Titelthema
Ein Land in Trauer, Schock und Wut
Was am 7. Oktober geschah, hat Israel nachhaltig verändert. Inga Rogg war für uns in den Kibbuzim entlang des Gazastreifens unterwegs.
Vor dem schlichten Einfamilienhaus steht ein Dreirad, daneben die Fahrräder der Eltern und ein Kinderfahrrad. In einem kleinen Sandkasten liegt umgestürzt ein roter Bobbycar-Anhänger. Gleich könnten die Kinder aus dem Haus kommen, spielen, lachen, toben. Oder die Familie könnte sich auf ihre Räder setzen und einen Ausflug machen. Doch in dem kleinen Ort in der Nähe des Gazastreifens wird vielleicht nie wieder Kinderlachen erklingen.
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In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober hatten Hunderte von Kämpfern der islamistischen Hamas das gesamte Gebiet entlang des 41 Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Gazastreifens überfallen. Es war Schabbat und gleichzeitig das Ende des Laubhüttenfestes. Es sollte ein Festtag werden, Kinder und Enkelkinder aus dem ganzen Land kamen zu Besuch, um mit ihren Eltern und Großeltern zu feiern.
Hier im Kibbuz Beeri wüteten die Extremisten besonders schlimm. In einem Haus zieht sich eine lange Blutspur von einer Toilette bis zur Haustür. Ein Kinderbett ist getränkt von Blut. Selbst vor den Kleinsten machten die Terroristen nicht halt. Nur eine Gasse weiter ist fast jedes Haus mit Einschusslöchern übersät. Schwarze Rußflecken von den Flammen, die aus Zimmern loderten, bedecken die Wände. Zwischendrin stehen die verkohlten Ruinen von Häusern ohne Dächer und Fenster sowie mit halb weggeschossenen Wänden – Spuren der schweren Kämpfe, die sich die Terroristen mit den heranrückenden Soldaten lieferten.
Jetzt ist die Armee da. Aber am "schwarzen Schabbat", wie viele Israelis den 7. Oktober nun nennen, dauerte es lange, bis die Soldaten kamen. In manchen Kibbuzim harrten die Bewohner zwölf Stunden lang verzweifelt in ihren Schutzräumen aus. "Wo war die Armee?", fragen viele in den Tagen danach.
Eine Tragödie von historischem Ausmaß
Israel ist in seiner 75-jährigen Geschichte immer wieder angegriffen worden, jedes Mal hat es sich erfolgreich verteidigt. Selbst im Jom-Kippur-Krieg 1973, als Regierungs- und Sicherheitsapparat wie jetzt völlig überrascht wurden. Jedes Mal waren es die Armeen verfeindeter Staaten, die das Land angriffen. Soldaten kämpften gegen Soldaten. Diesmal war es anders. Es waren einige Hundert Extremisten – die Schätzungen reichen von 1500 bis 2500 –, die mit Motorrädern und Pick-ups den Grenzzaun und die tief in den Boden eingelassenen und mit Überwachungskameras und Sensoren ausgestatteten Schutzmauern durchbrachen, um Zivilisten zu töten.
Stundenlang marodierten sie durch israelische Kleinstädte, Kibbuzim, Weiler und ein Musikfestival, massakrierten Zivilisten auf offener Straße, sprengten sich den Weg in Schutzräume frei und metzelten ganze Familien nieder. Mindestens 1200 Männer, Frauen und Kinder töteten sie, die meisten von ihnen Zivilisten; 240 verschleppten sie als Geiseln in den Gazastreifen. Es ist eine Tragödie von historischem Ausmaß. Israel sollte für immer der sichere Hafen für Juden aus aller Welt sein. Doch jetzt fühlen sich selbst Israelis, die weit entfernt vom Gazastreifen leben, in ihren Häusern nicht mehr sicher. Israel trauert und ist schockiert – und so erschüttert wie seit Langem nicht mehr.
Es werde lange dauern, die Trauer und den Verlust zu bewältigen, sagen Kibbuz-Bewohner, mit denen wir vor ein paar Monaten noch über das Wiederaufleben der Kibbuz-Bewegung gesprochen haben. "Ich persönlich habe den Glauben an alles verloren", sagt Siobhan Rahamim aus Nahal Os, nur weniger Hundert Meter vom Gazastreifen entfernt. "Den Glauben an Gott, die Armee, an alles in Israel." Jetzt leben die Rahamims 200 Kilometer entfernt im Norden Israels, in einem Kibbuz, der die Überlebenden aufgenommen hat. "Ich weiß nicht, ob wir jemals nach Nahal Os zurückkehren werden", sagt Rahamim.
Die Armee weiß um den Vertrauensverlust und hat sofort alle Kräfte zum Gegenschlag mobilisiert. Die Unterstützung für die Militäroperation ist groß, von rechts bis links, mehr als 85 Prozent befürworten das Vorgehen. Jair Golan, ehemaliger stellvertretender Generalstabschef der IDF: "Alles hat seine Zeit. Es gibt Zeiten für Frieden und für Krieg", sagt Golan. "Jetzt ist die Zeit für Krieg." Das bedeute nicht, die Hoffnung auf Frieden aufzugeben, doch jetzt gehe es darum, erfolgreich zu kämpfen.
Während das Land trauert, weint und kämpft, scheint einer von der Tragödie seltsam unberührt: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Er besucht kein einziges Begräbnis, braucht gefühlt eine Ewigkeit, bis er Angehörige der Geiseln trifft und an die Frontlinie reist. Als er es tut, findet er nicht die richtigen Worte. Jahrelang hatte der sechsfache Regierungschef den Israelis gepredigt, die wachsende Frustration der Palästinenser lasse sich ignorieren und die Gefahr der Hamas könne man mit gelegentlichen Militärschlägen und Geldzahlungen aus Katar im Zaum halten.
Jetzt weigert sich Netanjahu, jegliche Verantwortung für das Desaster zu übernehmen. Stattdessen streut er eifrig, die Armee und die Geheimdienste seien an allem schuld – und die Opposition, die in den letzten Monaten zu Hunderttausenden auf die Straße ging, um gegen seine Pläne zu protestieren, die Justiz zu entmachten. Dabei gehörten die Reservisten, die gedroht hatten, nicht mehr zu den Übungen zu erscheinen, zu den Ersten, die sich jetzt zum Dienst meldeten. Selbst Netanjahus langjährige Wähler trauen "König Bibi", "Mr. Security", nicht mehr. Seine Umfragewerte stürzen in den Keller, mehr als zwei Drittel wollen, dass er sofort oder spätestens nach dem Krieg zurücktritt.
Kuchen für die Helfer
Wütend sind viele Israelis auch über das Versagen der Regierung, schnell Hilfe für die traumatisierten Überlebenden bereitzustellen. Wo die Regierung scheitert, springt die Zivilgesellschaft ein. Und das mit Vehemenz. Freiwillige bieten Unterkünfte für evakuierte Bewohner der Kibbuzim an, sammeln Kleidung und Spielzeug. Die Hightech-Branche sucht nach Hinweisen auf die Verschleppten. In Tel Aviv stellt ein Geschäftsmann ein sechsstöckiges Gebäude zur Verfügung, um die Angehörigen der Geiseln und Vermissten medizinisch, psychologisch, rechtlich und medial zu betreuen. Über Nacht wird aus der "Hightech-Nation" die "Stand-up-Nation".
Hier im Süden treffen wir auf einen Geschäftsmann, der mit einem Freund im Jaguar aus Tel Aviv gekommen ist und eine Armeeeinheit mit Käse versorgt. An einem Straßenrand verteilt Jossi Tee, Kaffee, Sandwiches und Kuchen. Informatiker, Banker, Lehrer, Rechtsanwälte, Architekten, Künstler springen in den Plantagen und Feldern der Kibbuzim und Moschawim (Landkommunen) für die Tausenden von Thais ein, die nach dem Horror das Land verlassen haben. Jugendliche aus der Siedlerbewegung jäten zusammen mit Liberalen Unkraut. Gilad Israel, ein Makler aus Modiin im Zentrum von Israel, organisiert Freiwilligeneinsätze im Moschaw Jated nahe der Grenze zu Ägypten.
"Die Hamas in Gaza muss zerstört werden", sagt Israel. Vielleicht könne es dann Frieden geben. Aber das Morden von Juden müsse ein Ende haben. "Grundlos bringen sie uns um. Sie wollen uns hier nicht." Für die Palästinenser gebe es andere Länder. "Für uns Juden nicht. Wir haben kein anderes Land." Der Banker Micha, der zusammen mit seinen beiden Töchtern aus Jerusalem gekommen ist, versucht sich auf das Positive zu konzentrieren. "Ungeachtet ihrer politischen Meinung stehen jetzt alle zusammen", sagt er. "Wir sehen wieder das schöne Israel."
Ohne Schlaf und Appetit
Gute zehn Kilometer nördlich steht Michal Klein im Moschaw Mivtahim in einem Gewächshaus für Tomaten und knotet Kletterschnüre für die Setzlinge. Seit dem 7. Oktober hat die Tochter eines Holo caustÜber le ben den nicht mehr richtig geschlafen. "Der Gedanke an die Kinder, die Älteren und Babys in Gaza raubt mir den Schlaf", sagt sie. "Kommen sie zurück, wenn ich nie wieder schlafe? Kommen sie zurück, wenn ich in meinem Leben nichts mehr genieße?" Ihre Stimme stockt, Tränen treten ihr in die Augen. Mit aller Energie setzt sich die Informatikerin seitdem für die Suche nach Vermissten ein – und verrichtet Feldarbeit.
Mit Bussen sind Klein und mehr als 100 weitere Freiwillige aus der Gegend um Tel Aviv angereist. Jede helfende Hand wird gebraucht. Rund 70 Prozent der in Israel gezogenen Tomaten werden in der Region angebaut, dazu Kartoffeln, Gemüse, Mangos, Bananen und Blumen. In den Gewächshäusern zeigt das Thermometer knapp 40 Grad an, es ist schwül. Binnen Minuten rinnt allen der Schweiß von der Stirn. Trotzdem arbeiten sie still vor sich hin. Nur einmal kommt Unruhe auf. Die Alarm-App warnt vor Raketen. Einige verstreuen sich. Schutzbunker gibt es auf den Feldern nicht. Man kann sich nur auf den Boden legen und die Hände über den Kopf halten. Nach den Kampfjets ist ein lauter Knall zu hören. Als es vorbei ist, machen alle weiter wie zuvor.
Ein Maschinengewehr geschultert und mit Pistole im Halfter kommt Rafael Levi, der Besitzer, vorbei. Wie viele meint auch er, dass die Hamas komplett aus dem Gazastreifen vertrieben werden muss. "Ich will, dass meine Kinder in Frieden aufwachsen. Dass sie nie wieder in Schutzräumen schlafen müssen und unbeschwert spielen können", sagt Levi. "Und ich will mich wie früher samstags mit meinen Freunden in Beeri treffen und eine Radtour machen. Das haben wir jeden Schabbat gemacht – nur am 7. Oktober nicht."
Inga Rogg berichtet für die „NZZ am Sonntag“ und andere Medien aus dem Nahen Osten. Sie war lange Nahost-Korrespondentin der „Neuen Zürcher Zeitung“.
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