Blick in die USA
Eine Wahl wie keine andere
Am 20. Januar 2021 wurde Joseph R. Biden in Washington D.C. als 46. Präsident der USA vereidigt. Die Zeit ab der Wahl am 3. November 2020 wird als größter Test für die Funktionsfähigkeit der amerikanischen Demokratie seit dem Sezessionskrieg zwischen Süd- und Nordstaaten in die US-Geschichte eingehen.
Sie war geprägt von unhaltbaren Wahlbetrugsvorwürfen Trumps und Teilen der republikanischen Partei. Unfassbarer Höhepunkt der Proteste war die gewaltsame Erstürmung des Kapitols durch von Trump aufgehetzte Aufständische. Die Aufarbeitung der Geschehnisse wird lange dauern. Dennoch spricht alles dafür, dass Trump auch weiterhin an der Legende von der gestohlenen Wahl stricken wird und sich politisch weiter im Spiel halten will. Umso wichtiger, hier nochmals klipp und klar festzuhalten, dass es für Trumps Verschwörungstheorien von Wahlbetrug keinerlei Anhaltspunkte gibt. Das ist das eindeutige Ergebnis der internationalen OSZE-Wahlbeobachtungsmission, die mit einem 102-köpfigen Team aus Experten und Parlamentariern die Wahlen vor Ort beobachteten. Das Nichtzutreffen von Trumps Vorwürfen ist inzwischen in über 60 ober- und höchstgerichtlichen Urteilen von den Gerichten bestätigt worden.
Die 57 Staaten der OSZE haben sich verpflichtet, zu landesweiten Wahlen internationale Wahlbeobachter einzuladen. Die USA haben ihre Einladung sehr früh ausgesprochen, anders als zum Beispiel Belarus. So wie die Einladungspflicht für alle OSZE-Staaten gleich ist, sind auch Methodologie und Regeln solcher Wahlbeobachtungen immer dieselben – egal, ob die OSZE eine Wahl in Russland, der Türkei, Deutschland oder eben in den USA beobachtet. Jede Mission startet ca. ein halbes Jahr vor der Wahl mit einer sogenannten Needs Assessment Mission, auf Basis derer die Experten der OSZE entscheiden, wie intensiv und aufwendig die jeweilige Wahlbeobachtung ausfallen wird. Die eigentliche Wahlbeobachtung besteht aus Langzeitbeobachtung und Kurzzeitbeobachtung, letztere beobachtet nur den eigentlichen Wahltag und die Auszählung. Die Langzeitbeobachter (im Falle Deutschlands waren es neun, trainiert und sekundiert vom Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, ZIF) sind bereits mehrere Wochen vor dem eigentlichen Wahltag in dem jeweiligen Land und beobachten alle Geschehnisse im Vorfeld des Wahltages. Diese sechswöchige Langzeitbeobachtung war insbesondere während der US-Wahl ein ganz besonders wichtiger Bestandteil der Wahlbeobachtungsmission, da unter anderem wegen der Coronapandemie diese Wahlen durch eine Rekordzahl an Briefwählern und "Frühwählern" (Early Voting) geprägt waren. Man musste diesmal nicht wie üblich von einem Wahltag, sondern von Wahlwochen sprechen.
Abgeschlossen wird eine Wahlbeobachtung mit einer Reihe von Berichten über die jeweilige Wahl. Diese Berichte stellen auch den eigentlichen Mehrwert einer jeden Wahlbeobachtung dar. Denn die Aufgabe einer Wahlbeobachtung ist es nicht, zu bewerten, ob es eine gute oder schlechte Wahl war. Es gilt zu beobachten, ob die Wahl nationalen und internationalen Standards entspricht und danach über die Befunde Defizite und Mängel zu berichten – oder eben festzuhalten, ob Betrugsvorwürfe zutreffen oder nicht. Genau dies hat unsere Mission getan (offizieller Bericht zu finden auf www.osce.org/elections)
Auch wenn die US-Wahlbeobachtung Corona-bedingt kleiner ausfallen musste als geplant, waren wir dennoch in der Lage, 30 Langzeitbeobachter und 72 Kurzzeitbeobachter und Experten unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen ins Land zu bringen – und in den meisten Bundesstaaten präsent zu sein. Für alle von uns war es verstörend, vor Ort zu erleben, wie tief eine Amtszeit Donald Trumps Amerika gespalten hat. So wie im letzten November habe ich die Hauptstadt der Vereinigten Staaten noch nie gesehen. Vernagelte Schaufenster überall, mit Platten und Schutzvorrichtungen verbarrikadiert, in der furchtvollen Erwartung von gewalttätigen Auseinandersetzungen während und vor allem nach dem Wahltag. Den Menschen konnte man die Anspannung im Gesicht ablesen. Was war aus diesem sonst so optimistischen Land geworden?
Der Wahltag selbst, der 3. November, verlief ruhig und friedlich ab. Dass es so ruhig blieb, lag jedoch nicht am Amtsinhaber. Im Gegenteil, durch seine wiederholten Angriffe auf demokratische Gepflogenheiten und die ur-demokratische Institution der freien und gleichen Wahl, untergrub Trump das Vertrauen der Wähler in die Integrität des Wahlprozesses. Dass in autokratisch geführten Regimen Machthaber massiven Einfluss auf Wahlvorgänge ausüben, ist seit Jahren traurige Praxis.
Dass jedoch der Präsident der USA in der späten Wahlnacht öffentlich den Abbruch der Stimmauszählung fordert, nur weil er gerade in Führung liegt und, als das nicht funktioniert, allem und jedem Wahlbetrug vorwirft, ist ein eklatanter Regelverstoß und ein unzulässiger Eingriff in den Wahlablauf. Dies ist umso gravierender, da die Bundesebene in den USA nicht für Wahlen zuständig ist. Organisation, Auszählung und Verkündung des Wahlergebnisses liegen in der alleinigen Kompetenz der Bundesstaaten. Über 50 teils sehr unterschiedliche Wahlrechte und Abstimmungsverfahren in den Gliedstaaten und überseeischen Territorien, oft sogar noch unterschiedlich von County zu County, und das Fehlen eines zentralen Wählerregisters machen die Beobachtung und Beurteilung dieser Wahlen zu einer echten Herausforderung. Die OSZE beobachtet Wahlen in den USA seit 2002 und kennt die Lage in den einzelnen Staaten sehr genau. Alle Staaten haben die Einmischungsversuche des Präsidenten zurückgewiesen. Trotz zahlreicher Klagen und Zweit- und Drittauszählungen konnte kein Wahlbetrug festgestellt werden.
Joe Biden steht als Präsident vor der Mammutaufgabe, die Gräben, die sein Vorgänger aufgerissen und vertieft hat, zu schließen und die gespaltene Nation wieder zusammenzuführen. Doch ich bin zuversichtlich, dass ihm das mit seiner Erfahrung und der Anerkennung, die er sowohl bei Demokraten als auch bei Republikanern genießt, gelingen wird. Der Erfolg Joe Bidens liegt auch im Interesse Deutschlands und der EU. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass nun alles wieder so wie früher werden wird. Wir dürfen nicht in das Denkmuster zurückfallen, dass die USA unsere Probleme schon irgendwie lösen werden. Wir müssen als Europäer außenpolitisch mit fester und klarer Stimme selbst für unsere Interessen eintreten können, ohne dabei jedoch in ein "Europa first" zu verfallen. Denn schlussendlich haben Deutschland und die EU auch in Zukunft in den USA ihren engsten und wichtigsten Verbündeten in Politik, Wirtschaft und Wertefragen.
Michael Georg Link (RC Heilbronn-Neckartal), Mitglied des Bundestags, leitete die Wahlbeobachtermission der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) bei der jüngsten US-Präsidentschaftswahl. Von 2012 bis 2013 war Link Staatsminister im Auswärtigen Amt und von 2014 bis 2017 Direktor der OSZE.