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Leistung und Solidarität

Für eine solidarische Leistungsgesellschaft

Warum in der ungeordneten Welt der Gegenwart die innere Ordnung von der sozialen Sicherheit abhängt.

Dr. Erhard Eppler01.09.2016

Mein Nachdenken über die Partei, der ich seit sechzig Jahren angehöre, beginnt nicht bei der Frage, was sie wohl tun müsste, um bei der nächsten Wahl einigermaßen erträglich abzuschneiden. Es beginnt mit der Frage, was die Aufgabe einer seriösen Partei in den nächsten zwanzig Jahren sein müsste.

Als vor zwei Jahren unsere Medien an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnerten, wurde der entscheidende Unterschied zum 21. Jahrhundert kaum erwähnt: Vor hundert Jahren prallten starke, konsolidierte Staaten aufeinander, die sich einen Krieg zutrauen konnten. Heute gibt es den klassischen Krieg zwischen souveränen Staaten nicht mehr – keinen einzigen bei 200 Staaten –, sondern verheerende Gewaltausbrüche, die sich aus dem Zerfall von Staaten ergeben. Die Zahl der failing states und, schlimmer, der failed states, nimmt zu. Sie verlieren ihr Gewaltmonopol, es bilden sich Banden und Milizen, religiös und politisch motiviert oder nur kriminell, die sich um die Macht balgen und Hilfe von außen, auch von intakten Staaten erhalten.

1914 verstand sich der einigermaßen geordnete, notfalls kriegsfähige Staat von selbst, 2016 nicht. Die nächste Präsidentenwahl in den USA könnte zeigen, dass nicht einmal der mächtigste Staat der Erde von den Gefährdungen des Staates verschont bleibt. Dass ein Gewaltchaos, erzeugt durch zerfallende Staaten, so gefährlich werden kann wie ein klassischer Krieg, zeigt sich im Nahen Osten. Die Staaten Europas sind im Schnitt solider aufgestellt als die Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Aber nicht nur der Rechtspopulismus zeigt, dass Europa keine Insel der Seligen ist.

Staaten können aus unterschiedlichen Gründen zerfallen. In Afrika hat der Internationale Währungsfonds den jungen und ohnehin schwachen Staaten Schlankheitskuren verordnet, die sie nicht stärker, sondern schwindsüchtig machten. Dass in Europa seit geraumer Zeit die Polizeibudgets gekürzt wurden, während die privaten Sicherheitsdienste boomten, hat kaum jemanden beunruhigt.

Wachsende Kluft der Gesellschaft
Noch weniger erregt haben wir uns darüber, dass die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen immer tiefer wurde. Noch in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts verdiente das Vorstandsmitglied eines Konzerns fünfzehn- oder auch zwanzigmal mehr als ein Facharbeiter. Heute ist es oft mehr als das Zweihundertfache. Was an Wirtschaftswachstum geblieben ist sammelt sich inzwischen vor allem auf den Konten der reichsten zehnProzent an, mit der Tendenz, beim reichsten 1 Prozent zu landen.

Man mag sich darüber wundern, wie geduldig die Bürgerinnen und Bürger europäischer Staaten sich damit abfinden. Geschichtliche Erfahrung lehrt, dass irgendwann ein Punkt kommt, wo der Groll politisch wirksam wird. Wahrscheinlich dann, wenn die Wissenschaftler Recht bekommen, die in den alten Industrieländern das Ende des Wachstums kommen sehen. Dann kann man niemanden mehr mit der Ausrede trösten: Ihr kommt alle einmal dran, der Reichtum wird durchsichern (trickle down) zu den kleinen Leuten.

Dr. Erhard Eppler
Dr. Erhard Eppler war u.a. von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und von 1961 bis 1976 Mitglied des Deutschen Bundestags. Er ist Ehren­mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien „Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen“ (Propyläen 2015). www.erhard-eppler.de