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Titelthema

Eine Frage nationaler Identität

Titelthema - Eine Frage nationaler Identität
El Dorado – 1966 – Dieser Klassiker unter den Großwestern erzählt mit vielen humorigen Einlagen die Geschichte eines alternden Revolverschützen und dessen Freundschaft zu einem Sherif. © Imago Images/Mary Evans, Adobe Stock

Der Neue Western verhandelt aktuelle Konflikte im historischen Setting. Zur Bedeutung weiter Landschaften, Geschlechterrollen und körperlicher Gewalt.

Heike Endter01.03.2023

Jede Geschichte muss irgendwo spielen, und im Western ist dieser Ort bedeutsam genug, dass durch seine Auswahl entschieden wird, ob es sich um einen Western handeln kann. Die regionale Codierung dieser Filme rührt von drei Bedingungen ihrer Erzählweise her. Western sind erstens jenem Raum-Zeit-Gefüge gewidmet, welches im 19. Jahrhundert im Westen der heutigen USA existierte. Zum zweiten wird parallel dazu eine Nationalisierung, hier in Gestalt einer jungen, sich ausbreitenden Nation beschrieben. Was zum dritten auf das heutige und künftige Selbstverständnis innerhalb des US-amerikanischen Raumes weiterwirkt.


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Wenn mit dem Western das Genre des US-amerikanischen Heimatfilms seit einigen Jahren eine Renaissance erlebt, nachdem es für Jahrzehnte als nahezu tot galt, dann verweist dies auf eine als notwendig angesehene, massenmedientaugliche und vermarktbare Befragung der eigenen nationalen Identität, deren Grundlagen mit den Mythen des Wilden Westens formuliert wurden. 2015 kamen mit The Revenant und The Hateful Eight, 2016 mit Jane Got a Gun und dem Remake The Magnificent Seven vier Hollywood-Western in die Kinos, bei denen im Rahmen nationaler Mythen verschiedene Konventionen bearbeitet werden, die zugleich mit aktuellen Spannungsfeldern verbunden sind, darunter die Rolle ethnischer Konflikte, die Rolle körperlicher Gewalt, die Rollen der Geschlechter und die Rolle des Ländlichen gegenüber der Stadt.

Dass Western lange als kaum relevantes Genre galten, liegt nicht nur daran, dass es ein historisierendes und insofern anachronistisches Genre ist, sondern auch daran, dass es ein Landschaftsgenre ist, und Landschaft wird oft, durch die intellektuelle Bevorzugung des Urbanen, mit dem Verdacht des Provinzialismus belegt.

In der Rede vom Provinzialismus wird das Dasein in einem bestimmten Raum als tendenzielle Bewegungslosigkeit aufgefasst, obwohl, im paradoxen Gegensatz dazu, der provinzielle Raum – und dies ist hier der ländliche Raum – wegen seiner physikalischen Weite und seiner geringeren sozialen Dichte, die er gegenüber der Stadt aufweist, einen größeren Bewegungsumfang sowohl bietet als auch nötig macht. Die Form der Bewegungslosigkeit, die mit dem Wort des Provinzialismus gemeint ist, ist immer eine ideologische, die sowohl auf eine vermutete physikalisch-räumliche Unbewegtheit als auch eine soziale, intellektuelle Starre bezogen wird. Die Rede vom Provinzialismus dient also dazu, den Lebensstil einer Gruppe parallel zu ihrem Lebensraum zu denunzieren.

Unabhängigkeit und Kampfbereitschaft

Die Bedeutung von Westernlandschaften liegt darin, dass sie karg, weit und ohne Zentrum sind. Karg müssen sie sein, um den Wert des Überlebens darin zu einer Tugend zu steigern. Weit müssen sie sein, damit alle Wege offen bleiben. Ohne Zentrum müssen sie sein, um Idealen wie Eigenverantwortung, Unabhängigkeit und Kampfbereitschaft zu dienen, die, als quasi ureigene US-amerikanische Werte propagiert, zu einem spezifischen Patriotismus überleiten. Wenn in Western die Existenz eines Zentrums negiert wird, so ist damit jede mögliche Urbanität ausgeschlossen, faktisch, aber auch mutwillig, denn ein Zentrum ist auch ein Ort der Abhängigkeiten, und gerade die Abhängigkeiten gilt es in den wichtigen, männlichen Heldenfiguren auszuschließen.

Auch in dem Western Jane Got a Gun fehlt ein Zentrum, und damit wird ein Dasein inszeniert, das aus existenziellen Erfahrungen besteht. Abseits einer üblichen sozialen Segmentierung wird hier die allgemeingültige Bedeutsamkeit des Lebens einer Frau dadurch gesichert, dass sie in einer weiten, einsamen Landschaft lebt, ihr Kind und ihren Mann beschützt, ihr Haus nicht aufgibt und sich einem tödlichen Konflikt stellt. Als Jane für einen Moment im Rahmen ihrer Haustür steht, nach draußen schaut und einen Reiter kommen sieht, ist diese Sequenz deutlich an dem ikonisch gewordenen Western The Searchers von 1956 orientiert. In jenem Film verliert, wie in vielen Western, das Haus als minimale Version einer Heimat seinen Schutzcharakter: Die an das Haus gebundene Frau, ihr Mann und eines ihrer Kinder werden getötet und zwei weitere Kinder entführt. Demgegenüber ist das Neue an Jane, dass sie, angesichts einer offenkundigen Bedrohung, Waffen und Munition beschafft, einen Mann anheuert, der ihr bei der Verteidigung hilft, und dass sie am Ende tatsächlich jenen, der sie bedrohte, selbst erschießt. Der Film ist mit seinem Titel identisch: Jane hat eine Waffe. Womit vermutlich beabsichtigt war, für Frauen eine emanzipatorische Rolle in diesem Genre zu definieren. Doch schließt sich die Aussage an ein weiteres Muster an, nämlich die Vorstellung, sich zum erfolgreichen Schutz mit Schusswaffen ausstatten zu müssen. Die emanzipierte Jane kann darum auch für jene Konsumenten vorbildlich sein, welche die National Rifle Association und die mit ihr liierte Waffenindustrie für Waffen zu begeistern sucht, nämlich Frauen und ausdrücklich auch Mädchen, denen Gewehre mit einem rosa Schaft sowie Pistolen mit rosa Holstern offeriert werden.

Gewalt als vorherrschende Kommunikation

Vergleicht man die Frauenfigur aus Jane Got a Gun mit der dominierenden Frauenfigur aus The Hateful Eight, so werden in beiden Filmen Frauen den Männern gleichgestellt, indem auch sie töten oder lustvoll getötet werden dürfen. Besonders das Letztere war entweder ein Tabu oder ein als Zivilisationsbruch markierter Vorfall in klassischen Western, in denen weiße Frauen die Rolle der Zivilisationsbringerin einnahmen, die bestimmte kulturelle Konventionen einforderten und Gewalt ablehnten. Was in dem Moment, in welchem Frauen die gleichen gewalttätigen Rechte wie Männern eingeräumt werden, entfällt, ist die Aufgabe, einen Ausgleich zu suchen und eine andere als eine gewaltsame Kommunikation zu etablieren. Auch wenn diese Aufgabe in klassischen Filmen geschlechtsspezifisch und darum mit diskriminierenden Auswirkungen besetzt war, so fehlt doch in neueren Filmen, wenn alle das gleiche Recht auf Gewalt besitzen, eine von anderen eingenommene ausgleichende Position.

In Quentin Tarantinos The Hateful Eight geht es nicht nur um die offensichtliche Obsession des Regisseurs, Gewalt zu zeigen, nicht nur um sein Interesse an ihren stofflichen, farblichen und skurrilen Begleitformen, sondern um Gewalt als Kommunikationsform, oder besser gesagt: als vorherrschende Kommunikationsform. Wenn es in klassischen Hollywood-Western auch ein Zurückschrecken und Zögern gab, wenn Gewalt als letztes Mittel oder die gewalttätige Konfliktlösung als zeitlich begrenztes Frühstadium einer Gesellschaft behandelt wurde, dann wenden sich in Tarantinos Film alle dieser Kommunikationsform zu, um sie jederzeit recht emotionslos umzusetzen und ein gesellschaftliches Klima vorzuführen, in dem alle allen misstrauen und potenziell verfeindet sind.

Das Problem einer verschwiegenen ethnischen Vielfalt zugunsten fälschlich homogener, einseitig hierarchischer oder ausschließlich antagonistischer Figurenkonstellationen wird sowohl in diesem Tarantino-Western wie in seinem nur drei Jahre zuvor gedrehten Django Unchained als auch in dem Re make The Magnificent Seven bearbeitet. Diese Filme bieten eine im Genre bis dahin ungewöhnliche schwarze Hauptfigur. In Tarantinos Gruppenbild aus acht hasserfüllten Personen agiert ein schwarzer Kopfgeldjäger als böser Geist, der durch selbst erlebte, ethnisch motivierte Demütigungen und Gräuel letztlich zu dem Recht gelangt, eine eigene überschießende Gewaltbereitschaft zu kultivieren. Während in The Magnificent Seven die Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen zu einer erfolgreichen Vielfalt nivelliert werden, als sich ihre Vertreter für eine gemeinsame Aktion zusammenschließen.

Chancen und Risiken des Western

In The Revenant wiederum bewegen sich deutlich gegeneinander abgegrenzte, ethnisch nahezu homogene Gruppen in einer lebensfeindlichen Umgebung. Ihre Begegnungen sind konfliktbeladen, doch zeigen sich, trotz der beibehaltenen Abtrennung, mehrere Übergänge, darunter einer, der auffällt, weil er selten gezeigt wird. Hier spricht ein Weißer in einer misstrauisch begonnenen Begegnung über erlebtes Unglück und endet mit der Aussage, dass seine Familie getötet wurde. Erst dieser letzte Satz erweckt im indianischen Gegenüber tatsächliche Empathie, und es erwidert, auch seine Familie sei getötet worden. Die beiden Männer verständigen sich also durch die Ähnlichkeit einer Erfahrung und den gleichen Schmerz, den sie erleben, um die gefährlich besetzten Unterschiede zwischen den Gruppen zu überwinden.

Was die Zukunft betrifft, so hält das Western genre Gifte für fatale Entwicklungen bereit, wie das Gutheißen selbst ausgeübter Gewalt oder eine unsinnige Ökonomie des Beleidigtseins. Es bietet aber auch wirksame Gegengifte an: ethnischen Austausch, Emanzipation diskriminierter Gruppen und neu zu belebende, erfolgreiche Figuren der Gewaltlosigkeit. Geht man davon aus, so ist mit den neuen Western eine mögliche Katharsis nicht in die Zukunft verlegt, sondern in die Vergangenheit, in jenen mythischen Raum, aus dem sich das nationale Gedächtnis speist und in welchem Verwerfungen angelegt sind, die heute deutlich zutage treten.

Heike Endter
Heike Endter arbeitet als Wissenschaftlerin und Autorin und lebt bei München. Sie schreibt vor allem zu Kunst und populärem Film. 2018 publizierte sie mit Die Verheimatlichung der Welt ein Buch über Western.