Titelthema
"Es läuft mir kalt den Rücken runter"
Zeitzeugen erzählen, wie sie den 17. Juni 1953 in der ehemaligen DDR erlebten. Hier die Erinnerungen von Peter Hippe
In den Tagen vor dem 17. Juni konnte man in Halle an der Saale schon spüren, dass etwas in Bewegung geraten war. Eine Unruhe war spürbar. Am 17. Juni bin ich damals, elf Jahre jung, mit Freunden stadtauswärts zur Schule gegangen, und auf ihrem Weg in die Stadt kamen uns Gruppen entgegen. Die Schule war verschlossen, ein Schild verriet: Der Unterricht fällt aus. Als ich wieder zu Hause war, erzählten mir die Großeltern, dass sie im RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) gehört hätten, dass es heute überall zu Protesten kommen würde.
In unserer jugendlichen Neugier liefen ein Schulfreund und ich los in die Stadt, die Straße führte vorbei an der Haftanstalt Roter Ochse und direkt zum Markt. Als wir an die Strafanstalt kamen, waren schon viele Demonstranten da und verlangten, die Gefangenen freizulassen. Das Tor stand tatsächlich offen. Die MfS-Wachleute hatten alle Hände voll zu tun, die aufgebrachte Menge zurückzudrängen. Plötzlich hörten wir Schüsse im Innenhof. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass dort tatsächlich zwei Menschen erschossen wurden.
Je weiter wir Richtung Marktplatz kamen, desto dichter wurden die Menschenmassen. Wir spürten, dass sich da ein Konflikt mit der Volkspolizei und der Stasi zusammenbraute. Am Hallmarkt stellten wir uns in einen Hauseingang und beobachteten, wie die Volkspolizei die Straßen absperrte. Am Nachmittag wurde über Lautsprecher der Ausnahmezustand über die ganze Stadt verhängt. Später, vielleicht gegen 17 Uhr, sahen wir russische Panzer anrollen, sie fuhren vom Obermarkt zum Hallmarkt runter und richteten ihre Kanonen auf die Demonstranten. Der sowjetische Stadtkommandant rief das Kriegsrecht aus.
Es muss etwa 18 Uhr gewesen sein, als die Großkundgebung begann. Für den nächsten Tag wurde zum Generalstreik aufgerufen, die Kernforderungen waren: freie Wahlen, Senkung der HO-Preise, der Rücktritt der Regierung. Dann wurde das Deutschlandlied gesungen – für die Freiheit, für Demokratie und ein vereinigtes Deutschland.
Die Demonstranten wurden per Lautsprecher aufgefordert, den Marktplatz zu räumen. Als sie der Forderung nicht nachkamen, rückte die Volkspolizei mit aller Härte gegen die Demonstranten vor. Diese warfen in ihrer Wut Flaschen und Steine auf die Panzer. Das Schlimmste für uns war, zu sehen, wie die Leute willkürlich zusammengeschlagen wurden. Das kann man nie wieder vergessen. Am nächsten Tag haben wir erfahren, dass es acht Tote und Hunderte Verletzte gegeben hat. Und es gab etliche Verhaftungen und Prozesse an den Folgetagen.
Auf dem Rückweg hatten wir Glück, dass wir Kinder an allen Absperrungen durchgelassen wurden. Am Gefängnis haben uns russische Soldaten auf ihre Panzer gesetzt und Fotos von uns gemacht, aber sie waren nett. Wenn ich heute darüber rede, läuft es mir immer noch kalt den Rücken herunter.
Peter Hippe (81)
Diplom-Ingenieur im Ruhestand, Düren