mich natürlich nicht an. Und nun kam er zu mir in die israelische Botschaft. Diesmal war er äußerst freundlich und entgegenkommend. Er kam ganz einfach mit dem Auftrag, uns gegenseitig anzuerkennen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Ich war, wie man sich vorstellen kann, mehr als überrascht, und erwartete die Antwort von Jerusalem auf dieses merkwürdige Angebot. Diese Nachricht sollte Teil des Gesprächs von Arens mit Genscher in Bonn sein.
Da war das Thema vom Tisch
Bonn war verschneit, wie ich es selbst im Laufe meiner späteren sechs Jahre in der ehemaligen Bundeshauptstadt nie wieder erlebt habe. Trotz der Kälte war Genscher jedoch warmherzig und äußerst freundlich. „Ihr wollt jetzt diplomatische Beziehungen mit Pankow aufnehmen?“, fragte er ganz erstaunt. „Na bitte“, sagte er, „wenn ihr es wollt. Wir haben keine Einwände dagegen. Aber“, fügte er hinzu, „macht das sehr schnell, weil es in kurzer Zeit keine DDR mehr geben wird.“ Das sagte er mit einem breiten Lächeln. „Viele in der Bundesrepublik und weltweit“, erwiderte Arens, „sind der Meinung, dass es ein kommunistisches Deutschland im Osten nicht mehr geben wird, die DDR jedoch bestehen bleiben wird.“ Genscher lächelte und sagte: „Auch ich höre solche Stimmen, im Osten wie auch im Westen. Meine Meinung kennen Sie. Tut, was ihr wollt. Wir haben keine Einwände.“ Nach diesem Gespräch war in Jerusalem das Thema „DDR-Anerkennung“ vom Tisch.
Feindseligkeit gab es nicht
Ich kam 1993 nach Deutschland. Das für mich unbekannte Land erregte in mir große Neugierde. Aber besonders neugierig war ich in Bezug auf die neuen Bundesländer. Ich besuchte den Osten des Landes so oft wie möglich, habe dort Vorträge gehalten und versucht, mich mit den verschiedensten Menschen zu unterhalten. Entgegen meiner Ängste habe ich nie und nirgends Feindseligkeit gegenüber Israel entdecken können. Es schien mir, als hätten die Bürger Ostdeutschlands von der feindseligen Israelpolitik der DDR und von der Unterstützung der Feinde Israels nie etwas gehört. Die Einwohner des sogenannten „Tals der Ahnungslosen“ wussten so gut wie nichts von der israelischen Realität, selbst die Hasspolitik der DDR hatte sie nicht erreicht. Es schien mir so, als hätten die Bürger der offiziellen Propaganda kaum zugehört oder ihr zumindest keine Glaubwürdigkeit geschenkt.
Avraham „Avi“ Primor war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland und wurde zu einer der wichtigsten Stimmen des deutsch-israelischen Dialogs. Im Jahr 2003 erhielt er das Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband.
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