https://rotary.de/gesellschaft/es-ist-unertraeglich-a-22899.html
Aktuell

"Es ist unerträglich"

Aktuell - "Es ist unerträglich"
Ein Foto der Familie aus glücklichen Zeiten © privat

So beschrieb Joni Ascher die vergangenen 49 Tage: Seine Frau und seine beiden Kinder waren von der Hamas entführt worden. Am Abend des 24. November die Wende: Sie waren unter den ersten Freigelassenen. Bis dahin hatte der Vater und Ehemann die Hölle durchgemacht, wie er dem Rotary Magazin erzählte.

Inga Rogg24.11.2023

Joni Ascher ist blass, unter den Augen hat er dunkle Ringe. Seit Wochen hat er nicht mehr geschlafen. Und kaum noch gegessen. "Wie kann ich essen und schlafen, wenn ich nicht weiß, wie es meiner Frau und meinen beiden Kindern geht?" Auf seinem Handy zeigt mir Ascher Fotos von seinen beiden Töchtern. Auf einem halten sich die beiden eng umschlungen und grinsen in die Kamera. Ras, die ältere Tochter mit langem, blondem Haar, trägt rosafarbene Hosen. Sie ist vier Jahre alt. Aviv, die kleinere, ist gerade einmal zwei.

Sie trägt ein rosafarbenes Tüllkleidchen, ihr dunkles Haar ist zu einem kecken Pferdeschwänzchen nach oben gebunden. "Sie sind echte Girlies. Beide tragen nur Kleidchen. Sie lieben es zu singen, zu tanzen. Sie haben immer so getan, als würden sie mich bekochen."

"Blick in die Hölle"

Zusammen mit ihrer Mutter Doron Katz wurden die beiden Mädchen am 7. Oktober von Hamas-Kämpfern entführt. "Sie haben ihre Oma in Nir Os besucht. Sie liebten ihre Oma so sehr, freuten sich jedes Mal auf den Besuch." In dem Kibbuz wütete die Hamas besonders schlimm, ein Viertel seiner Bewohner wurde getötet oder verschleppt.

Ascher blieb daheim, mehrere Hundert Kilometer entfernt im Haus der Familie im Zentrum Israels. "Am Morgen rief mich meine Frau an, dass es Raketenbeschuss gäbe. Ich sagte ihr, sie solle sich im Schutzraum einschließen. Später rief sie mich noch einmal an und sagte, um das Haus herum werde geschossen." Zu diesem Zeitpunkt ahnte Ascher noch nicht, dass Hamas-Kämpfer sämtliche Kibbuzim entlang des Gazastreifens überrannt hatten.

"Um zehn Uhr telefonierten wir noch einmal, und meine Frau erzählte mir, dass Hamas-Leute den Lebensgefährten meiner Schwiegermutter mitgenommen hätten, als er versucht hatte, mit ihnen zu reden", erzählt der 37-Jährige. "Ich konnte es nicht glauben und sagte ihr, sie solle den Schutzraum fest verriegeln. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander sprachen."

Stundenlang versucht Ascher, seine Frau erneut zu erreichen. Doch das Handy war abgestellt. Am Nachmittag schließlich die Gewissheit: Die Hamas hat seine Familie verschleppt. Auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen verbreitet sie ein Video. Es ist nur sieben Sekunden lang. Auf einem Traktor fahren Kämpfer davon. Auf der Ladefläche sitzen eingezwängt zwischen Fahrrädern Doron, Ras und mindestens vier weitere Frauen und Männer. "Schau hier. Siehst du die kleine Hand?", sagt Ascher und zeigt auf fünf kleine Finger, die nach seiner Frau ausgestreckt werden. "Das ist Aviv."

"An diesem Tag habe ich in die Hölle geblickt", sagt Ascher mit zitternder Stimme. "Wie kann jemand zwei kleine Mädchen entführen? Alle Eltern lieben ihre Kinder. Niemand will, dass ihnen etwas zustößt. Es ist, als ob jemand deinen Arm oder ein Bein abgehackt hätte. Es ist, als drehe dir jemand die Luft ab."

Kein Leben im Haus

Er und seine Familie sind deutsche Staatsbürger. Ascher hat die Außenministerin, den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten getroffen. Die Hilfe, die er aus Deutschland bekomme, sei großartig. "Aber ich fühle mich so hilflos." Ständig fragt er sich, wie es seiner Frau und den Mädchen geht. "Die beiden sind solche Energiebündel. Sie spielten, tobten, machten Lärm für einen ganzen Mann. Jetzt ist es so still in meinem Haus."

Tag für Tag hofft der Familienvater auf gute Nachrichten, seit vielen Wochen schon. Über Medien hat er um ein Lebenszeichen gefleht. "Meine süßen Töchter sitzen jetzt irgendwo im Finsteren im Wissen, dass ihre Oma tot ist. Ich weiß nicht, was sie essen, ob sie hungrig sind, ob ihnen kalt ist. Es ist unerträglich."

  • Nach Verhandlungen wurden Joni Aschers Frau und die beiden Töchter zusammen mit elf weiteren Geiseln am späten 24. November 2023 von der Hamas freigelassen. Informationen dazu hier: SPIEGEL-Artikel
Inga Rogg

Inga Rogg berichtet für die „NZZ am Sonntag“ und andere Medien aus dem Nahen Osten. Sie war lange Nahost-Korrespondentin der „Neuen Zürcher Zeitung“. 

Weitere Artikel der Autorin

12/2023 Ein Land in Trauer, Schock und Wut
Mehr zur Autorin