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Titelthema

Es kommt etwas Großes auf uns zu

Titelthema - Es kommt etwas Großes auf uns zu
© Illustration: Mario Wagner/2 Agenten

Es ist erstaunlich, wie wenig wir uns angesichts seiner Bedeutung mit dem Metaversum beschäftigen. Es wird viele Bereiche unseres täglichen Lebens revolutionieren – ob wir wollen oder nicht.

Andreas Dripke01.03.2022

Seit sich 2021 das größte soziale Netzwerk der Welt, Facebook, in Meta umbenannt hat, ist das Metaversum in aller Munde. Allerdings ist die Vorstellung, worum es sich dabei handelt, reichlich diffus. So viel sei vorab gesagt: Die Bedeutung des Metaversums – oder Metaverse, wie es gelegentlich genannt wird – lässt sich nicht überschätzen. Es wird unser privates wie berufliches Leben genauso stark verändern wie das Internet – manche sagen sogar: so stark wie der Buchdruck und das Internet zusammen. Neben Meta/Facebook haben sich längst namhafte Digitalkonzerne wie Microsoft, Apple und Nvidia auf den Weg ins Metaversum gemacht, ebenso wie zahlreiche Start-ups, ausgestattet mit Millionen Dollar von Risikokapitalfirmen, die einen neuen Milliardenmarkt wittern.

Das Metaversum ist durch sieben Attribute charakterisiert. Erstens: Es läuft pausenlos weiter, ist also kein Computerspiel, das man anhalten kann. Zweitens: Es ist live, alle Akteure können ohne Zeitverzögerungen miteinander interagieren. Drittens: Es ist offen für beliebig viele Menschen und Unternehmen. Viertens: Es hat ein eigenes Ökosystem, man kann dort arbeiten, investieren, kaufen und verkaufen. Fünftens: Es umfasst die digitale und die physische Welt gleichermaßen. Sechstens: Es gibt digitale Währungen und Werte. Siebtens: Es ist voll von Inhalten (etwa Musik, Filme, Spiele, Kunst) und Erfahrungen wie Live-Konzerten, virtuellen Treffs, Marktplätzen, Verkaufsstellen, betrieblichen Wertschöpfungsketten.

Nur schwer vorstellbar

Das Metaversum ist heute ungefähr so schwer vorstellbar wie das Internet, zehn Jahre bevor es sich durchgesetzt hat. Genau genommen ist es vor allem das „mobile Internet“, das uns heute tagtäglich begleitet, nämlich das Smartphone. Über vier Milliarden Menschen besitzen eines, jeder Deutsche greift im Durchschnitt 30-mal am Tag danach. Verfügbar wurde das Smartphone vor gerade einmal 15 Jahren; 2007 hielt der zwischenzeitlich verstorbene Tech-Guru Steve Jobs das erste iPhone in die Kameras. Das Metaversum wird ähnlich schnell und geballt auf uns zukommen.

Ins Meeting geht der Avatar

Doch was ist dieses Metaversum eigentlich? Als Laie stellt man es sich am besten als eine dreidimensionale virtuelle Umgebung im Computer vor. Wir Menschen werden in dieser virtuellen Welt durch Avatare simuliert, digitale Zwillinge, deren Aussehen wir flexibel gestalten können, je nachdem, wie wir uns im Metaversum darstellen wollen. Die wichtigsten derzeit verfügbaren 3D-Welten heißen Decentralized, Roblox und Sandbox sowie Horizon von Meta/Facebook. Es handelt sich dabei überwiegend um spielerische Umgebungen, in denen sich vor allem junge Menschen tummeln. Die Pandemie mit ihren Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen hat diesen Plattformen einen massiven Auftrieb verschafft, indem sie als Ersatz für den Pausenhof oder den Jugendtreff dienten. Doch das Metaversum wird bei der Jugend nicht haltmachen, sondern sich im Laufe der nächsten Jahre zügig auf alle Altersgruppen und vor allem auch im beruflichen Alltag ausdehnen. Microsoft hat bereits das „Enterprise Metaverse“ ausgerufen, also das Metaversum für Unternehmen. Dahinter verbirgt sich unter anderem das Konzept, dass man künftig seinen Avatar in Online-Meetings schickt, statt selbst Zeit darauf zu verwenden. Dank eines programmierten Algorithmus weiß der digitale Zwilling, wie er sich im Meeting zu verhalten hat. Persönlich schaltet man sich höchstens in besonders brenzligen Verhandlungssituationen ein. Das Homeoffice ist sicherlich kein Metaversum, aber es hat viele von uns erstmals gelehrt, wie sich im virtuellen Raum arbeiten lässt. Doch das ist nur der Anfang.

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© Illustration: Mario Wagner/2Agenten

In der Wirtschaft werden künftig weltweite Logistikketten und ganze Produktionsbetriebe im Metaversum digital nachgebaut. Anhand eines solchen virtuellen Modells können Unternehmen auf Knopfdruck Veränderungen im Betriebsablauf auf ihre Auswirkungen hin testen. Die Coronakrise hat verdeutlicht, wie wichtig die Fähigkeit ist, auf unerwartete Umstände rasch reagieren zu können. Produkte mussten wegen Chipmangel kurzfristig geändert, neue Handelswege für Container mit Nachschubware erprobt werden. Praktisch alle Betriebsabläufe und Eventualitäten lassen sich im „Industrial Metaverse“ simulieren.

Wenn Realität und virtuelle Welt verschmelzen

Wer das Metaversum für Science-Fiction hält, verkennt, dass es heute schon Big Business ist. So wurden im Jahr 2021 erstmals über 100 Millionen Dollar für virtuelles Land im Metaversum ausgegeben. Die Schlüsseltechnologie dafür sind Non-Fungible Tokens, kurz NFTs. Ein NFT ist ein fälschungssicheres Zertifikat, vergleichbar mit der DNA in der physischen Welt, und gleichzeitig so vertrauenswürdig wie ein Notar. Eine Maklerfirma bietet mittels NFT-Notar Privatinseln im Metaversum für 300.000 Dollar an, das virtuelle Nachbargrundstück des Rappers Snoop Dogg wurde für 450.000 Dollar gekauft, das Auktionshaus Sotheby’s hat im letzten Jahr ein digitales Wertstück für 4,8 Millionen Euro versteigert. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Non-Fungible Tokens repräsentieren zwar virtuelle Währungen, aber sie besitzen einen realen Wert. Der weltweit größte Marktplatz für NFTs, Open Sea, knackte 2021 die Marke von zehn Milliarden Dollar beim Transaktionsvolumen. Auf die reale Wertschöpfung in der virtuellen Welt hoffen viele Unternehmen; der Sportartikelhersteller Adidas ist bereits mit einem eigenen Shop in der virtuellen Welt vertreten, viele weitere werden folgen. Analysten prognostizieren für das Metaversum bis 2024 einen Marktwert von über 700 Milliarden Euro. Allein Meta/Facebook will bis dahin eine Milliarde Menschen in die virtuelle Welt herüberziehen.

Einen Meilenstein, vergleichbar mit dem Smartphone für das mobile Internet, werden virtuelle Brillen für das Metaverse darstellen. In diesen Computerbrillen ist vor jedem Auge ein hochauflösender Bildschirm montiert; auf beiden zusammen wird die dreidimensionale virtuelle Welt plastisch und zum Greifen nahe dargestellt. Dabei unterscheidet man zwischen Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR). Bei AR sind die Brillengläser transparent, sodass man seine reale Umgebung und eingeblendete digitale Informationen gleichzeitig sieht, bei VR versinkt man völlig in der virtuellen Welt. Das ist wie Fernsehen, aber viel intensiver und natürlich tragbar wie eine Brille. Die heutigen Brillenmodelle sind noch zu klobig und zu teuer, um abgesehen von Tech-Nerds Anklang zu finden. Aber es ist zu erwarten, dass Apple in diesem oder spätestens im nächsten Jahr eine virtuelle Brille vorstellt, die den Durchbruch bringen wird. Ähnlich, wie das iPhone vor 15 Jahren die Ära des Smartphones eingeläutet hat.

Langfristig läuft das Metaversum auf eine Verschmelzung von realer und virtueller Welt hinaus, und zwar in beinahe allen Aspekten: soziales Leben, Arbeitswelt, Wirtschaft, persönliche Finanzen. Häufig ist auch von einem hybriden Leben die Rede, wobei jeder individuell entscheiden kann, wie viel Zeit er auf der einen beziehungsweise anderen Seite verbringen will. Es ist allerdings zu erwarten, dass künftig immer mehr und vor allem die besonders attraktiven Arbeitsplätze überwiegend im Metaversum angeboten werden.

Die Technologien für diese hybride Welt stehen längst zur Verfügung: das mobile Internet, soziale Netzwerke, virtuelle Realitäten, Kryptotechnologien, digitale Identitäten, das Internet der Dinge und künstliche Intelligenz (KI). Vor allem der KI wird eine Schüsselrolle im Metaversum zugeschrieben. So muss hinter einem Avatar, der sich im dreidimensionalen Raum bewegt, nicht zwangsläufig ein Mensch aus Fleisch und Blut stecken, die Comicfigur kann auch von künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Ein Verkäufer im Metaversum könnte über alle Maßen erfolgreich sein, wenn er dank KI besonders geschickt agiert und dazu auch noch die persönlichen Daten seiner Kunden kennt. Anders formuliert: Wenn der Verkäufer alle Informationen besitzt, die Google, Amazon oder Facebook haben, dann kann er mittels KI gezielt genau diejenigen Dinge anbieten, die den Kunden wirklich interessieren.

Unendliche Rechenleistung nötig

Um alle genannten Technologien zu verbinden und eine dreidimensionale virtuelle Welt mit Millionen oder gar Milliarden von Menschen und Unternehmen zu erschaffen, reicht die heutige Computerleistung bei Weitem nicht aus. Anfang dieses Jahres stellte Meta/Facebook einen Computer vor, der mehr als eine Trillion Rechenoperationen pro Sekunde erledigen kann; das ist eine Eins mit 18 Nullen dahinter. Es klingt nach viel, doch um das Metaversum zu verwirklichen – eine virtuelle Welt, die verzögerungsfrei mit unserer realen Welt synchron läuft –, werden vermutlich Rechner mit 50 oder mehr Nullen benötigt. Am Rande: Der Name Google steht für eine Eins mit 100 Nullen – gefühlt eine unendliche Informationsmenge beziehungsweise Rechenleistung.

Zugegeben, das klingt nach Science-Fiction, aber Hand aufs Herz: Wer mit einem Festnetztelefon aufgewachsen ist, konnte sich damals weder das Internet noch ein Smartphone vorstellen. Die Vollendung des Metaversums liegt sicherlich noch viele Jahre in der Zukunft, aber die Entwicklung hat längst begonnen.


Buchtipp


Andreas Dripke et al.

Metaverse: Was es ist. Wie es funktioniert. Wann es kommt.

DC Publishing, 2021,

256 Seiten, 17,99 Euro

Andreas Dripke

Andreas Dripke ist seit über 30 Jahren als Autor, Analyst, Chefredakteur und Journalist tätig. Er hat mehr als 20 Sachbücher geschrieben, Dutzende von Analyse- und Marktreports verfasst und weit über 100 Artikel veröffentlicht. Heute ist er Executive Chairman im Diplomatic Council, einem globalen Thinktank.