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Tichys Denkanstoß

Eine Gesellschaft in Angst

Tichys Denkanstoß - Eine Gesellschaft  in Angst
Roland Tichy © Illustration: Jessine Hein / Illustratoren

Kolumnist Roland Tichy über das wachsende Misstrauen der Deutschen

01.03.2016

Große Veranstaltungen werden zu Orten der Verängstigung: Ein ab­gesagtes Fußballspiel in Hannover wegen einer nie erklärten Terrorwarnung; an Silvester die Sperrung der großen Münchner Bahnhöfe und dann, erst vier Tage später bekannt geworden, die Überfälle auf Frauen in Köln und vielen anderen Städten. Rosenmontagszüge im Rheinland werden abgesagt; nur in Köln trotzen die Veranstalter. Der fatalistische Grundzug des Kölner Charakters, der sonst für jede Nachlässigkeit der Stadt verantwortlich gemacht wird – jetzt hat er auch sein Gutes. Über 50 abgesagte Umzüge in weniger robusten Gemeinwesen – für jeden Jecken traurig, und doch war den Verantwortlichen Erleichterung anzumerken: Das Wetter ist eine höhere Macht, sich dagegen aufzulehnen ein Akt der Gottes­lästerung. Aber längst ist auch eine solche durchaus nachvollziehbare Entscheidung politisiert. Am Tag danach rechtfertigte sich der Deutsche Wetterdienst: „Es waren Wetter­warnungen, keine Unwetterwarnungen.“

Entscheider aLLEINE GELASSEN

Klar: Nicht die Meteorologen haben die Umzüge abgesagt, sondern die Veranstalter. Sie tragen die Verant­wortung. Wie viel vermögen sie zu tragen? Und das in einer Zeit, in der die Unsicherheit wächst, die Sicherheits­dienste vor vagen Bedrohungen warnen und damit die Entscheider alleine lassen. Da nehmen manche lieber eine Grippe; menschlich verständlich ist das. Wie Gift wirkt jetzt das Misstrauen, dass hinter jeder Entscheidung andere Gründe stehen könnten als die öffentlich erklärten. Dazu zählt das unbedachte Wort von Bundesinnen­minister Thomas de Maizière, der nicht über die Ursache für die Absage eines großen Fußballspiels informieren will, weil dies die Bürger „beunruhigen könnte“. Ähnlich und kaum weniger nachhaltig wirken Journalisten, die dazu auffordern, nichts zu berichten, was Radikalen und Extremisten für ihre Propaganda nutzen könnte. Bis zum Beweis des Gegenteils unterstelle ich allen beste Absichten.

Die objektive Wirkung ist das genaue Gegenteil. Dass die Polizeistatistiken seit 2008 die ethnische Herkunft von Straf­tätern faktisch nur noch in extremen und unvermeid­lichen Situationen vermerken, mag der Hoffnung dienen, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind. Aber wer dann daraus ableitet, dass es keine erhöhte Kriminalität in bestimmten Gruppen gibt, macht sich damit unglaubwürdig, ja sogar lächerlich. Die Konstruktion der Statistik auf ihr politisch gewolltes Endergebnis hin ist längst durchschaut. Und Höhepunkt der neuen deutschen Zerrissenheit: Wer die Entscheidung über die Absage hinterfragt oder nach Gründen dafür sucht, wird sofort rechter Verschwörungstheorien verdächtigt. Übrigens: Die gibt es auch und nicht zu wenige. Sie wuchern auf dem Humus von Misstrauen und Verdächtigung.
Glücklicherweise ist jetzt erst mal Pause.

Zwar ist dieses Jahr am Aschermittwoch nicht alles vorbei. Die Angst regiert auch in der Fastenzeit, in der allerdings keine größeren Veranstaltungen stattfinden. In den vergangenen Jahren wurde das kritisiert als fortbestehende Definitionsmacht der Kirchen in einem weltlichen Staat. Jetzt sind alle froh über Tanzveranstaltungen, die gar nicht erst stattfinden.

Kein Verantwortlicher braucht sich eine Grippe zu nehmen. Aber danach geht es wieder weiter. Nur die Rezepte gegen die Angst, die fehlen.