https://rotary.de/gesellschaft/fluechten-oder-kaempfen-a-16277.html
Titelthema

Flüchten oder kämpfen

Titelthema - Flüchten oder kämpfen
Jung, hoch gebildet, arbeitslos: Studierende feiern ihre Abschlüsse auf der zentralen Piazza von Trento. © Fotoillustration: Svenja Kruse; Foto: Lorenza Photography / Alamy Stock Photo

Viele junge und gut gebildete Italiener fürchten um ihre Existenz. Über eine Generation, die aus Liebe zu ihrem Land sehr viel erträgt.

Giulia Caminito01.07.2020

Ich bin in einem schönen Land geboren, in einem Land, das reich an Traditionen, Landschaften, Ruinen, Stimmen, Kunst und Poesie ist. Einem Land mit einer großen Vergangenheit, das in seiner Gegenwart schwer zu entschlüsseln ist und dessen Zukunft man sich unmöglich vorstellen kann: Italien. Im Ausland bekannt für seine Küche, seine sehenswerten Städte, seine jahrhundertealte Kultur, aber auch für Kriminalität, Langsamkeit, Schlendrian, Ineffizienz.

Wie erleben wir Dreißigjährigen dieses Land, wie haben wir es erlebt, als wir zur Schule gingen, studierten und uns auf das Leben als Erwachsene vorbereiteten? Warum wollen so viele von uns lieber dieses Land verlassen und sich anderweitig umsehen?

Politiker, unfähig und korrupt

Der erste Grund ist meiner Meinung nach die Politik, eine Politik, die gescheitert, unklar, utilitaristisch, kleinlich ist, die, seit ich wähle, nie einen Moment der Transparenz erlebt hat und weder bei mir noch bei meinen Altersgenossen einen wirklichen Eindruck hinterlassen hat. Wir hatten nie unseren Barack Obama, sondern nur Damen und Herren mit zweifelhafter Kompetenz, die häufig unfähig und korrupt waren. Wir hatten Witzfiguren und lächerliche Persönlichkeiten, wir hatten und haben Rassisten und Neofaschisten, die sich reingewaschen haben. Wir hatten Leute, die mit der Mafia gemeinsame Sache machten, wir hatten Untersuchungen, Ermittlungen und Festnahmen unter Abgeordneten, wir hatten einen kabarettreifen Komiker als geheimen Anführer einer politischen Bewegung, die im Augenblick an der Regierung ist, dessen Anfangsslogan „Vaffanculo“, „Leck mich am Arsch“ lautete.

Der zweite ist die Wirtschaftskrise, die in Italien den Pakt zwischen Schulbildung und Eingliederung in das Arbeitsleben gebrochen hat. Meine Eltern gehörten der 68er-Bewegung in Italien an, sie konnten im Bibliotheksnetz von Rom Fuß fassen dank eines Gesetzes, das einer Vielzahl von Geisteswissenschaftlern die Beschäftigung im öffentlichen Dienst ermöglichte. Damals bedeutete ein Hochschulabschluss, Arbeit zu finden – und vor allem eine der erworbenen Qualifikation angemessene Arbeit –, die dann auch entsprechend der eigenen Kompetenz bezahlt wurde.

Heute ist das nicht mehr so; trotz Hochschulabschluss stehen die Chancen minimal, dass man eine Arbeit im studierten Fachgebiet findet. Für mich und viele war die Arbeitssuche die reinste Odyssee, die nie zu Ende ging. Meine Generation hat erst vor Kurzem die Krise in der Mitte der 2000er Jahre verdaut und wird jetzt von der langen Welle der Gesundheitskrise erfasst, die unsere bereits prekäre Wirtschaft mit Sicherheit ruinieren wird.

Diejenigen wie ich, die geblieben sind, überleben häufig nur dank der Unterstützung durch die Familien, die den neuen italienischen Welfare darstellen. Denn es sind die Familien, die Besitz, Renten, feste Arbeitsverträge und ein fixes Einkommen haben. Und was macht der, der keine Familie hinter sich hat? Er muss sich irgendwie durchschlagen, weggehen oder den Gedanken fallen lassen, im Kulturbereich zu arbeiten, der arm ist und vom Staat kaum unterstützt wird.

Die jungen Italiener wissen, dass sie, um sich eine Zukunft aufzubauen, auf sich allein gestellt sind; viele von ihnen haben eine selbstständige oder freiberufliche Tätigkeit für lächerliche Einkünfte angemeldet, viele haben mehrere Jobs gleichzeitig gehabt, andere wurden bei Unternehmen eingestellt und entlassen, als diese in Konkurs gingen, andere wiederum haben noch nie einen regulären Arbeitsvertrag gesehen, und die meisten denken, dass sie nie eine Rente bekommen werden. Niemandem von uns gelingt es, so weit nach vorne zu blicken, dass er sich ein Eigenheim mit Kindern und Enkelkindern und dem Geld aus der staatlichen Rente auf dem Konto vorstellen kann.

Für immer Berufseinsteiger

Alle diese Möglichkeiten, die unsere Eltern hatten, gibt es für uns nicht mehr.

Der dritte Grund ist die Folge der beiden anderen: Auch wenn man eine Arbeit findet, ist der Lohn oder das Gehalt niedrig, sie wird schlecht und ungerecht bezahlt, die berufliche Qualifikation eines jungen Menschen wird nie voll anerkannt. In Italien ist man immer jung, auch mit 40, man ist immer Berufseinsteiger, man muss immer in Schach gehalten werden mit einem Hungerlohn und keinerlei Absicherung.

Mittlerweile sind fast zehn Jahre vergangen, seit ich meinen Hochschulabschluss in Philosophie erworben habe, und seit fast zehn Jahren arbeite ich in der Buch- und Verlagsbranche; und dennoch ist es für mich als junge Frau trotz meiner vielen Erfahrungen, meines Engagements und meiner Kompetenz schwierig, volle Anerkennung als Fachkraft auf dem Gebiet zu bekommen, als Berufstätige mit einer Bildung, die eigentlich ausreichend sein sollte, um Zugang zu bestimmten Gehaltsstufen zu erlangen. Ich lebe hingegen immer im Vakuum meiner ewigen Jugend, so als ob mein Studium erst wenige Jahre zurückliegen  würde und ich immer bereit wäre, meine berufliche Laufbahn von vorne zu beginnen und unbezahlte Jobs anzunehmen.

In Italien genießt Schreiben keinen hohen Stellenwert, junge Autoren erhalten keinerlei Unterstützung vom Staat, es gibt keine Stipendien oder öffentlichen Residenzen, es gibt keine Subventionen für fremdsprachige Übersetzungen, es gibt keine Ausschreibungen, um ein Einkommen als Schriftsteller oder Schriftstellerin zu bekommen. Vielmehr wird Schreiben als kostenloser Dienst angesehen, etwa von Artikeln, Essays, Interviews. Von der gesamten Verlagsbranche, die bereits vor Covid-19 in Schwierigkeiten war, wird 2021 nur noch ein Scherbenhaufen übrig bleiben, und die Folgen werden die jungen Leute zu tragen haben, sowohl frische Hochschulabsolventen und -absolventinnen als auch solche wie ich, die bereits seit zehn Jahren darum kämpfen, unabhängig zu werden und von der Arbeit mit Büchern zu leben.

Dies gilt leider für viele Branchen; viele gehen deshalb zum Studieren ins Ausland oder lernen Fremdsprachen, um fortzugehen, weil ihre Kompetenzen anderswo respektiert werden, weil sie, wenn sie gut und viel arbeiten, mehr bezahlt bekommen, weil sie sich dort im Leben wohler fühlen. Sie können Pläne machen, sie können sich eine Perspektive aufbauen, ihren Platz auf der Welt finden.

All dies ist in Italien nicht unmöglich, aber in einigen Branchen deutlich schwieriger, vor allem in kreativen Branchen wie Verlagswesen, Fotografie, Literatur, Architektur, visueller Kunst, Grafik und vielen mehr. Wir Italiener haben das Gefühl, und das nicht zu Unrecht, dass es, wenn wir gut sind und uns engagieren, wenn wir konsequent sind und uns voll und ganz dem, was wir tun, verschreiben, im Ausland mehr Chancen gibt, dass unsere Bemühungen entsprechend honoriert werden.

Aufspringen und weitergehen

Warum also bleiben? Ich glaube, es hängt vom Leben eines jeden Einzelnen ab, von den Beziehungen zur Familie, von den Chancen, von unserer Lust, woandershin zu gehen. Wer bleibt, versucht sich zu vernetzen, produziert, organisiert, stützt sich. Vernetzung bedeutet, Studien, Kollektive, Kooperativen, Vereinigungen zusammenzuführen und Veranstaltungen, Treffen, Verlagsprojekte, Festivals zu organisieren und Geldmittel und Finanzierungen für unsere Ideen zu finden.

Es gibt etwas, das derjenige, der bleibt, weiterhin tun wird, nämlich unser Land gegen die kulturelle Verarmung, die Austrocknung von Perspektiven und eine Politik ohne Inhalte zu verteidigen.

Wer bleibt, muss verstehen, dass die Krisen nicht zu Ende sind und ein Virus genügt, um uns in die Knie zu zwingen, und dass wir kniend nach oben blicken und aus der Hocke, mit der verbliebenen restlichen Kraft, aufspringen und wieder gehen müssen. Ich glaube, das sind wir nicht nur uns schuldig, sondern auch denjenigen, die Italien zu einem Welterbe gemacht haben, denjenigen, die uns seine Schönheiten, seine Skurrilitäten, seine zarten und tragischen Widersprüche geschenkt haben. Für sie und für diejenigen, die nach uns kommen, lohnt es sich, nicht aufzugeben.


Buchtipp



Giulia Caminito

Ein Tag wird kommen

Wagenbach 2020, 272 Seiten,

23 Euro, erscheint im August

wagenbach.de

Giulia Caminito

Giulia Caminito wurde 1988 in Rom geboren, wo sie politische Philosophie studierte. Sie hat zwei mehrfach preisgekrönte Romane geschrieben und betreibt mit vier Kolleginnen eine Verlagsagentur.

agenziaclementine.com