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Es geht drunter und drüber im Staate Österreich
Stabile politische Verhältnisse zeichneten das Land früher aus – davon ist nicht mehr viel übrig. Inzwischen wechselt die Regierung im Zwei-Jahres-Rhythmus.
Im Juni 2007 ereignet sich in Österreich Seltsames. In ungewohnter Eintracht beschließen Sozialdemokraten und Volkspartei weniger Demokratie. Und zwar gleich um ein Fünftel weniger. Die Arbeitsperiode für das Parlament wird ohne viel Wirbel und ohne vormedialen Schlagabtausch mit der Opposition von vier auf fünf Jahre verlängert. Als protestiert wird, ist es schon zu spät.
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Große Projekte brauchen große Zeiträume, sagen der rote Kanzler und der schwarze Vizekanzler. Sie regieren zwei Jahre. Nicht einmal. Im Oktober 2008 wird wiedergewählt. Zwischen 1994 und 2019, also in einem Zeitraum von 25 Jahren, verbraucht die frühere Insel der Seligen neun Regierungen. Die Gesetzgebungsperioden dauern im Schnitt 2,8 Jahre. Also knapp die Hälfte der gesetzlich beschlossenen Arbeitszeit für österreichische Abgeordnete.
Was ist los in diesem Land?
Kurz zusammengefasst: Eine Zweiteilung hat die Alpenrepublik in eine politische Wackelzeit gestoßen, immer mehr sprechen von italienischen Verhältnissen, was allerdings (noch) übertrieben erscheint.
2015, als die Flüchtlingskrise ganz Europa erfasst, wird allen politischen Beobachtern klar: Das kann nicht mehr lange gutgehen. Tiefe Gräben tun sich auf – im Land des gemütlichen Kompromisses. Zwischen den „Willkommens-Klatschern“ und den „Heimatverteidigern“, wie sich beide Lager gegenseitig verächtlich machen, Alexander-Van-der-Bellen-Anhänger (Präsidentschaftskandidat 2016 und grünes Urgestein) und die „Blauen“ mit FPÖ-Spitzenkandidat Norbert Hofer. Als es Van der Bellen nach zwei Pannen-Wahlgängen beim dritten Mal knapp schafft, verspricht er, Gräben zuschütten zu wollen.
Dann kommt Kurz. Der mit Mai 2017 neue ÖVP-Chef, 30 Jahre ist Sebastian Kurz damals, will zunächst polarisieren und wird auf diese Weise einige Monate später Bundeskanzler.
2015 – 2017 – 2019 – 2021
Der Zwei-Jahres-Rhythmus als verlässlicher Taktgeber für politische Erschütterungen der Alpenrepublik bleibt dem Land erhalten. Auf den Tag genau zwei Jahre nach seiner Wahl zum designierten ÖVP-Obmann knallt ein Video aus Ibiza mitten in den gemächlich verlaufenden Europa-Wahlkampf der Republik. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Die Regierung muss gehen. Eine Expertenregierung kommt. Erst mit dem 1. Jänner 2020 kann der Altkanzler, der 33-jährige Sebastian Kurz, wieder regieren. Diesmal mit Grün. Ein schwieriges Experiment.
Als plötzlich der grüne „Pandemieminister“ Rudolf „Rudi“ Anschober in der Bevölkerung immer populärer wird und im Herbst – zumindest einmal – im Vertrauensindex an Kanzler Kurz vorbeizieht, hängt der türkis-grüne Haussegen schief. Beliebter als Kurz – das darf es in diesem Land nicht geben.
Zwar muss Anschober nur Monate später 2021 aus gesundheitlichen Gründen – und wohl auch, weil dem sensiblen Oberösterreicher die Zermürbungstaktik von Opposition und eigenem Regierungspartner zu nahe geht – zurücktreten. Aber wirklich freuen kann das in der ÖVP niemanden mehr. Die „Chat“-Zeit beginnt. Im sogenannten Ibiza-Untersuchungsausschuss des Parlaments sollte es eigentlich um die Ungeheuerlichkeiten gehen, die der FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache im Sommer 2017 von sich gegeben hatte.
Doch bald geraten immer mehr ÖVP-Politiker unter Beschuss. Aber den Lockdown-geplagten Menschen fällt es schwer, den Überblick zu bewahren und so liegen überraschenderweise die Türkisen im Sommer 2021 noch immer deutlich vor den Sozialdemokraten – obwohl der Vorsprung seit Mitte Juni schmilzt und schmilzt – und rund 15 bis 20 Prozentpunkte vor den Freiheitlichen sowie deutlich mehr als 20 Prozentpunkte vor dem grünen Regierungspartner.
Das könnte sich ändern, falls gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz Anklage wegen Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss erhoben werden sollte. Dort hatte er sinngemäß ausgesagt, nicht in die Bestellung des ÖVP-Mannes Thomas Schmid zum Chef der Verstaatlichten-Holding ÖBAG eingebunden gewesen zu sein. In den Chat-Nachrichten Schmids liest sich das anders.
Kurz an Schmid: „Kriegst eh alles, was Du willst“, samt drei Emojis: Bussi, Bussi, Bussi.
Antwort von Schmid: „Ich liebe meinen Kanzler.“
Wobei Kurz selbst bei einer Anklage nicht zurücktreten würde, ja sogar im Falle einer Verurteilung ist es nicht sicher, dass der Kanzler freiwillig gehen würde. Allerdings wäre dann auch das türkisgrüne Abenteuer vorzeitig zu Ende – und zwar in negativer Rekordzeit. Eineinhalb Jahre hätte diese Regierung dann gehalten: Nicht einmal ein Drittel der vorgesehenen fünf Jahre. Gegen Finanzminister Gernot Blümel wird übrigens wegen möglicher Bestechlichkeit wegen in den Akten aufgetauchter Parteispenden durch den Glücksspielkonzern Novomatic ermittelt. Ermittlungen wegen des Verdachts der Vorwarnung vor Hausdurchsuchungen haben nun einen der wirkmächtigsten Juristen des Landes, Sektionschef Christian Pilnacek vom Justizministerium, und sogar einen amtierenden Verfassungsrichter, Wolfgang Brandstetter, beide der ÖVP mehr nah als fern, den Job gekostet. Brandstetter war übrigens vor seiner Tätigkeit im Verfassungsgericht unter anderem auch Justizminister.
Es geht also drunter und drüber im Staate Österreich. Eine der häufigsten Fragen, die auch uns Medienvertretern gestellt wird: „Wie lange kann da die stets mit dem absoluten Sauberkeits- und Transparenz-Image wahlkämpfende Partei der Grünen noch mit?“ Anklagebank und Regierungsbank gleichzeitig – das geht sich für einen Kanzler nicht aus, donnert die Opposition aus SPÖ, FPÖ und den liberalen Neos. Die Grünen können sich zu dieser klaren Aussage noch nicht durchringen. Für sie wäre wohl erst mit einer Verurteilung des Kanzlers alles aus. Aber was hieße ein „Aus“ im rot-weiß-roten, türkis-grün geführten Österreich? Am realistischsten wären dann wieder einmal Neuwahlen.
Es bleiben nicht viele Optionen
Ist Kurz dann trotz allem noch ÖVP-Chef und die anderen Parteien gehen mit ihrem derzeitigen Spitzenpersonal ins Rennen, könnte er die Wahl neuerlich gewinnen. Nur regieren wird dann schwierig. Mit wem?
Alle(s) aufgebraucht: SPÖ, FPÖ, Grüne. Nur mit den vermutlich rund 10 Prozent der Neos wird sich das Kabinett Kurz III nicht ausgehen. Türkis-Neos-Grün? Vielleicht. Außer die Grünwähler sind über das zu lange Zuwarten ihrer Partei rund um die juristischen Probleme türkiser Politiker derart verärgert, dass sie ihre Partei wieder aus dem Parlament wählen. Geschehen erst vor vier Jahren, bei der Nationalratswahl 2017. Möglich wäre auch SPÖ-Grüne-Neos. Für eine Mehrheit im Nationalrat ausgegangen ist sich das aber bisher noch nie.
Bliebe also nur ÖVP-Versuch II mit den Freiheitlichen als realistisches Szenario nach einer allfälligen Neuwahl. Es wäre im früheren K & K-Österreich nach Kurz & Kogler (grüner Vizekanzler) die zweite K & K-Variante. Allerdings dann mit dem erst in diesen Tagen zum neuen Parteichef der FPÖ bestellten Herbert Kickl, früher Innenminister in der türkis-blauen Regierung. Genau jener Herr Kickl, den Kanzler Kurz wenige Tage nach Auftauchen des Ibiza-Videos im Mai 2019 aus der Regierung entlassen hatte beziehungsweise, um es exakt zu formulieren, dessen Entlassung er dem Bundespräsidenten vorgeschlagen hatte. Und Alexander Van der Bellen hatte damals angenommen. Ein einmaliger Vorgang in Österreich – seit Kriegsende.
Auf gar keinen Fall werde es deshalb zu einer Koalition von ÖVP und FPÖ unter Kurz und Kickl kommen, darüber sind sich fast alle österreichischen „Experten“ einig. Der Autor dieser Zeilen aber weiß nach Jahrzehnten innenpolitischer Berichterstattung: In Österreich noch einmal „nie und nimmer“ zu sagen, ist grundsätzlich riskant.
Hans Bürger ist Ressortleiter für Innenpolitik/EU und ZIB-Chefkommentator sowie seit 18 Jahren stellvertretender Chefredakteur-Stellvertreter der Fernsehinformation beim ORF. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreis, die wichtigste Journalistenauszeichnung in Österreich.