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Titelthema

Ewige Ambivalenz

Titelthema - Ewige Ambivalenz
Blick von Schloss Solitude auf die Stadt: Hier ist man fern vom Getümmel und den Enttäuschungen der Welt. © Dennis Orel und Benjamin Tafel

Auf Stuttgart muss man eingehen, sonst geht man ein. Seine Bewohner sind im Denken konservativ und im Machen fortschrittlich.

Mathias Richling01.11.2021

Wann immer ich gebeten werde, mich zu Stuttgart zu äußern, zucke ich zusammen. Ich lebe mein Leben lang in Stuttgart. Wie soll ich mich da geschwind mal darüber äußern? Über andere Städte, ja. Die sind gute Bekannte. Aber Stuttgart ist Familie. Ich rede nicht über meine Familie mit anderen. Höchstens so viel, wie ich über mich selbst verraten würde.

Wenn ich also nun etwas zu Stuttgart sage, dann ist es einseitig, nicht immer offen, und manchmal werde ich etwas vergessen – geflissentlich. Weil es niemanden etwas angeht. Ich werde nicht informativ sein, denn informativ heißt umfassend, und was soll ich Ihnen an Umfassendem zu Stuttgart auch sagen?


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Muss ich Ihnen wirklich erzählen, dass wir 1956 den ersten Fernsehturm der Welt hatten und ihn noch besitzen; soll ich Ihnen vom Talkessel berichten und davon, dass hier Schiller zur Schule ging und es nicht mehr ausgehalten hat? Soll ich vielleicht annehmen, Sie wüssten noch nichts von Stirlings Staatsgalerie und dem Stuttgarter Ballett? Muss ich das Lindenmuseum herbeten und die Zahnradbahn, den Tipp Schloss Solitude zum Fotografieren geben und von der Industrie fabeln? Oder vom Killesberg etwa? Oder soll ich Ihnen raten, im Leuze oder Bad Berg Ihren touristischen Eifer zu ersäufen?

Das alles wird ja angeboten unter dem Markenzeichen „Standort Stuttgart“. Die Formulierung ist klug gewählt, weil sie dual verstanden werden kann. Standort ist Stehenbleiben, nicht Linie, sondern Spot(t), den die Stadt hie und da erntet. Man kennt den Witz von dem Bedauernswerten, der sich einem neuen missgeschneiderten Anzug anpassen muss, indem er den Arm ein bisschen hochzieht, das Bein ein bisschen nachzieht, das Becken einzieht und den Rücken verzieht, und dem die Leute hinterhertuscheln: „So furchtbar verkrüppelt, aber einen tollen Schneider hat er.“

So geht es Stuttgart mit seinem Image: Wir passen uns dem Anzug an, wirken etwas verformt, aber es darf keiner merken, dass das Äußere oft nicht stimmt. Wir sind im Denken konservativ und im Machen fortschrittlich. Hier wird zunft- und zukunftweisend geschaffen. Hier ist der Nährboden für Hightech. 

Stuttgart soll offenbar nie fertig werden

Andererseits kennen viele Leute Stuttgart vor allem als Stau, angesagt im Verkehrsfunk. Was aber seinen Zweck im Bindecharakter hat, den die Stadt auf Vorbeifahrende ausüben will. Wer hierher fährt, der steht.

Die Stadt selbst ist eine einzige Verstopfung.
Stuttgart kann einem anmuten wie die eigene Westentasche: Wie oft stülpt man sie um, um herauszufinden, was alles drin vergessen worden ist und was sich alles darin angesammelt hat?

Stuttgart ist Baustelle.
Unter manchem Haus fließt zwar noch ein Stück Nesenbach, aber es gibt dauernd städteplanerische Fieberanfälle, die wie Malaria heftig wiederkehren.

Stuttgart ist stetige Erneuerung.
Weil der Stuttgarter es immer schöner haben will. Der Wunsch ist hier die Mutter des Elefanten der Porzellankiste. Das verzweifelte Bemühen, alles schön zu haben, wirkt wie ein Bumerang: Ist die Hohenheimer Straße geebnet, können die Häuser an ihr entlang nicht ungleich sein, und sind die Hausfassaden saniert, fällt auf, dass die Hohenheimer Straße zu eben ist, und sie wird wieder aufgerissen.

Dazu kommt, dass der Stadtkern und seine Ausleger seit Jahren umgegraben werden für einen Bahnhof „Stuttgart 21“. Gegen den Menschen immer noch demonstrieren. Weil sie ihn nicht wollten.

Ein Bahnhof, der unter die Erde gelegt werden soll, damit – das ist die offizielle Begründung – Stuttgart oberirdisch innerstädtisch weiterwachsen könne. Denn Stuttgart liegt in einem Talkessel, sodass es in die geografische Breite nicht viel weiterwachsen kann. Und da sagten die Stuttgarter bald, das wollen sie nicht. Der Bahnhof soll oben weiterwachsen dürfen. Stuttgart gehört unter die Erde. Stuttgart 21 wurde praktisch zum Dschihad im eigenen Land. Zum Glaubensbekenntnis. Das durch nackte Tatsachen dem Prinzip des Glaubens zunehmend widersprach.

Und diese Tatsachen sind beispielsweise nicht berücksichtigte Signalanlagen in den Tunneln, sind über einen Meter kleinere Radien der Tunnel, als es die EU-Norm vorsieht, sind Bahnsteiggefälle, die sechsmal so stark sind wie erlaubt, was auf eine Bahnsteiglänge der Höhe von zwei Stockwerken eines Hauses entspricht. Um Kinderwagen oder Rollstühle daran zu hindern, auf die Gleise abzurutschen, müssen diese nach innen gesenkt und eingeriffelt werden. Man kann sich den Lärm vorstellen, den Gepäck macht, wenn es darübergezogen wird. Diese Tatsachen sind ferner Wasserpumpen, die das Grundwasser abpumpen müssen, solange dieses Stuttgart existiert. Und wenn dies noch ein paar Tausend Jahre dauert.

Von großen Ereignissen findet man ja immer wieder Massengräber. Wir erleichtern wenigstens in Stuttgart künftigen Archäologen und Altertumsforschern die Arbeit. Hier führen durch ganz Deutschland von Paris und Bratislava aus Schienen direkt zu dem Arnulf-Klett-Platz, wo wir unser Geld begraben und unsere Vernunft beerdigt haben.

Jeder Bürger im Land weiß, dass Stuttgart durch heftige Mineralquellen auf Wasser gebaut ist und dass da alles hochkommen kann. Aber genauso wie Armin Laschet und Olaf Scholz bei der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 den Menschen ruhige Worte geschenkt haben, stehen sicher auch bei einer Überschwemmung in Stuttgart Regierungsverantwortliche bereit, um tatkräftig vor Ort zuzuschauen.

Also wir sehen, Stuttgart wird nie fertig. Und es soll offenbar nie fertig werden.

Stuttgart ist Dualismus. Wein und Wasser gleichermaßen. Wir haben Weinberge und Mineralquellen.

Wir sollen bedächtig sein und bekommen einen Bahnhof für vermeintlich schnellere Verbindungen in die Welt und wir haben die schnellsten Autos gebaut: um schneller zur Ruhe zu kommen. Selbst der Ruhezustand ist bei uns schnell. Stuttgart eignet sich, um ein Lebenswerk zu vollrichten. Es lenkt nicht ab!

Auf Stuttgart muss man entweder eingehen, oder man geht ein. Manchmal kommt einem Stuttgart vor wie das verschüttete Pompeji. Das Werdende, das sich nicht mehr zu Ende bringen kann. Die Unruhe im Stillstehen und in der Bewegung. Stuttgart hört nie auf, darauf zu horchen, was Stuttgart ist.

Aber was ist Stuttgart? Als ich einer Amerikanerin chinesischer Herkunft erzählte, ich werde etwas über Stuttgart schreiben, fragte sie interessiert:

„Stuttgart, was ist das: Stuttgart?“
„Tja“, reizte es mich, „was soll ich sagen, es ist relativ groß.“
„Ein Objekt?“
„Na ja.“
„Ein Urfund?“
„Ja, ein Urfund, nun ja. Eigentlich ist es doch mehr ein Objekt, eine Architektur, wo viele Platz haben. Ich wundere mich, dass Sie noch nichts gehört haben davon!“, sagte ich.
„Ja, wissen Sie, ich arbeite ja im Immobilienwesen!“
„Na, bitte!“
„Ja, aber ich verkaufe nur private Immobilien! Stuttgart ist sicher mehr kommerzielles Gebäude!?“
„Das wird es sein!“, gab ich ihr nach.
„Eben“, sagte sie, „deswegen weiß ich nichts davon.“