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Ewige Faszination

Titelthema - Ewige Faszination
The power of the dog – 2021 – Jane Campions Western verhandelt ein neues Männerbild in Gestalt zweier ungleicher Brüder: einer weich, einer hart. © imago images/picturelux, adobe stock

Kaum ein anderes Genre kann schöner die Frage beantworten, wie wir in unserer Gesellschaft leben wollen.

Maria Wiesner01.03.2023

Drei Männer stehen sich in gleißendem Sonnenlicht gegenüber. Die Kamera fängt sie von der Hüfte aufwärts ein, nimmt die Colts in ihren Gürteln in den Fokus, zielt dann in Detailaufnahme auf ihre Augen, zeigt die Blicke, die sich die Duellanten zuwerfen. Sie erzählen von Rache, Mut und kühlem Verstand. Selbst ohne zu wissen, dass es sich hierbei um das Schlussduell aus Sergio Leones Zwei glorreiche Halunken handelt, weiß das Publikum bereits durch diese wenigen Bilder den Film als Western einzuordnen, weshalb sie sich auch in dem unlängst im Kino gezeigten Superheldenfilm Black Adam als Referenzpunkt wiederfinden. Unser Held, sagt der Film damit, ordnet sich ein in eine lange Tradition wortkarger Kämpfer, die sich einsam der Welt gegenübersehen.

Das Westerngenre fasziniert bis heute Filmemacher, ja wird gerade in den vergangenen Jahren neu entdeckt und in unterschiedlichste Richtungen erweitert. Doch was genau macht es so attraktiv für Künstler und Publikum? Um das zu erklären, muss der Blick zurück auf die Anfänge wandern: Die klassischen Western spielen an der sogenannten „Frontier“, der sich immer weiter nach Westen verschiebenden Besiedlungsgrenze, an der Einwanderer in Amerika der Natur und den Eingeborenen Land abzutrotzen suchten. Die Handlung ist damit in eine Zeit verlegt, in der Zivilisation noch fragil, Gesetze noch nicht gefestigt und Moral seltener war als ein Goldfund. Das Grundmotiv beschäftigte sich mit dem Herstellen von Zivilisation, dem Erschaffen der Gesellschaft.

Ab den späten 1950er Jahren änderte sich das. „In der Zeit des Kalten Krieges war der Western ein strenges Moral-Genre, über Ehre, Gerechtigkeit und Pflicht“, analysiert der britische Filmhistoriker David Thomson. Gut und Böse waren klar definiert, doch der Ton ging vom Cowboyabenteuer weg, hin zum Drama um den einsamen Helden, der nicht mehr in die Zeit passt. John Fords Der Schwarze Falke (1956) ist ein Paradebeispiel: John Wayne spielt in diesem zeitlich kurz nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelten Film einen Rächer, den das Schicksal hart gemacht hat und der weiß, dass er in der neuen, zivilisierten Welt, die nach den Besiedlungskämpfen kommen muss, keinen Platz finden kann.

Plötzlich konnte es schwule Cowboys geben

War damit das Westerngenre auserzählt? Keineswegs. Filmemacher von Amerika über Europa bis nach Australien (gerade auf diesem Kontinent lassen sich aufgrund ähnlicher Landschafts- und Besiedlungsbedingungen einige Filme – wie Red Hill oder The Nightingale – finden, die das Genre auf einheimisches Territorium überführen) begannen, die Genre-Schranken abzutragen. Der Italiener Sergio Leone machte aus seinen „Spaghetti“-Western mithilfe der Musik Ennio Morricones Opern und inszenierte die einsamen Revolverhelden wie Figuren einer antiken Tragödie. Bud Spencer und Terence Hill holten Komödienelemente hinzu und nutzten die klassischen Kulissen des Saloons, der Ranch und des Planwagens für akrobatische Schlägereien. Und in Young Guns verkleidete Hollywood seine wilden Jungdarsteller, von Kiefer Sutherland über Tom Cruise bis Charlie Sheen, als Cowboys auf Rachefeldzug, um die Legende des Revolverhelden Billy the Kid neu aufleben zu lassen – zeitgenössisch angepasst reitet man hier zu E-Gitarren-Musik durch die Prärie.

Schlugen die Western damit neue Erzähltöne an, drehten sich die Themen aber noch immer um die Kämpfe einsamer Helden für Gerechtigkeit. Seit der Jahrtausendwende aber änderte sich der Inhalt des Genres. Filmemacherinnen finden Geschichten, die bislang nicht in den Fokus genommen wurden, und stellen fest, dass Themen rund um Sexualität, Herkunft, Gleichberechtigung sich vor dem Hintergrund der Besiedlung Nordamerikas noch einmal mit anderer Drastik darstellen lassen. Die neuseeländische Regisseurin Jane Campion wiederholt den Dreh aus John Fords Der Schwarze Falke und siedelt ihr Drama The Power of the Dog (2021) an der Schwelle des 20. Jahrhunderts an, einem weiteren gesellschaftlichen Umbruch, als die in der ersten Zivilisationswelle etablierten Farmer und Pferdezüchter der Moderne mit Automobilen und Elektrizität weichen mussten. In Campions Western treten Fortschritt und Tradition, altes und neues Männerbild in Gestalt zweier ungleicher Brüder gegeneinander an, einer weich und nachgiebig, gespielt von Jesse Plemons, einer hart im Kampf gegen die Natur und gegen sich selbst, gespielt von Benedict Cumberbatch. Und weil Campion nicht nur das alte Thema Mensch gegen Natur interessiert, dreht sie die Schraube noch ein Stück weiter und lässt Cumberbatch mit seinem homosexuellen Begehren ringen und fügt so dem Typ des einsamen Cowboys eine neue Facette hinzu.

Historisches Genre, aktueller Anspruch

Doch nicht nur Homosexualität wurde ein neues Thema des Western, auch die Besetzung änderte sich, Hauptrollen waren nicht mehr exklusiv weißen Darstellern vorbehalten. Quentin Tarantino besetzte in Django Unchained (2012) Jamie Foxx als befreiten Sklaven, der erst auf der Suche nach seiner Frau und später auf Rachefeldzug so manche blutigen Schießereien hinter sich bringen muss. Und zuletzt zeigte Westernregisseur Walter Hill mit Dead for a Dollar, wie man Gleichberechtigung und Diversitätsansprüche elegant in die Handlung dieses Genres integrieren und dennoch von Virilität erzählen kann. Er habe einen Film machen wollen, „der nicht wie in Bernstein konserviert wirkt wie die Western der 1950er oder 1930er Jahre“, sagte Hill auf dem Filmfest von Venedig 2022. „Ich dachte, die Geschichte muss eine moderne Relevanz haben.“ Dass dies in einem historischen Genre kein Widerspruch sein muss, zeigt der Film: Christoph Waltz soll als Kopfgeldjäger die Frau eines reichen Unternehmers zurückbringen, muss aber feststellen, dass sie nicht von einem schwarzen Armeedeserteur entführt wurde, wie ihr Mann behauptet. Vielmehr findet er ein Liebespaar, auf der Flucht vor dem gewalttätigen Ehemann. Was genau macht einen Mann aus, fragt Hill und zeigt, dass die Antwort in Mut und Standhaftigkeit zu suchen ist und nichts mit der Dominanz angeblich Schwächerer zu tun hat.

Dieses Genre ist vielseitig, das macht es attraktiv. Ein weiterer Grund für den Westernboom der vergangenen Jahre mag auch sein, dass sich in unsicheren Zeiten vor sicherer historischer Kulisse gut verhandeln lässt, wie es um Moral und Zivilisation eigentlich steht. Der Blick zurück in die Geschichte gibt immer auch Aufschluss über die Gegenwart. Und kaum ein Genre kann schöner die Frage beantworten: Wie wollen wir in einer Gesellschaft leben?

Maria Wiesner
Maria Wiesner hat als Reporterin Südosteuropa bereist. Seit 2016 ist sie bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angestellt. Ihre Sachbücher sind unter anderem im Harper Collins Verlag erschienen.

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