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Europa auf der Suche nach einer Lösung

Forum - Europa auf der Suche nach einer Lösung
Zukunft Europa? Flüchtlinge, die es auf die griechische Insel Lesbos schaffen, landen in einem der überfüllten Aufnahmelager. © Zuma Press/Eyevine

Es gibt große Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020. Ein aktueller Vorschlag sieht vor, Flüchtlinge künftig „relativ gleich“ zu verteilen.

Harald Dörig01.04.2020

Rund 70 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, weil sie in ihrem Heimatland Bürgerkrieg, Verfolgung oder bittere Armut erleiden. Andere machen sich auf den Weg nach Europa oder Nordamerika, weil sie sich davon wirtschaftlich eine bessere Zukunft versprechen. Die USA bauen eine Mauer zu Mexiko, um den Zustrom zu begrenzen. Europa kann und will seine Mittelmeerküste nicht mit einem Grenzwall versehen. Es gehört jedoch zur Souveränität der Staaten Europas, ihre Außengrenzen zu verteidigen. Darauf durfte sich die griechische Regierung im März 2020 berufen. Allerdings wird die Aufgabe, Grenzschutz zu gewährleisten, deutlich erleichtert, wenn auch die Türkei wieder ihren Beitrag zur Verhinderung illegaler Einreisen leistet. Das allein jedoch genügt nicht. Erforderlich ist ein europäisches Gesamtkonzept zur Bewältigung des Flüchtlingsproblems. Hier richten sich nun alle Augen auf die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen und die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 in der Erwartung, weitere Schritte zur verbesserten Kontrolle und zu fairen Aufnahmeverfahren auf den Weg zu bringen.

Die Lage auf den griechischen Inseln

Die Aufnahmelager auf den griechischen Ägäis-Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos quellen über. Dort halten sich 42.000 Flüchtlinge auf, obwohl die fünf Lager nur für die Aufnahme von 6300 Menschen vorgesehen sind. Die Lager sind Teil des sogenannten Hotspot-Konzepts der EU-Türkei-Erklärung. Diese rechtlich nicht verbindliche Absprache sieht vor, dass alle irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen („Hotspots“), in die Türkei zurückgebracht werden. Sie sollen, wenn sie Asyl beantragen, auf den griechischen Inseln ein reguläres Asylverfahren nach europäischen Standards durchlaufen. Wird jedoch festgestellt, dass die Türkei für sie ein sicherer Drittstaat ist, werden sie dorthin zurückgebracht. Die Einstufung der Türkei als sicherer Drittstaat für syrische Flüchtlinge erfolgte bisher durch die griechischen Gerichte im Einzelfall, demnächst könnte das generell gelten, sollte die griechische Regierung eine die Türkei umfassende Länderliste verabschieden.

Mit der erwartbaren Rückführung in die Türkei soll den nach Europa strebenden Flüchtlingen der Anreiz genommen werden, mihilfe teurer Schlepper auf die nahe gelegenen griechischen Inseln überzusetzen. Die Türkei erhält im Gegenzug von der EU finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge (zwei Tranchen von jeweils drei Milliarden Euro). Zudem darf sie für jeden zurückgeführten Syrer einen der dort verbliebenen Syrer in die EU überstellen. Die Türkei hat seit 2015 knapp vier Millionen Flüchtlinge – insbesondere aus Syrien – aufgenommen. Das liegt nur geringfügig unter der Zahl der Aufnahmen durch die Gesamtheit der EU-Staaten im gleichen Zeitraum. Ihre finanzielle Unterstützung ist daher gerechtfertigt. Sie ist das Land der nördlichen Erdhalbkugel, das die meisten Flüchtling aufgenommen hat, gefolgt von Deutschland mit 1,7 Millionen.

Gut gedacht, schlecht gemacht

Die Umsetzung des Hotspot-Konzepts auf den Ägäis-Inseln scheiterte bisher an der Unfähigkeit der griechischen Administration. Zwar wurden die dortigen Asylbehörden vom European Asylum Support Office (EASO) mit Sitz in Malta und durch Beamte aus anderen EU-Mitgliedsländern unterstützt. Dadurch gelang die Registrierung und Anhörung der Flüchtlinge. Auch wurden Entscheidungen gefällt. Es genügten aber eine Klage am Verwaltungsgericht, prozessrechtliche Winkelzüge oder ein Folgeantrag, um die Überstellung abgelehnter Asylbewerber zu verhindern. Dadurch wurden die Lager voller und voller. Denn es kamen seit März 2016 mehr als 25.000 zusätzliche Flüchtlinge aus der Türkei auf die Inseln, aber nur 2000 wurden von dort wieder in die Türkei zurückgeführt. Die 2019 neu gewählte griechische Regierung geht das Problem nun an. Sie will bis Ende 2020 eine Zahl von 10.000 Migranten in die Türkei zurückschicken. Das soll ein neues Asylgesetz erleichtern, das am 1. Januar 2020 in Kraft trat. Es begrenzt den Rechtsschutz, indem es insbesondere das Stellen von Folgeanträgen nach erfolglosem Erstverfahren einschränkt. Mittlerweile werden etwa 30 Migranten pro Tag zurückgeschickt, teilte der stellvertretende griechische Regierungschef Adonis Georgiadis im Februar mit. Setzt sich das fort, könnten so viele Migranten zurückgeführt werden, wie 2019 neu auf die Inseln gekommen sind. Für den dort festsitzenden Kern von gut 30.000 Asylsuchenden muss aber eine Lösung gefunden werden, die auch eine Verteilung auf andere EU-Mitgliedsstaaten umfasst. Die im März 2020 zugesagte Aufnahme von 1600 minderjährigen Flüchtlingen kann insoweit nur ein erster Schritt sein.

Die aktuelle Lage in Europa

Die EU hat ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) geschaffen. Dieser Begriff steht so in ihren Verträgen und wird ausgestaltet in Richtlinien und Verordnungen, die einheitliche Kriterien der Flüchtlingsanerkennung und für das Asylverfahren festlegen. Teil dieses Systems ist die seit mehr als 15 Jahren geltende Dublin-Verordnung. Diese bestimmt, dass grundsätzlich der EU-Staat für die Aufnahme eines Asylsuchenden zuständig ist, in den er als Erstes seinen Fuß gesetzt hat. Das erlegt – nach den Buchstaben des Gesetzes – den Ländern an den Außengrenzen Europas die Hauptverantwortung für die Asylverfahren auf. Die Praxis ist aber eine andere, sonst wäre Deutschland nicht das mit Abstand größte Aufnahmeland. Im Verhältnis Schutzsuchende / Einwohner unterscheiden sich die Belastungen in den Mitgliedsstaaten teils um mehr als das 300-Fache.

Woran liegt das? Zwei Drittel der illegalen Grenzübertritte nach Europa werden nicht bemerkt. Meldet sich ein Asylsuchender erst in Deutschland, lässt sich nicht mehr ermitteln, ob er in Griechenland, Italien oder Ungarn den Boden der EU betreten hat. Hinzu kommt, dass Ausländer, die in Deutschland ihren Antrag stellen, nur in wenigen Fällen in Länder wie Griechenland, Italien und Ungarn zurückgeschickt werden dürfen. Das liegt daran, dass die Mängel der dortigen Asylsysteme oder die dortigen Aufnahmebedingungen so schlecht sind, dass eine Rückführung unzulässig ist. Eine von der EU-Kommission im April 2016 vorgeschlagene Lösung, die eine faire Verteilung der Flüchtlinge auch auf die Länder Osteuropas vorsieht, haben diese Länder beharrlich abgelehnt. Eine Reform halten aber die meisten EU-Staaten für dringend geboten.

EU-Kommission will neuen Migrations- und Asylpakt

In ihren Leitlinien für die Arbeit der Kommission in den Jahren 2019–2024 schlägt Ursula von der Leyen einen „neuen Migrations- und Asylpakt“ vor, in dessen Rahmen insbesondere die Dublin-Asylregelung neu aufgerollt werden soll. Die Belastungen unter den Mitgliedsstaaten sollen neu verteilt werden. Diese sehr allgemeinen Aussagen werden etwas näher in dem Arbeitsauftrag („Mission Letter“) erläutert, den die Präsidentin ihrer zuständigen Kommissarin, der schwedischen Sozialdemokratin Ylva Johansson, erteilt hat. Danach soll der neue Migrations- und Asylpakt bei den Asylregeln einen „Neustart“ hinlegen. Alle Mitgliedsstaaten sollen nennenswerte Beiträge leisten, um die am stärksten unter Druck stehenden Länder an den EU-Außengrenzen zu unterstützen. Zugleich sollen Lücken zwischen den Asyl- und den Rückführungsbestimmungen geschlossen werden. Die Kommission will einerseits ihrer Verantwortung gegenüber denjenigen gerecht werden, die vor Verfolgung oder Konflikten fliehen. Andererseits will sie sicherstellen, dass diejenigen zurückkehren, die nicht zum Bleiben berechtigt sind.

Der deutsche Plan einer Neuregelung

Mehr Substanz gegenüber den eher allge- mein gehaltenen Leitlinien enthält das von der Bundesregierung im Februar 2020 vorgelegte Konzeptpapier zur „Neuausrichtung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS). Der deutsche Plan einer Neuregelung sieht zunächst eine verpflichtende Vorprüfung von Asylanträgen vor. Dies soll sowohl für Asylanträge gelten, die an den EU-Außengrenzen gestellt werden, als auch für solche im Binnenbereich der Mitgliedsstaaten. Durch geeignete, notfalls freiheitseinschränkende Maßnahmen soll sichergestellt werden, dass sich die Antragsteller der Vorprüfung nicht entziehen. Nach einer lückenlosen Registrierung in dem dafür eingerichteten Eurodac-System soll geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf eine Anerkennung hat oder dies offensichtlich nicht der Fall ist, etwa weil er aus einem sicheren Herkunftsstaat stammt oder sich bereits in einem sicheren Drittstaat aufgehalten hat.

Findet die Vorprüfung in einem Hotspot an der EU-Außengrenze statt, soll bei Ablehnung des Antrags als offensichtlich unbegründet keine Einreise in die EU erfolgen. Der Ausländer wird dann vom Hotspot in seinen Herkunftsstaat zurückgeführt. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex unterstützt die Mitgliedsstaaten bei der Rückführung der abgelehnten Asylbewerber. Schon im Jahr 2019 hat Frontex 15.800 Ausländer in 80 Länder ausgeflogen. 

Das deutsche Konzept sieht weiter vor, dass bei positiver Vorprüfung die EU-Asylagentur den Mitgliedsstaat bestimmt, der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dieser entscheidet dann abschließend über die Schutzberechtigung. Oberster Grundsatz des neu zu schaffenden Zuständigkeitsregimes soll sein, dass die mit der Durchführung von Asylverfahren verbundenen Belastungen zwischen allen Mitgliedsstaaten „relativ gleich“ aufgeteilt werden. 

Diese relative Gleichheit lässt sich erreichen, indem man maßgeblich auf die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftskraft der Mitgliedsstaaten abstellt.

Ein einmal von der EU-Asylagentur als zuständig bestimmter Mitgliedsstaat soll dauerhaft zuständig bleiben. Bis auf ganz wenige Ausnahmen soll der Grundsatz gelten: einmal zuständig, immer zuständig. Parallele Asylverfahren in mehreren Mitgliedsstaaten wird es dann nicht mehr geben. Unterkünfte und Sozialleistungen werden ausschließlich im zuständigen EU-Mitgliedsstaat zur Verfügung gestellt.

Das Konzept sieht weiter vor, dass Rechtsschutz sowohl gegen die Antragsablehnung und Einreiseverweigerung gewährt wird als auch gegen die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats. Den Asylsuchenden soll Zugang zu rechtlicher Beratung und Vertretung gewährt werden.

Verteilung ins europäische Binnenland nur bei Bleibeperspektive

Der große Vorteil dieser Lösung wäre, dass nur solche Asylsuchenden von den EU-Außengrenzen ins europäische Binnenland verteilt würden, die auch eine Bleibeperspektive haben. Mit Recht wird heute bemängelt, dass man Menschen nach mehrjährigem Aufenthalt in Deutschland und nach Beginn der sprachlichen, beruflichen und persönlichen Integration wieder aus ihrem neu geschaffenen Umfeld herausreißt und in ihre Herkunftsländer abschiebt. Auch für diejenigen, die in Deutschland (und nicht an der EU-Außengrenze) ihren Asylantrag stellen, würde das Verfahren der Vorselektion der Anträge nach den Erfolgsaussichten gelten. Die Weiterwanderung von Flüchtlingen von einem Mitgliedsstaat in einen anderen (häufig nach Deutschland) würde erschwert, weil der einmal von der EU-Asylagentur bestimmte Mitgliedsstaat dauerhaft für den betreffenden Ausländer zuständig bleibt.

Schließlich müssten auch die Staaten Osteuropas nach diesem Konzept – anders als heute – einen angemessenen Beitrag zum gemeinsamen europäischen Asylsystem leisten. Mit Spannung wird nun darauf gewartet, in welcher Form die EU-Kommission die deutschen Vorschläge in ihrem für das Frühjahr 2020 angekündigten Migrations- und Asylpakt aufgreift. Auch die zeitweilige Öffnung der türkischen Grenze im März 2020 hat gezeigt, wie dringlich ein europäisches Gesamtkonzept zur Bewältigung des Flüchtlingsproblems ist.

Harald Dörig

Prof. Dr. Harald Dörig, RC Erfurt, ist Vizepräsident der Europäischen Asylrichtervereinigung. Von 2000 bis 2018 war er Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Er ist außerdem Herausgeber vom „Handbuch Migrations- und Integrationsrecht“ (Beck, 2018).

doerig.de