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Warum ich den Begriff »Unrechtsstaat DDR« vermeide

Erzählen, nicht plakatieren!

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer diskutiert die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über die Frage, ob die Deutsche Demokratische Republik ein Unrechtsstaat war oder nicht. Während die einen für ihre Bewertung die Struktur des Staates zugrundelegen, betonen andere, dass auch die totalitäre Gesellschaft private Nischen hatte. Die Beiträge dieses November-Titelthemas widmen sich wichtigen Aspekten der Debatte.

Christoph Dieckmann14.11.2014

Vor einigen Tagen begegnete ich Bodo Ramelow, im Fernsehen. Er nannte die DDR einen Unrechtsstaat. Ramelow möchte Thüringen regieren, als erster Ministerpräsident der Linkspartei, im Verbund mit der SPD und den Grünen. Seine Wunsch-Koalitionäre forderten ein klares Wort gegen die Verharmlosung der DDR. Ramelow sprach es freien Herzens. Als Westdeutscher hatte er am SED-Staat nicht teil. Er fügte hinzu, die DDR habe sich ja gewissermaßen selbst Unrechtsstaat genannt: „Diktatur des Proletariats“. Was will man mehr?

Vor 21 Jahren begegnete ich Bodo Ramelow in Person. Dazu später. Vorerst sei erklärt, warum ich den Begriff „Unrechtsstaat“ ungern benutze. Er verdeckt mehr, als er erhellt. Staatliche Willkür war typisch für die DDR, aber eben nicht die ganze Geschichte dieses Landes.

Wer die DDR beurteilt, hüte sich vor der perspektivischen Verkürzung. Sie hatte verschiedene Phasen, in ihr erwuchsen mehrere Generationen. Die Hoffnungen erneuerten sich, ebenso die Erfahrungen des Scheiterns. Ich bin vom Jahrgang 1956, gehöre also zur idealistischen Rock-Generation. Kaum ein filmischer DDR-Rückblick verzichtet auf den unvermeidlichen Walter Ulbricht und sein gesächseltes Verdikt von 1965: „Ich bin der Meinung, Genossen, mit der Monotonie des Je, Je, Je und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen. Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?“

Verschiedene Phasen und Generationen

In meine Jugend fiel eine Südharzer Provinzgeschichte, die viel Zeitgeist enthält. Wie die meisten Klassenkameraden hing ich am Westradio. Jeden Mittwoch um 20.05 Uhr sendete der Deutschlandfunk das „Schlagerderby“ mit Carl-Ludwig Wolff, ein heute unfassbarer Gemischtwarenladen mit Ohrenschmäusen von Jimi Hendrix bis Roy Black. Eines schicksalhaften Tages im Herbst 1970 stürmte der Direktor ins Klassenzimmer. Unfassbares sei geschehen. Mehrere Schüler der Klasse 9a befänden sich im Griff des Klassenfeinds. Das hätten die Organe der Arbeiter- und Bauernmacht aufgeklärt. Etliche „Schlagerderby“-Fans hatten nach Köln geschrieben und für „Lola“ von den Kinks votiert. Die schändliche Post verfing sich im Netz der revolutionären Wachsamkeit. Genosse Rüdiger – er rang nach Atem – verhieß harte Konsequenzen. Ich zitterte. Auch ich hatte an den Deutschlandfunk geschrieben – nicht für „Lola“, sondern für „Goodbye Sam, Hello Samantha“ von Cliff Richard, unterzeichnet mit meinem und neun weiteren, gefälschten Namen. Dieser Brief blieb gottlob unentdeckt. Die enttarnten Republikverräter entgingen der Relegation, dank öffentlicher Reue. Genosse Rüdiger begnadigte die „Lola“-Fans zum Aufräumen des Schulgartens. Mich trietzte er wegen meines langes Haars. Er versprach: Mit dieser Mähne kein Abschlusszeugnis!

Doch mit Honeckers Machtantritt setzte Tauwetter ein. Die Block-Konfrontation entkrampfte sich. Die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr trug erste Früchte. In Helsinki vereinbarte die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Toleranzmaximen friedlicher Koexistenz. Erich Honecker gab sich locker, auch frisürlich: Entscheidend sei nicht, was auf dem Kopf unserer jungen Menschen wachse, sondern was sich darinnen befinde. Direktor Rüdiger, vom Kurswechsel bezwungen, überreichte mir trotz ungekürzter Matte das Abschlusszeugnis und empfahl: Erwerben Sie zu Karl Marx´ Haarlänge nun auch sein Wissen!

Zum Thema Westmedien hatte Honecker verkündet, man könne sie ein- und wieder ausschalten. Der Ostfunk öffnete sich den unabweisbaren Klängen. SED-Chefideologe Kurt Hager dekretierte: „Unsere Tanzmusik kann sich niemals in den Fesseln westlicher Moden, aber anderseits auch nicht in einem abgeschlossenen Treibhaus entwickeln.“ Dieser Satz und dieser Kurt Hager brachten Bob Dylan, Joe Cocker und Bruce Springsteen nach Ost-Berlin – viele Jahre später, kurz vor Ultimo der DDR.

Meine evolutionäre Generation ist geprägt von Skepsis und Wahrheitswillen, von Pazifismus und Verweigerung jeglicher Ideologie. Uns erwärmte Dubceks Prager Frühling ebenso wie Allendes linksdemokratischer Aufbruch in Chile. Gleichermaßen erschütterten uns die mörderischen Gegenschläge der jeweils „zuständigen“ Supermacht, der amerikanische Krieg in Vietnam wie der sowjetische in Afghanistan. Aber es gab einen idealischen Westen der heiligen Individualität. Ich liebte, wie er klang. In meinen Jugendjahren diente Musik als Traumschiff in politisch versagte Gefilde. Ausgangs der 80er Jahre, legte das Schiff im Osten an, mit obrigkeitlichem Segen, unter dem Symbol der FDJ. Der Traum besuchte die Träumer, vorerst nicht umgekehrt. Auf den Kühlern von Bruce Springsteens Trucks stand geschrieben: „YOU ROCK, WE ROLL“.Auch so begann die friedliche Revolution.

Der plakative Begriff „Unrechtsstaat“ liefert eine ideologisch passgerechte, historisch wie moralisch delegitimierte DDR. Er übermalt Geschichte und Kultur. Er verkleinert den emanzipatorischen Aufbruch vom Herbst 1989 zum Vorspiel der deutschen Vereinigung. Den Opfern und den Opponenten des SED-Regimes gebührt hoher Respekt. Man muss jedoch daran erinnern, dass die deutsche Teilung nicht 1945 oder 1949 begann, sondern mit Hitlers „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933. Die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hatten einander in Teheran, Jalta, Potsdam Staatsgründungen auf deutschem Boden nach ihrem System zugestanden. Die DDR war eine legitime Schöpfung der sowjetischen Siegermacht. Aber niemals wagten oder empfingen die Herrschenden die Legitimation seitens ihrer Bürger. Ohne Mauer konnte dieser Staat nicht existieren. Als er sich öffnete, war er nicht mehr zu halten. 1945 hatten die Siegermächte den deutschen Einheitsstaat kassiert, 1990 rückten sie ihn wieder heraus. Auf Ostdeutschlands Straßen wurde Deutschlands Einheit begehrt, im Kreml und im Weißen Haus wurde sie gewährt. Dass kein Blut floss, war Gnade. Auch denen, die nicht schossen, sei ein Knopf vom Mantel der Geschichte zugestanden.

Wurzeln der Ostalgie

Vierzig Jahre floss der Strom der Nationalgeschichte zweigeteilt. Kein deutscher Staat war ganz Deutschland, keiner mehr Deutschland als der andere. Doch 1990 fand keine gleichrangige Vereinigung statt, sondern die gnädige Adoption der bankrotten DDR durch die prosperierende BRD. Ein kaputter Staat hängte sich an einen intakten. Das Wir-sind-ein-Volk wurde Fünftelvolk, zu den Bedingungen der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft, die gar keinen Osten brauchte. Der Westen war in sich komplett – wirtschaftlich, ideologisch, kulturell, mit wohlgefüllten Aufsichtsräten, Redaktionen, Fußball-Ligen und Parteizentralen. Letzteres führte zu den Triumphen der PDS. Sie maßte sich eine Ost-Repräsentanz an, die ihr historisch zu allerletzt zugestanden hätte. Viele Wähler akzeptierten ihren Radikalschwenk zur Wahrerin ostdeutscher Prägungen und Interessen. Die anderen Parteien waren ja altbundesdeutsch, mit kleinen Ost-Filialen.

Weder ökonomisch noch mental steht der Osten auf eigenen Füßen, medial schon gar nicht. Verbreitet ist das östliche Selbstgefühl, man sei Deutscher zweiter Klasse. Der Westen blieb sich selbst genug. Den Osten hat er meist als Last, kaum je als Bereicherung begriffen. Ein Drittel der Westdeutschen war noch nie im Osten. Östliches ist willkommen, wenn es altdeutsch beheimelt und westlich anschlussfähig scheint: Bach- und Lutherstätten, Weimarer Klassik, Preußen-Potsdam, Dresdner Barock.

Der Westen kam über den Osten wie das Gesetz über die Sünde. Hier war alles falsch, weil dort alles richtig wäre. Kalt könnte man sagen: Der Osten hat das so gewollt, in freien Wahlen, inklusive der Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“, die zu einem gigantischen Vermögensabfluss nach Westen führte. Und in wahrhaft historischer Naivität glaubten viele Ossis, Helmut Kohl sei Wirtschaftskommandant und garantiere Arbeitsplätze.

Zum Schluss sei erzählt, wie ich Bodo Ramelow erstmals begegnete. 1993 erlebte ich als Reporter ein Lehrstück der ostdeutschen Übergangszeit: den Kampf der Bischofferöder Kalikumpel um ihren Thomas-Müntzer-Schacht. Seit Sommer 1993 befanden sich die Bergleute im Hungerstreik. Sie verloren trotz voller Auftragsbücher, weil ihr neuer Eigner, Kali + Salz Kassel, nicht die Konkurrenz beliefern wollte und die rentable Grube schloss. Da lagen die Kumpel, gläubige Eichsfelder Katholiken, unter dem Kruzifix aus ihren Pritschen und warteten auf Sankt Helmut. Hatte er nicht die blühende Zukunft versprochen, wenn alle die Ärmel aufkrempeln? Es erschien jedoch nur Kohls Parteifreund, Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel. Ratlos sprach er, hier habe der Kapitalismus seine Fratze gezeigt.

Silvester 1993 war alles vorbei. Mann für Mann trotteten die Geschlagenen an einen Tisch und unterschrieben die Abfindungspapiere, die der Schlichter Bodo Ramelow ausgehandelt hatte. Es flossen viele Tränen über gegerbte Gesichter. Abends strömten alle in den Dorfsaal. Sie feierten ihren großen Kampf, ihren Stolz, auch ihre Unschuld am bösen Geschick. Sie tanzten mit ihren Frauen den Schneewalzer und brüllten, dass die Gläser sprangen: „Bischofferode ist überall, bringt die Treuhand doch zu Fall!“ Zur Mitternacht sangen sie ihre Hymne, das Eichsfeldlied: „Schlägt meine letzte Stunde, es sei auf Eichsfelds Grunde.“

Ich kenne niemanden, der die DDR zurückbegehrt. Dieser Staat verschwand verdientermaßen. Das Land ist noch da, wie die Menschen. Bärbel Bohley, die „Mutter der Friedlichen Revolution“, prägte 1990 den realistischen Satz: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Joachim Gauck sprach: „Wir träumten vom Paradies und erwachten in Nordrhein-Westfalen.“ Die deutsche Einheit ist, wie sie der einzelne erlebt.

Zur Wendezeit brannten im Osten Kerzen, danach Asylantenheime, in Ost und West. Und wer der Friedlichen Revolution gedenkt, soll nicht verschweigen, dass die Hälfte der deutschen Afghanistan-Soldaten aus den sogenannten „neuen Bundesländern“ kam. Die Bundeswehr, mithin der Krieg, ist im Osten ein begehrter Arbeitgeber. Als Waffenexporteur belegt Deutschland weltweit Rang 3. Dennoch nenne ich es nicht Unrechtsstaat.

Christoph Dieckmann
Christoph Dieckmann wuchs in einem DDR-Pfarrhaus auf und studierte Theologie in Leipzig und Ost-Berlin. Seit 1991 ist er Autor der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Zu seinen Büchern gehören u.a. „ Mich wundert, daß ich fröhlich bin. Eine Deutschlandreise“ (2009) und „Freiheit, die ich meine. Unbeherrschte Geschichten“ (2012, jeweils im Chr. Links Verlag). www.zeit.de