Titelthema
Eine Reise zu sich selbst
Das Meerforellenangeln hat etwas Kontemplatives. Wer sein Handy abschaltet und sich ganz und gar auf das Hier und Jetzt konzentriert, wird wunderbare Momente erleben.
An diesem Frühlingstag im April bin ich früh zum Angeln aufgebrochen. Schon kurz nach Sonnenaufgang stehe ich an meinem Lieblingsstrand auf der Insel Bornholm hüfttief im Meer. Vor mir liegt die spiegelglatte Ostsee und die ersten Sonnenstrahlen kriechen über die weiten Wassermassen. Ich bin mit meiner Wathose ein gutes Stück auf einem Steinriff hinausgewatet. An der Wasseroberfläche zeigen sich die ersten Fische. Meerforellen. Sie fressen Insekten, die freiwillig oder unfreiwillig auf der Wasseroberfläche gelandet sind, saugen sie in ihre Mäuler und geben sie nicht wieder her. Konzentrische Ringe verraten die Räuber – und es sind ein paar richtig gute Fische dabei. Ich bin wieder da, wo ich am liebsten bin: mit meiner Angelrute auf einem der vielen Riffe der Insel.
Es ist Meerforellensaison auf Bornholm und die frühen Morgenstunden gehören, genauso wie die späten Abendstunden, im Frühjahr zu den besten Fangzeiten. Es ist eine anspruchsvolle Angelei. Die Meerforelle ist, so haben es einmal ein paar Experten formuliert und über unzählige Fachmagazine in die Hirne der Küstenangler gepflanzt, der „Fisch der tausend Würfe“. Das heißt in der Praxis: tausend Mal seinen Köder in das Meer zu werfen, um einen Fisch zu haken, oder ihn zumindest am Haken zu haben. Der anschließende Kampf und das Landen des Fisches stehen auf einem anderen Blatt und häuig gewinnt der Fisch. Gerade Greenhorns zahlen viel Lehrgeld.
Ich habe über die vielen Jahre erfahren, dass es auch mit weit weniger Würfen funktioniert, wenn ich mich zu 100 Prozent auf die Fischerei fokussiere. Das heißt, mein Handy bleibt, wenn ich hinaus an das Meer gehe, auf dem Schreibtisch liegen, denn erreichbar zu sein und gleichzeitig den Fisch der tausend Würfe fangen zu wollen, passt nicht wirklich gut zusammen.
Ich will eintauchen. Eintauchen in die Welt der Fischjagd, in die Natur – ankommen bei mir selbst. Nichts wäre für mich irritierender, als draußen auf einem Riff im Meer zu stehen und einen Anruf entgegenzunehmen. Meine Erfahrung ist, durch diese klare Entscheidung eine Menge Würfe gespart zu haben, weil jeder Anruf mich aus dem Fokus und der Konzentration auf das Wesentliche nimmt, nämlich einen Fisch zu fangen. Von der einen auf die andere Sekunde bin ich dann nicht mehr am Meer, nicht mehr in meinem Fokus, sondern im Unternehmen, in der Partnerschaft, in dem Leben eines anderen, oder sonst wo.
Angeln zu gehen heißt für mich, in den Rhythmus der Natur einzutauchen, ohne störende Nebengeräusche. Eintauchen in einen Takt, der mir zu Anbeginn meiner Lebensreise ins Herz gepflanzt wurde. Es ist der Takt von Einatmen und Ausatmen. Der Takt von Ebbe und Flut. Der Takt von Tag und Nacht. Der Takt von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der wahre Takt des Lebens.
Da draußen in der alltäglichen Welt gibt es zu viel Erreichbarkeit, zu viel Tempo, zu viel Komplexität – da geraten die Leben der Menschen reihenweise aus dem Takt. Das weiß ich aus meiner Arbeit mit Menschen – viele sind so ausgebrannt wie der Planet, auf dem sie leben. Hier im Meer, mit meiner Angel in der Hand, tauche ich in die ursprüngliche Welt ein. Hier herrscht ein anderes Tempo als auf den Überholspuren der Autobahnen, die Komplexität des Lebens löst sich auf und niemand ist für niemanden ständig erreichbar. Ein Leben im Hier und Jetzt.
Achtsamkeit und Fokus
Das Angeln verbindet mich mit dem Moment, mit der Gegenwärtigkeit meines Lebens. Keine Zukunftsplanungen, keine nachhängenden Gedanken an gestern oder letzte Woche. Wenn ich mich auf das Angeln fokussiere, verschmelzen Raum und Zeit auf den Moment in meinem Leben, den ich tatsächlich gerade erlebe. Es ist heilsam, wenn meine Gedanken meinem Leben nicht ständig voraus sind. Wenn der Verstand zur Ruhe kommt. Nicht plant. Nicht analysiert. Nicht getrieben ist. Zu oft habe ich bei anderen Anglern erlebt, wie sie große Fische verloren haben, weil sie mit ihren Gedanken woanders waren, als sich der Fisch ihren Köder geschnappt hat. Sie standen im Meer und waren doch im Unternehmen. Sie waren keine Jäger, sondern Gejagte.
Einen Fisch im Meer zu fangen ist eine wunderbare Achtsamkeitsübung. Und zu dieser Achtsamkeit gehört auch die Einfachheit. Ich habe viele Angler erlebt, deren Köderboxen förmlich überquollen. Sie kamen an das Meer, um einen Fisch zu fangen, der sich in der Hauptsache von Garnelen, Tobiasfischen und Tangläufern ernährt. Nicht selten waren die Angler mit fünfzig, achtzig oder gar hundert Ködern ausgerüstet und verloren sich, statt sich auf das Angeln zu konzentrieren, in ihren Köderboxen. Wenn ich mit solchen Männern unterwegs war, habe ich sie aufgefordert, sich für einen Köder zu entscheiden, und die anderen Köder nicht mit an den Strand zu nehmen. Was die Männer dann erlebten, war Freiheit durch Reduktion. Und sie fingen an, Fische zu fangen, weil ihr Fokus nicht mehr auf ihre Köderboxen gerichtet war, sondern auf die Fische selbst.
Ich entscheide mich an diesem Morgen für eine kleine Tangläuferimitation als Köder. Um an die raubenden Fische heranzukommen, muss ich aber noch ein Stück weiter hinauswaten. Vorsichtig. Schritt um Schritt. Zu viel Unruhe würde die Meerforellen verschrecken und sie schneller wieder dorthin zurückkehren lassen, wo sie gerade herkamen – in das tiefere Wasser vor dem Riff. Noch stiegen die Fische, und als ob das nicht schon Zeichen genug wäre, schraubt sich jetzt ein großer Fisch mit einem gewaltigen Sprung aus dem Wasser. Jetzt ganz ruhig bleiben. Wenn ich Glück habe und den ersten Wurf gut platziere, bekomme ich den Kerl an den Haken. Der Wurf passt. Schnell drehe ich die Schnur wieder ein und plötzlich stoppt der Zug. Im selben Moment schraubt sich der Fisch erneut aus dem Wasser, dieses Mal mit meinem Haken im Maulwinkel. Ich habe die Meerforelle gehakt. Es dauert eine ganze Zeit, bis ich den Fisch wirklich sicher landen kann. Der Fisch der tausend Würfe, gefangen mit einem einzigen Wurf – auch das ist Meerforellenangeln.
Die Meerforelle ist in guter Kondition. Dankbar hauche ich ihr das Leben aus. Sie hat in ihrem Leben Hunderttausende andere Tiere gefressen – Insekten, Garnelen, Tangläufer, Heringe und Tobiasfische. In ihrem Fleisch steckt das Leben von Hunderttausenden wilden Tieren. Das macht mich immer wieder demütig und dankbar. Ich werde sie als „Graved Meerforelle“ zubereiten. Dazu filetiere ich den Fisch und beize die Filets anschließend mit einer Mischung aus Salz und Rohrzucker. Dann bedecke ich die Filets mit einer groben Schicht von frisch gehaktem Dill und lege die Filets mit den Hautseiten aufeinander. Eingewickelt in ein paar Lagen Butterbrotpapier, grabe ich das Paket 40 Zentimeter tief im Garten ein. Zwei Nächte liegt es dort, bevor ich es wieder ausgrabe und unter klarem Wasser den Dill abspüle, die Filets trocken tupfe und mit einem Messer dünne Scheiben des Fleisches von der Haut schneide. Dazu gibt es einen Honig-Senf-Dip und einen frischen Salat. Es ist der leckerste Fisch der Welt.
Mit diesem Essen verbindet mich eine Geschichte, die Geschichte der Jagd. Eine Verbundenheit, die wir in unserer heutigen Zeit immer weniger erleben, weil uns mit unserer Nahrung keine Geschichte mehr verbindet. Das ist für mich ein weiterer Grund zur Dankbarkeit, weil diese Energie des wilden Fisches jetzt auch mich nährt.
„Das Meer ist der letzte freie Ort der Welt“, hat Ernest Hemingway einmal gesagt. Wenn ich an das Meer gehe, um zu angeln, fühle ich mich frei. Ich bin verbunden mit dem Meer, mit den Fischen, mit dem Wind – verbunden mit mir selbst.
Udo Schröter wurde 1963 in Preetz in Schleswig-Holstein geboren. Heute lebt er mit seiner Familie auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm, wo er als Autor, Seminarleiter und Unternehmensberater arbeitet und eine Fotogalerie betreibt. Er ist Autor zahlreicher Angelbücher und Angelführer.