Titelthema
Ewige Liebe
Der Verlag Klaus Wagenbach hat das Italienbild der Deutschen geprägt. Verlegerin Susanne Schüssler über die Stärken und Schwächen eines zutiefst gespaltenen Landes.
Italien war immer die große Sehnsucht von uns Deutschen. Jetzt scheint es zur enttäuschten Liebe zu werden. Was hat sich verändert?
Vielleicht hängt die Enttäuschung mit einer falschen Sehnsucht zusammen: dem Wunsch nach Leichtigkeit und „dolce far niente“ bei gleichzeitiger Erwartung straffer Organisation und Ordnung. Und wenn etwas nicht nach den eigenen Vorstellungen funktioniert, schmeckt selbst der Wein nicht mehr. Interessant ist, dass Goethe während seiner „Italienischen Reise“ im chaotischen, fremden Neapel, das seine „deutsche Sinnesart“ besonders reizt, von sich denkt: „Entweder du warst sonst toll oder du bist es jetzt.“ Das mag uns vielleicht helfen, die Enttäuschung an unseren Projektionen zu messen.
Wie geht es Ihnen eigentlich selbst mit Ihrem Verhältnis zu diesem Land? Immer noch die alte Neugier, die Zuneigung von einst?
Mit zehn fing ich an, Latein zu lernen, das war meine erste „Fremdsprache“. Nach einem halben Jahr schleppten mich meine Eltern nach Rom, stundenlang liefen wir durch das Forum Romanum, das damals noch nicht eingezäunt war. Lange wollte ich Archäologin werden. Meine Liebe zum Land fing also mit Kunst und Geschichte an – ähnlich wie bei Klaus Wagenbach, der bereits Anfang der Fünfzigerjahre bis Paestum mit dem Fahrrad fuhr: als Student der Kunstgeschichte und vor allem auf den Spuren der Renaissance. In dieser Zeit entstand sein großer Verlegertraum, eine Neuedition von Giorgio Vasaris „Lebensläufen berühmter Künstler“ zu publizieren. Daran hat er festgehalten, und in den elf Jahren zwischen 2004 und 2015 wurde die 45-bändige Ausgabe realisiert, auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, ein Muss für den Kunsthistoriker ebenso wie eine Bereicherung für jeden Italienreisenden: Vasari war nicht nur der „Vater der Kunstgeschichte“, sondern auch ein ausgebuffter Erzähler von amüsanten Geschichten über die Großen, von Raffael bis Michelangelo.
Schaut man auf die politische Situation, könnte einen leicht Verzweiflung anfallen. Aber beim Blick auf die Geschichte Italiens, stellt man zweierlei fest. Einerseits die Parallelen zu Deutschland: Beide Länder sind – anders etwa als Frankreich – geprägt von vielen größeren und kleinen, unabhängigen Staaten beziehungsweise Regionen. Erst spät entsteht eine Nation, föderale Strukturen und regionale Unterschiede bleiben erhalten. Das andere ist, dass Italiens politische Entwicklung immer wieder Modellcharakter zu haben scheint: Der Faschismus beginnt dort bereits in den frühen 20er Jahren, ab 1994 gelingt es Berlusconi, ein patriarchalisches, auf einen starken, autokratischen „Leader“ zugeschnittenes System zu installieren, das sich vor allem auf Medienmacht stützt und die Demokratie unterspült. Nicht zu vergessen die Populismen der Lega und der Cinque Stelle, verbunden mit rassistischen Gedanken und dem Wunsch nach Abschottung. Nach Italien schauen, ist also auch in die Zukunft schauen. Die Zuversicht bleibt: zweieinhalbtausend Jahre wechselvolle Geschichte haben die Italiener zu einem der liebenswertesten Völker gemacht.
Die Bücher Ihres Verlags waren über Jahrzehnte das große Fenster nach Italien und in das italienische Geistesleben. Was hat Klaus Wagenbach damals so an diesem Land fasziniert? Warum Italien und nicht Frankreich oder Schweden oder die USA?
Klaus Wagenbach war schon auf seinen ersten Reisen fasziniert von der Alltagskultur, der politischen Diskussionskultur, vom Stellenwert der Kunst und Literatur – und eben vor dem Hintergrund einer historischen Ausgangssituation mit vielen Parallelen zu Deutschland. Die amerikanischen Befreier hatten die wunderbare Musik und die Demokratie mitgebracht, aber dann kam Vietnam. Frankreich, das war durchaus eine Option. Nicht nur wegen der Zeit auf dem Französischen Gymnasium. Die gotischen Kathedralen lockten den radelnden Kunststudenten, der noch durch das mittlerweile verbrannte Gebälk von Notre-Dame klettern durfte. Die Leidenschaft galt aber Italien.
Wenn ich nach einem Stichwort suche für Klaus Wagenbachs Zuneigung zu Italien, dann fällt mir schnell Pasolini ein. Ist das so? War Pasolini eine auslösende Begegnung?
An Pasolini lässt sich gut zeigen, was Klaus Wagenbach fasziniert hat. Die „Freibeuterschriften“, auf Deutsch 1979 erschienen, sind Texte, die ein linker, schwuler Filmemacher in den großen italienischen Tageszeitungen auf den ersten Seiten veröffentlicht hat. Man stelle sich Rainer Werner Fassbinder in den 70er Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor. Und dann die Themen: Antikonsumismus, Zweifel am Fortschrittsglauben, Zerstörung der Natur. Der Erfolg war durchschlagend, zumal für einen Essayband, und das nicht nur für den Verlag, sondern für das Interesse an der italienischen Literatur und Kultur insgesamt. Er hat den deutschen Intellektuellen eine Tür nach Italien aufgestoßen. Was ist das für ein Land, wo ein Filmemacher an so prominenter Stelle über das Verschwinden der Glühwürmchen schreibt? Da hatten sich in Deutschland die „Grünen“ noch nicht mal zu Parteien geformt.
Durch Pasolini sind uns damals wieder alte Lebensformen und Vorstellungen von Authentizität oder Heimat zugänglich geworden, die in unserer westdeutschen Welt kaum mehr Platz hatten. Gibt es dieses alte (ich will nicht sagen: echte) Italien noch oder lebt nurmehr das Klischee weiter?
Glühwürmchen jedenfalls gibt es wieder. Mir scheint auch, dass in Italien die unfassbarsten Umweltsünden neben einem großen und sorgfältig behüteten Umgang mit Traditionen stehen. Damit meine ich nicht Tourismuskitsch. Diese riesige Kluft gibt es bei uns nicht.
Unsere Wirtschaftsexperten erklären Italien mittlerweile zu einem Patienten, der kaum noch zu retten sein wird. Verstehen Sie diesen Pessimismus? Wo ist eigentlich die eigene Kraft dieses Landes geblieben? Oder wollen wir sie nicht sehen?
Das Land ist tief gespalten, schon immer, das hat auch historische Gründe. Der Norden ist reich und hat ein enormes Potenzial, das ist wie Baden-Württemberg. Dort wird gearbeitet, ohne die bei uns üblichen sechs Wochen Ferien. Wie man diese Schere schließen kann? Solange es Reisebeschränkungen für den Tourismus geben wird, sehe ich jedenfalls weitere Probleme kommen.
Verstehen Sie im Gegenzug die wachsende Unlust Italiens gegenüber dem nördlichen Teil Europas mit seinen Wirtschaftsexperten und seiner mangelnden Empathie?
Von Europa wurde Italien jedenfalls hinsichtlich der Flüchtlinge fahrlässig behandelt. Das hat – zu Recht – zu Wut geführt. Man kann nicht die hehre europäische Idee beschwören und dann ein so großes und in Zukunft sicher weiter wachsendes Problem an die Außengrenzen delegieren. Seht mal zu, wie ihr damit zurechtkommt. Und dann auch noch kritisieren, wie die betroffenen Länder damit umgehen. Solche Probleme müssen gemeinsam gelöst werden, ich meine damit von allen, wirklich allen europäischen Ländern.
Wenn Sie mit italienischen Freunden reden, was sagen die über Deutschland, über Europa? Gibt es noch eine gemeinsame Hoffnung, gemeinsame Ziele, das Empfinden von Nähe und Zusammengehörigkeit?
Oft schwingt in Gesprächen ein Ton von Bewunderung mit über unsere perfekte Organisation und den effizienten Umgang mit Krisen. Wenn ich dann sage, dass ich bei der deutschen Bahn häufiger Verspätungen erlebe als bei
der italienischen, will es keiner glauben. Wir halten ja gern alle an unseren Bildern fest. Und Italiener lieben es, über ihre eigenen Zustände, zumindest aber über ihre Regierung zu schimpfen. Über Brüssel auch. Aber noch nie und von niemandem habe ich je gehört, man solle doch am besten diese EU verlassen.
Wir dürfen nun endlich wieder nach Italien reisen. Wohin zieht es Sie sofort? Was möchten Sie unbedingt noch einmal sehen?
Jetzt nach Italien zu fahren muss eine fast vergessene Sensation im Wortsinn sein, die Erfahrung des Italiens von früher. Wie schön wäre es jetzt, mich ins Auto zu setzen, bis Florenz durchzufahren und mich dann ziellos von Stadt zu Stadt Richtung Süden treiben zu lassen.
Und wenn man Sie zu Hause besuchen würde. Was aus Italien fände man dort neben Büchern und Wein?
Einen Blick in meinen Schuhschrank will ich lieber nicht gewähren, deshalb würde ich Sie mit in die Küche nehmen: Da steht Vinsanto-Essig von unserem Weinbauern neben selbst abgefülltem und verkorktem Olivenöl des Nachbarn, (der Ehrgeiz: die Weinflaschen werden nicht gekauft, sondern leer getrunken und gespült) und darüber im Regal getrocknete Kräuter aus dem Garten. Bei zu großer Sehnsucht wird ein Gläschen aufgemacht und geschnüffelt.
Das Gespräch führte Johann Michael Möller.
Susanne Schüssler und Klaus Wagenbach
Der Verlag, 1964 von Klaus Wagenbach gegründet, machte sich einen Namen mit anspruchsvoller italienischer Literatur, linker Theorie und kulturwissenschaftlichen Standardwerken. Wagenbach, der im Juli seinen 90. Geburtstag feiert, gilt als einer der wichtigsten Vermittler des italienischen Geisteslebens. Seit 2002 leitet seine Ehefrau Susanne Schüssler den Verlag.