Mein Nachdenken über die Partei, der ich seit sechzig Jahren angehöre, beginnt nicht bei der Frage, was sie wohl tun müsste, um bei der nächsten Wahl einigermaßen erträglich abzuschneiden. Es beginnt mit der Frage, was die Aufgabe einer seriösen Partei in den nächsten zwanzig Jahren sein müsste.
Als vor zwei Jahren unsere Medien an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnerten, wurde der entscheidende Unterschied zum 21. Jahrhundert kaum erwähnt: Vor hundert Jahren prallten starke, konsolidierte Staaten aufeinander, die sich einen Krieg zutrauen konnten. Heute gibt es den klassischen Krieg zwischen souveränen Staaten nicht mehr – keinen einzigen bei 200 Staaten –, sondern verheerende Gewaltausbrüche, die sich aus dem Zerfall von Staaten ergeben. Die Zahl der failing states und, schlimmer, der failed states, nimmt zu. Sie verlieren ihr Gewaltmonopol, es bilden sich Banden und Milizen, religiös und politisch motiviert oder nur kriminell, die sich um die Macht balgen und Hilfe von außen, auch von intakten Staaten erhalten.
1914 verstand sich der einigermaßen geordnete, notfalls kriegsfähige Staat von selbst, 2016 nicht. Die nächste Präsidentenwahl in den USA könnte zeigen, dass nicht einmal der mächtigste Staat der Erde von den Gefährdungen des Staates verschont bleibt. Dass ein Gewaltchaos, erzeugt durch zerfallende Staaten, so gefährlich werden kann wie ein klassischer Krieg, zeigt sich im Nahen Osten. Die Staaten Europas sind im Schnitt solider aufgestellt als die Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Aber nicht nur der Rechtspopulismus zeigt, dass Europa keine Insel der Seligen ist.
Staaten können aus unterschiedlichen Gründen zerfallen. In Afrika hat der Internationale Währungsfonds den jungen und ohnehin schwachen Staaten Schlankheitskuren verordnet, die sie nicht stärker, sondern schwindsüchtig machten. Dass in Europa seit geraumer Zeit die Polizeibudgets gekürzt wurden, während die privaten Sicherheitsdienste boomten, hat kaum jemanden beunruhigt.
Wachsende Kluft der Gesellschaft
Noch weniger erregt haben wir uns darüber, dass die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen immer tiefer wurde. Noch in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts verdiente das Vorstandsmitglied eines Konzerns fünfzehn- oder auch zwanzigmal mehr als ein Facharbeiter. Heute ist es oft mehr als das Zweihundertfache. Was an Wirtschaftswachstum geblieben ist sammelt sich inzwischen vor allem auf den Konten der reichsten zehnProzent an, mit der Tendenz, beim reichsten 1 Prozent zu landen.
Man mag sich darüber wundern, wie geduldig die Bürgerinnen und Bürger europäischer Staaten sich damit abfinden. Geschichtliche Erfahrung lehrt, dass irgendwann ein Punkt kommt, wo der Groll politisch wirksam wird. Wahrscheinlich dann, wenn die Wissenschaftler Recht bekommen, die in den alten Industrieländern das Ende des Wachstums kommen sehen. Dann kann man niemanden mehr mit der Ausrede trösten: Ihr kommt alle einmal dran, der Reichtum wird durchsichern (trickle down) zu den kleinen Leuten.
Kurz: Wo die staatliche Ordnung sich weltweit nicht mehr von selbst versteht, wo Staaten zerbröseln, hängt die innere Sicherheit von der sozialen Sicherheit ab. Und die lässt sich nur noch aufrechterhalten, wenn die Kluft zwischen arm und reich sich nicht, wie im Zeitalter des Marktradikalismus, vertieft, sondern den politischen Willen erzeugt, damit Schluss zu machen. Wahrscheinlich wird schon die Diskussion über das Rentenniveau im Jahr 2035 zu dem Ergebnis führen, dass es ohne Steuerhilfen nicht geht, und dann werden die Spitzensätze der Einkommensteuer wieder steigen müssen, vielleicht bis zu dem, was noch unter Kohl üblich war.
Was hat all dies mit der SPD zu tun? Ganz einfach: Für das, was da auf uns zukommt, braucht es Parteien, die verwurzelt sind in dem Teil der Gesellschaft, der sich zu Recht Sorgen macht; Parteien, die in einer langen Geschichte politisches Augenmaß erworben und bewiesen haben, dass sie für die Demokratie einstehen.
Was man der SPD heute oft vorwirft, ist nicht mehr, wie 1965, dass sie nicht regieren könne. Auch in der Regierung Merkel können sich die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister sehen lassen. Nein, die Sozialdemokraten erscheinen eher etwas langweilig, ihre Sprache ist vielleicht noch ein bisschen abstrakter als die der anderen. Stars, die es mit großen Unterhaltern aufnehmen können, sind selten. So leiden die Sozialdemokraten am meisten unter dem miserablen Ruf „der Politiker“. Vielleicht ist die SPD wirklich die politischste unserer Parteien. Aber wo die Politik und ihre Akteure so wenig gelten wie heute in Deutschland, ist dies kein Vorteil. Was Deutschland braucht, ist eine Aufwertung des politischen Geschäfts, auch der politischen Diskussion. Wenn es um Diskussionskultur geht, kann es die SPD mit allen aufnehmen.
Vorrang für das Gemeinwohl
Die Frage, was die Partei denn nun tun wolle, um bessere Umfragen zu erreichen, ist bereits eine abwertende. Sie unterstellt, dass die Partei nur tätig wird, um Wahlen zu gewinnen. Was für das Allgemeinwohl hilfreich, vielleicht auch dringend nötig ist, kommt da gar nicht vor. Die Partei ist nur für sich selbst da. Daher bin ich dieser deklassierten Frage auch nicht nachgegangen. Für jemanden, der sechzig Jahre lang Politik gemacht hat, lautet sie: Was sind die wichtigsten Aufgaben der Zukunft, und ist meine Partei dafür gerüstet?
Eine gute Partei ist immer beim Lernen. Die lernende SPD ist heute noch nicht ausreichend für das gerüstet, was ihr möglicherweise bevorsteht. Es war die marktradikale Welle, die von den USA und Großbritannien ausging, sich über den Erdball verbreitete und auch die sozialdemokratischen Parteien nicht unberührt ließ. Sie hat in Europa zu einem Rechtsruck geführt, der inzwischen Parteien am Rande des demokratischen Spektrums ermöglichte. Die Bankenkrise 2008/2009 hat alle Thesen der Marktradikalen widerlegt.
Dann ist es gelungen, eine Folge der Bankenkrise zum Thema zu machen: die überbordende Staatsverschuldung. So kam es zu dem seltsamen „Nicht-Tod“ des Marktradikalismus (Colin Crouch). Jetzt ist es Aufgabe der Sozialdemokraten, dem marktradikalen Gesellschaftsentwurf einen eigenen entgegenzusetzen. Er könnte die Überschrift haben: eine solidarische Leistungsgesellschaft anstelle der marktradikalen Erfolgsgesellschaft. Er könnte auch für Menschen attraktiv sein, die noch nie SPD gewählt haben, die aber im 21. Jahrhundert angekommen sind.