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Titelthema

Entkirchlichung auf Probe

Titelthema - Entkirchlichung auf Probe
© Illustration: Mike Karolos

Die Kirche ist nicht mehr systemrelevant, das lehrt uns die Corona-Krise. Doch im Begriff „Initiativkirche“ keimt Hoffnung für die Zukunft.

Bernd Hagenkord01.05.2020

Kirche hat sich zu Beginn nicht gewehrt. Selbst als das Bundesverfassungsgericht am Karfreitag bestätigte, dass das Untersagen der Gottesdienste zwar gerechtfertigt, aber dennoch ein „überaus schwerwiegender Eingriff in die Glaubensfreiheit“ sei, war von offiziellen Kirchenseiten wenig zu hören. Und selbst als Autohäuser und Baumärkte in den Startlöchern ruckelten und öffnen wollten, war Kirche noch ganz auf Linie. Erst Mitte April, nach der Verlängerung bei gleichzeitiger Öffnung für einige, als wieder die Kirchen nicht bedacht wurden, regte sich erster vorsichtiger offizieller Widerstand.

„Kirche geschlossen wegen Gottesdienst“ stand an einer Kirche, wie mir eine Freundin berichtete, drinnen fünf Menschen und eine Reihe Kameras, aber keine Gemeinde. Christentum beruht auf Begegnung, aber auch auf Nächstenliebe. Und in Corona-Zeiten stehen diese beiden gegeneinander. Wer begegnet, gefährdet, sagen uns die Experten. Begegnung steht gewissermaßen gegen Nächstenliebe, das lässt uns erstarren.

Das Verhalten der Kirchenverantwortlichen war richtig. Gottesdienste dürfen die Gesundheit des Nächsten nicht gefährden, und schon gar nicht die der Schwächsten. Aber es zeigt auch sehr deutlich, dass Kirche nicht mehr systemrelevant ist für unsere Gesellschaft. Nicht zu Unrecht kam sie in der berühmten Ansprache der Kanzlerin auch gar nicht vor.

Jeden Morgen entscheidet sich im Frühstücksprogramm des Radios, wer den Schwerpunkt setzt für den Tag: der Gesundheitsminister und die Virologen oder der Wirtschaftsminister und die Interessenverbände. Dazu noch Kultur, das Gesundheitswesen natürlich, ein wenig EU. Das war es.

Meine These: Wir erleben gerade so etwas wie eine „Entkirchlichung auf Probe“. Was wir im Augenblick durchlaufen, wird in zehn Jahren normal sein. Nicht wegen Corona, aber wegen riesiger Pfarreien, abnehmender Gläubigenzahlen, immer weniger Messfeiern, aufgegebener Kirchen und eines wachsenden Desinteresses an allem, wofür Kirche steht. Deswegen ist es so wichtig, jetzt nicht nur auf Brückenlösungen wie gestreamte Gottesdienste zu setzen, sondern sich der Realität zu stellen, wie sie hinter dem Vorhang der Wichtigkeit von Kirche nun hervorlugt: Kirche wird auf absehbare Zeit – wie jetzt im Augenblick erlebbar – kein Player sein. Innerkirchlich werden wir uns über Eucharistie und Messfeier streiten, aber draußen interessiert das immer weniger Menschen. Und eine Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation passiert so schon gleich gar nicht.

Ermächtigung der Gläubigen

Wir können das nun als Bedrohung wahrnehmen. Eine Bedrohung des Status, der Relevanz, der Bedeutung. Oder aber als Realitätscheck, um zu fragen, wie genau wir eigentlich Kirche sein wollen im 21. Jahrhundert. Um die leider zu oft dahingesprochenen Worte des Konzils zu bemühen: „die Zeichen der Zeit erkennen“.

Da ist zuerst die Liturgie. Das Feiern. Der Gottesdienst. Wenn wir jetzt über leere Kirchen sprechen, sollten wir auch so ehrlich sein und zugeben, dass die Kirchen auch davor nicht unbedingt voll waren. Es gibt blühendes Gemeindeleben, es gibt lebendige Pfarreien, aber die Zahlen sprechen von Überalterung und abnehmenden Zahlen. Eben von zunehmender Entkirchlichung. Die Antwort hier liegt nicht in der Neuordnung der Pfarreien, orientiert an der wahrscheinlichen Anzahl der Priester in 20 Jahren. Die Antwort liegt in der Ermächtigung der Gläubigen, selber Liturgien zu feiern. Ich bekomme aus dem Freundeskreis mit, dass es in der erzwungenen Isolation unglaublich viel Kreativität gab, gerade um Ostern herum, aber dass da auch viel Unsicherheit war. Darf ich beim Abendessen am Gründonnerstag die Schrift lesen? Ist das dann schon Gottesdienst? Wie ist das mit Segnen, wer darf das und kann das? Das Kirchenpersonal, geweiht wie ungeweiht, muss es sich mehr denn je zur Aufgabe machen, zu ermutigen und zu ermöglichen, Liturgie nicht für den Klerus zu reservieren. Die ersten Reaktionen vieler Bischöfe, die von „aufgehobener Sonntagspflicht“ sprachen, waren fatal: Es braucht Ermutigung, Ermöglichung, Kreativität, nicht Regelungen in Verwaltungssprache gemessen am Bisherigen.

Da ist aber auch die Prophetie. Kirche hat immer interveniert, wenn aus der Sicht des Glaubens in der Gesellschaft etwas schiefläuft, Christentum will von seiner DNA her Gesellschaft prägen und formen. Da geht es um die Armen und „Weggeworfenen“, um das Wort von Papst Franziskus zu benutzen. Da geht es um die Fliehenden auf dem Meer und die Flüchtlingslager, um die Toten, um die wir noch nicht einmal trauern. Da geht es um den Regenwald, der einen Sommer lang brennt und dann 14 Tage danach kaum noch jemanden interessiert. Hier geht es um genuin religiöse Themen, geboren aus einem gelebten Glauben. Nicht, weil man Politik spielen will, sondern weil das zum Christsein dazugehört.

Da geht es aber auch um ganz theologische Themen: Wo erkennen wir als Kirche unseren Herrn? Ist das der Kirche, also dem Gebäude, vorbehalten? Unser Sprachgebrauch ist verräterisch, wir gehen immer noch „in die Kirche“, obwohl uns drinnen gesagt wird, dass wir Kirche sind. Jetzt hört man immer wieder, Kirche müsse „mehr bei den Menschen sein“, als ob das Subjekt des Satzes – die Kirche – nicht selbst aus Menschen bestünde.

Perspektive für das Christsein

Wir sollten, vielleicht angestoßen vom synodalen Weg, den ich hier als große Chance sehe, überall in der Kirche darüber sprechen, wo wir dem Herrn begegnen und wie der Herr uns als Kirche formt. Nicht übereinander reden, nicht im Ton des Wissenden gegenüber dem Unwissenden, sondern mit Fragen, mit Hören, und durchaus auch mal mit dem Aushalten der Unsicherheit, nicht sofort eine Antwort auf jede Frage zu haben.

Nach der Corona-Krise wird nicht das kirchliche Leben wieder aufblühen. Die Kirchen werden leer bleiben und Mitgliederzahlen weiter zurückgehen. Die Relevanz der Kirchen wird weiter abnehmen. Das ist nicht aufzuhalten. Lernen können wir aber, was unter diesen Bedingungen wichtig wird, und das unter dem Druck von Corona jetzt schon.

Der im vergangenen Jahr verstorbene Theologe Johann Baptist Metz warb sein Leben lang für eine „Initiativkirche“. Diese entstünde dann, wenn die Betreuten aufhörten, sich wie Betreute zu benehmen. Übersetzt: dass in der Kirche nicht alles dem Seelsorgepersonal überlassen ist, sondern dass alle selbst Verantwortung übernehmen für Glauben, Liturgie und Prophetie.

Das ist nicht ohne Verlust zu haben, und wie hart der ist, zeigt uns die Krise im Augenblick. Wenn die Gläubigen es aber richtig anstellen, dann liegt dahinter eine Perspektive für das Christsein und das Kirchesein im 21. Jahrhundert.

Bernd Hagenkord

Bernd Hagenkord ist Jesuitenpater und Priester, Journalist und Blogger. Seit 2009 war er Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan. 2017 übernahm Hagenkord im Zuge der Reform der Vatikanmedien die neu geschaffene Position des Leitenden Redakteurs von Vatican News.

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