Titelthema
Eine Volkspartei am Scheideweg
Kurswechsel oder Neuorientierung? Zur Situation der deutschen Christdemokratie nach dem Abgang Angela Merkels
Der Verzicht Angela Merkels auf eine erneute Kandidatur als Parteivorsitzende der CDU sowie ihre Ankündigung, nach Ablauf dieser Legislaturperiode nicht mehr für das Amt der Bundeskanzlerin oder für sonstige politische Ämter zu kandidieren, läutet eine Zeitenwende ein: Nach 18 Jahren an der Spitze der Partei müssen sich die Christdemokraten eine neue Führung suchen. Und auch jenseits von Merkel werden einige Plätze in dem in wenigen Tagen zu wählenden Parteivorstand frei. Das wirft ganz automatisch die Frage nach dem künftigen Kurs der größten deutschen Volkspartei auf: Werden die Parteitagsdelegierten diese Vorstandswahl für eine ganzheitliche inhaltliche Erneuerung und eine Phase der Selbstvergewisserung christdemokratischer Grundwerte nutzen – oder verkommt der Führungswechsel zu einem fadenscheinigen Manöver, zu einem gegenwartsversessenen, oberflächlichen und geschlossen gedachten Kurswechsel?
Eine erste Bilanz der Ära Merkel
Längst ist es zu früh, um nachrufend auf die politische Figur Angela Merkel und ihre politischen Leistungen der letzten Jahrzehnte Bezug zu nehmen. Gleichwohl lässt sich schon heute sagen, dass ihr politisches Erbe, als Parteivorsitzende der deutschen Christdemokraten, aber auch als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, international und historisch ihresgleichen sucht. Doch werden vermutlich erst mit Blick aus der Zukunft viele politische Eigenheiten Angela Merkels hervorgehen.
Bis dato aber sind sich die Rezipienten in zwei Dingen einig: Merkels Politikstil war immerzu nüchtern-sachlich, analytisch-differenziert, frei von jedwedem Pathos. Doch was die einen als gesund, uneitel und demütig einordnen, entlockt anderen vor allem Geringschätzung: Merkel habe Unsichtbarmachung betrieben, Politik als Demokratieereignis gestohlen und das Erzählen von Zukunftsgeschichten zu einem Verwaltungsakt mit Handwerksrüstzeug verzwergt. Das kann man so sehen. Andererseits: Ist die Politik besser, wenn sie – wie etwa in Amerika – von der Ikonisierung der Spitzenkandidaten und einem fragwürdigem Pathos geprägt ist und Marketingbudgets wichtiger sind als die Inhalte?
Unbestritten ist auch Merkels inhaltliche Linie innerhalb und für ihre CDU: Ob als Sozialdemokratisierung geächtet oder als Modernisierung der Konservativen gerühmt: Ihr Ausstieg aus der Atomenergie, der Aufschlag zur Energiewende, die Einführung einer rechtsverbindlichen Lohnuntergrenze, die Bereitschaft, Flüchtlinge aus politischen Kriegs- und Krisenregionen aufzunehmen, und nicht zuletzt ihre Arbeit für die Zukunft der Europäischen Union hat die einst von politischen Gegnern als erzkonservativ titulierte Partei Helmut Kohls in die Mitte der Gesellschaft bewegt. Merkels CDU steht heute für einen liberalen und pluralistischen Politikansatz – der dennoch von verschiedenen Tempelideologen als nicht-existent bewertet wird, weil er angeblich auf einer linearen Achse von Links bis Rechts schlicht nicht lesbar sei. Doch vielleicht ist genau diese Irritation bei den politischen Beobachtern des letzten halben Jahrhunderts Merkels bedeutendste Leistung?
Jenseits der alten Ideologismen
Denn was zeichnet die Welt von heute mehr aus denn Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit, das Zusammenfallen verschiedener Wirklichkeiten, ob national mit global, analog mit digital? Traditionsbewusste treffen auf Moderne, die Ethnien, Kulturen und Religionen vermengen sich. Und Radikalisierung sucht nahezu willkürlich nach Vehikeln und Kanälen. Was autoritäre Staaten untersagen, entäußert sich auf Twitter. Und was unsagbar bleibt, lebt sich anonym aus. Mancherorts dehnen sich Kleinkinder bei Yoga-Kursen, programmieren Senioren Smart Home-Apps; andernorts strecken sich die Senioren bei Achtsamkeitsübungen, und die Grundschulkinder ereifern sich bei Hackathons. Minirock und Vollverschleierung auf der Düsseldorfer Kö, Goldene Hochzeit und Tinderverhalten in der Hauptstadt, Spandau und Mitte in einem.
Die Postmoderne propagiert das Unreine und die Nichtglätte. Es verlangt eine sehr bewusste Selbstverortung, diese Umwelt in Bewegung nicht als Attacke auf sich selbst misszuverstehen. Darum ist bei allem berechtigten Sehnen nach politischen Alternativen und der erwachsenen Abweisung gegenwärtiger Politikangebote dennoch nachzuvollziehen, warum nicht wenige Wähler und politische Akteure heute nach den Maßstäben, Leitsätzen und Führungsfiguren der Vergangenheit trachten.
Allein die Wirklichkeit gibt diesen Kodex nicht mehr her.
Wie schwierig es ist, in diesen Tagen verschiedene Milieus zusammenzuführen, zeigt das Beispiel des CSU-Landesgruppenvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Alexander Dobrindt. Dieser sprach im Nachgang zur bayerischen Landtagswahl vor einigen Wochen von einer „bürgerlichen Mehrheit“ aus Merkels Christdemokraten, Seehofers Christsozialen, Lindners Freidemokraten und Gaulands Alternative der Deutschland gegenüber den linken Parteien – und markierte damit doch nur einen traurigen Höhepunkt in dem alten Muster, politische Milieus pauschal in der einen oder anderen Ecke verorten zu wollen. Und so blieb Dobrindts schon vor einiger Zeit geforderte „Konservative Revolution“ tatsächlich mehr reaktionär denn konservativ: Die vielstimmige Wirklichkeit und ihre zahlreichen Anschauungen sind über den veralteten dualistischen Tempel- ideologismus nicht mehr zu erfassen.
Neue Bündnisse
Lesbar wäre dies längst schon im relativen Erfolg der grün-schwarzen und schwarz- grünen Politikprojekte in Baden-Württemberg und in Hessen sowie im progressiven Jamaika-Bündnis in Schleswig-Holstein. Der Parteivorsitzende der Freidemokraten Christian Lindner positionierte sich in den Sondierungsgesprächen nach den vergangenen Bundestagswahlen hingegen als unversöhnlicher gegenüber dem potentiellen grünen Partner als dessen traditionell natürlicherer Gegner, nämlich Seehofers und Dobrindts Christsozialen.
Diese neue Machtarithmetik ist auf eine Umwelt in Bewegung, auf Wirklichkeits- und Glaubensbilder im Offenen sowie auf eine emanzipierte und erreifte postmoderne Zivilgesellschaft an sich zurückzuführen. Ihr gerecht zu werden, erfordert Parteien, die sich ihrer gesellschaftlichen Grundwerte auch und gerade in diesen Umbruchzeiten selbstvergewissern und basierend darauf eine neuartige Programmatik erarbeiten, die nicht im ersten Schluss als Gegenentwurf zu Fantasiefeinden konzipiert sein darf.
Der Abgang Angela Merkels schafft dafür den Platz: Wie können Ökonomie und Ökologie sinnvoll und pragmatisch miteinander vereinbart werden? Zu welchen Steuersätzen müssen oder dürfen Datensätze als Geschäftsressourcen versteuert werden? Müssen Arbeitgeber bei Einsatz arbeitsplatzvernichtender Robotik besondere gesellschaftsdienliche Verpflichtungen eingehen? Welches Sinnkonzept verlangt ein Leben in Würde ab einem Alter von 60 Jahren? Wie gelingt moderne Entwicklungshilfepolitik über technologische Errungenschaften? Erlauben wir Organe aus dem 3D-Drucker? Dürfen wir Indern und Chinesen den Plastikkonsum verbieten?
Für all diese und viele weitere Fragen existiert kein Chorus pauschaler linker oder rechter Antworten. Auch die bisherigen Grundsatzprogramme der Parteien helfen nicht weiter: Manche Werte müssen ganz von Anfang an neu ausgehandelt werden. Für das Phänomen der offenen und weltoffenen Gesellschaft – eine Gesellschaft, die sich über Nationalgrenzen hinaus betroffen und verantwortlich fühlt – muss eine neue wirksame demokratische Architektur geschaffen werden. Ob die bisherigen Gerüste der Vereinten Nationen, der NATO und der Europäischen Union diesen Ansprüchen genügen?
Doch auch die bestehenden nationalstaatlichen Strukturen sollten hinterfragt werden. Brauchen wir nicht angesichts der dramatischen technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen eine interdisziplinäre Organisationsstruktur, die die verschiedenen Ansätze zusammenführt? Die Politik fordert von der Wirtschaft gern die Bereitschaft ein, mit den gewaltigen Transformationen unserer Zeit mitzuhalten. Allein: Sie selbst vermittelt den Eindruck, als bräuchte sie diese Veränderungen nicht.
Der Moment der Entscheidung
Wenn dieser Beitrag erscheint, stehen wir unmittelbar vor dem Hamburger Parteitag der CDU, der vermutlich eines Tages als ein historischer in die Geschichte der Union eingehen wird. Den Delegierten steht eine illustre Auswahl an Kandidaten zur Verfügung, von denen die aussichtsreichsten in den vergangenen Wochen auf Regionalkonferenzen und sonstigen Terminen um die Gunst der Partei geworben haben. Viel war dabei von Profil die Rede, und nicht wenige politische Kommentatoren aus der ganzen Republik röhrten nach linearen Kurswechseln in der Union.
Doch sei angesichts der oben skizzierten Komplexität unserer Gesellschaft die Frage erlaubt, ob die Partei wirklich gut damit beraten ist, eine Person an die Spitze zu stellen, die für ein klares Profil steht? Braucht eine Volkspartei wie die CDU nicht eher eine breite Führungsmannschaft, die die Zeichen der Postmoderne erkennt und Angela Merkel zumindest in einem nacheifert – den alten Tempelideologen eine Absage zu erteilen? Der Wechsel an der Spitze der wichtigsten Regierungspartei ist zu wichtig, um ihn an eine Eintagesschlagzeile über eine oberflächliche Kursdrehung in die eine odere andere Richtung zu verschwenden.
Diana Kinnert leitete bis Ende 2016 das Büro des CDU-Politikers und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Peter Hintze. Unter Generalsekretär Peter Tauber war sie Mitglied der Reformkommission der CDU. 2017 erschien „Für die Zukunft seh‘ ich Schwarz. Plädoyer für einen modernen Konservatismus“ (Rowohlt). © laif
dianakinnert.de