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Titelthema

Es droht eine Katastrophe

Titelthema - Es droht eine Katastrophe
© Illustration: Karsten Petrat

Nur durch eine partnerschaftliche Herangehensweise kann die internationale Gemeinschaft eine humanitäre Tragödie in den Entwicklungsländern verhindern.

Mohamed A. El-Erian01.05.2020

Zurückgehende Infektionsraten und Pläne, in einigen Teilen der entwickelten Welt mit der Lockerung der Lockdown-Maßnahmen gegen das Coronavirus zu beginnen, haben uns nach Wochen düsterster Prognosen einen Hoffnungsschimmer beschert. Doch für viele Entwicklungsländer könnte die Krise gerade erst begonnen haben, und die Menschenleben, die ein größerer Covid-19-Ausbruch hier fordern würde, hätten eine Größenordnung, die weit über die Zahlen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften hinausginge.

Das Afrika der Subsahara ist ein schlagendes Beispiel. Mehrere Länder würde die Durchsetzung von sozialen Abstandsregeln und anderen Maßnahmen zur Abflachung der Ansteckungskurve vor beträchtliche Herausforderungen stellen. Die schon jetzt schwachen Gesundheitssysteme der Region würde ein Ausbruch mithin schnell überlasten, vor allem in dicht besiedelten Gebieten.

Afrika leidet schon lange an einem gravierenden Mangel an Ärzten und Pflegekräften: Im Jahr 2013 kamen auf 1000 Einwohner lediglich 2,2 Beschäftigte im Gesundheitswesen (im Vergleich zu 14 in Europa). Und nur wenige afrikanische Länder verfügen über einen nennenswerten Vorrat an Beatmungsgeräten, wie sie für die Behandlung von schweren Fällen entscheidend sind. Nigeria soll insgesamt weniger als 500 besitzen, während es in der Zentralafrikanischen Republik wohl nicht mehr als drei gibt.

Darüber hinaus haben die Regierungen in Ländern der Subsahara nur geringen finanziellen Spielraum beziehungsweise nicht genug operative Kapazitäten, um den massiven Auswirkungen der Eindämmungsmaßnahmen auf die Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse im selben Maße entgegenzuwirken wie die fortschrittlichen Länder. Spillover-Effekte aus Asien, Europa und den USA – zu denen rückläufige Rohstofferlöse (aufgrund von Nachfragerückgang und Preisverfall), steigende Importkosten, der Zusammenbruch des Tourismus, ein eingeschränktes Angebot an Grundgütern, fehlende Direktinvestitionen aus dem Ausland und ein abrupter Einbruch der Portfoliofinanzströme gehören – haben diese Sachzwänge bereits verschärft.

Obwohl das subsaharische Afrika nicht völlig wehrlos ist – es verfügt über starke Familiennetzwerke, kulturelle Widerstandsfähigkeit und hat viel aus der Ebola-Krise gelernt –, besteht die reale Gefahr, dass eine Erschütterung durch Covid-19 es in einen aussichtslosen Kampf gegen tödlichen Hunger auf der einen und tödliche Ansteckung auf der anderen Seite verstricken würde. Manche bereits durch jahrzehntelange politische Führungsschwäche oder korrupten Autoritarismus anfällig gewordene Staaten könnten sogar ganz versagen, was blutige Unruhen schüren und Extremistengruppen einen fruchtbaren Boden bereiten könnte.

Doch haben wir es nicht nur mit kurzfristigen Risiken zu tun. In manchen Ländern besteht zusätzlich die Gefahr von umfangreichen zukünftigen Produktivitätsverlusten sowohl in Bezug auf Arbeitskraft als auch in Bezug auf Kapital. Längere Schulschließungen und Arbeitslosigkeit könnten vor allem in Ländern, denen die Basisinfrastruktur für Fernstudien übers Internet fehlt, zur Zunahme von häuslicher Gewalt, Teenager-Schwangerschaften und Kinderehen beitragen.

Migration würde weiter zunehmen

Einfach ausgedrückt, könnte das subsaharische Afrika gerade vor einer so abgrundtiefen menschlichen Tragödie stehen, dass in manchen Ländern eine ganze Generation den Halt verlieren könnte, was Folgen hätte, die weit über die regionalen Grenzen hinausgehen. Zwei Beispiele veranschaulichen die drohenden Gefahren in ihrer ganzen Vielschichtigkeit.

Durch die drastische Eintrübung der gegenwärtigen und zukünftigen Wirtschaftsaussichten der Afrikaner könnte die Corona-Krise erstens zu noch mehr Migration führen, als derzeit vorausgesagt wird. Da es zu Zahlungsverzügen bei einer Reihe von Firmen- und Staatsschulden kommen würde, könnte ein unkontrollierter Covid-19-Ausbruch zweitens die Instabilität der Finanzmärkte vergrößern.

Das Ausmaß der Bedrohung ist dem Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht entgangen, der unter enormem, nicht nachlassendem Aufwand schnell mutige Schritte zur Erhöhung der Notkredite in die Wege geleitet hat. Mehr als 90 Entwicklungsländer haben bereits Finanzhilfen beim IWF beantragt. Gemeinsam mit der Weltbank hat der Fonds zudem die offiziellen bilateralen Kreditgeber – darunter China, das in den letzten Jahren zu einem Großgläubiger geworden ist – dazu aufgerufen, für die ärmsten Entwicklungsländer die Begleichung der Schulden auszusetzen.

Auch in dieser Hinsicht wegweisend, gewährt der IWF 25 seiner Niedriglohnmitgliedsländer unmittelbare Schuldenerleichterungen und sechsmonatige Zuschüsse zur Deckung ihrer multilateralen Schuldentilgungsverpflichtungen.

Vor allem die fortgeschrittenen Volkswirtschaften sollten die innenpolitischen Bedenken, die (verständlicherweise) bisher für ihre Reaktionen kennzeichnend gewesen sind, durch eine breiter angelegte Bewertung der globalen Folgen ersetzen, einschließlich der Spillover-Effekte und Weiterungen aus Afrika. Sie sollten die offiziellen Finanzhilfen ausweiten, weitreichendere Schuldenerlässe unterstützen und dringend einen internationalen Solidaritätsfonds einrichten, dem sich andere Länder und der private Sektor anschließen könnten.

Die Rolle des privaten Sektors

Und abschließend muss die internationale Gemeinschaft sehr viel mehr für die Bündelung der Ressourcen aus dem privaten Sektor tun. So wie in den entwickelten Ländern kann der private Sektor in den verwundbaren Regionen sowohl direkt als auch durch den Ausbau von Public Private Partnerships eine wichtige Rolle bei der Krisenbewältigung spielen. Auch wenn pharmazeutische und technische Unternehmen den Löwenanteil übernehmen werden, können private Kreditgeber daran mitarbeiten, die unmittelbare Schuldenlast der besonders gefährdeten Entwicklungsländer zu verringern. Doch, um es noch einmal zu sagen, dafür werden nachdrücklichere Ermächtigungsmechanismen erforderlich sein. Die Denkweise der multilateralen Geldgeber und anderer internationaler Körperschaften (einschließlich der Weltbank) müssen sich grundlegend ändern. Die Covid-19-Pandemie droht in weiten Teilen der Entwicklungsländer verheerende Folgen zu haben. Nur durch eine konzertierte, partnerschaftliche und ganzheitliche Herangehensweise kann die internationale Gemeinschaft eine große Gebiete umfassende humanitäre Tragödie in den verwundbaren Regionen verhindern – und den Rest der Welt vor destabilisierenden Rückschlägen schützen.

Mohamed A. El-Erian

Mohamed A. El-Erian ist Chef-Wirtschaftsberater der Allianz. Er war Vorsitzender des Globalen Entwicklungsrates von US-Präsident Barack Obama und war nach dem Ranking der Zeitschrift Foreign Policy vier Jahre in Folge einer der weltweit führenden 100 Denker.

 

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