SPD - Partei des „kleinen Mannes“?
Hat die SPD den Kontakt zur Basis verloren?
Über das Ringen der SPD mit dem gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart
Fragen wie diese Überschrift, oder auch, ob die SPD noch die Partei des „kleinen Mannes“ sei, enthalten eine Unterstellung. Der Gefragte wird in eine Abwehrhaltung gedrängt und soll sich irgendwie rechtfertigen. Doch für eine sachdienliche Antwort reicht der Blick auf einen kurzen Zeitabschnitt nicht aus. Nötig ist die Gesamtbetrachtung mit zunächst ganz einfachen Feststellungen: Ohne politische Parteien funktioniert die moderne Demokratie nicht. Deswegen hat ihnen unser Grundgesetz eine besondere Stellung zugewiesen, wonach sie an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Wer also meint, es ginge auch ohne Parteien, ist objektiv ein Gegner der Demokratie.
Konjunktur der Parteien
Die Frage, welche Parteien für unser gesellschaftliches Zusammenleben und die Ausgestaltung der Demokratie erforderlich sind, entscheiden weniger diese selbst als vielmehr die gesellschaftlichen Entwicklungen, Strömungen oder auch Notlagen, aus denen sie hervorgegangen sind. Weil es kurz- und langfristige gesellschaftliche Vorgänge gibt, die unterschiedlich viele Menschen bewegen, gibt es große und kleine, langlebige und kurzlebige Parteien. Unter den vielen neuen der vergangenen Jahrzehnte haben sich allerdings bisher nur „Die Grünen“ langfristig halten können.
Dauerhaft von Bedeutung sind zwei große Strömungen in unserer Gesellschaft: Die eine will das Bestehende bewahren, einschließlich der damit verbundenen Rechte und Besitzstände, die andere will als Erbin der Aufklärung die Gesellschaft bewegen, um mehr und mehr Menschen an ihren Möglichkeiten teilhaben zu lassen. Auf ersterer beruht die CDU, die aus der Zusammenführung der sogenannten bürgerlichen Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg hervor ging, auf letzterer die SPD, die seit reichlich 150 Jahren darauf hinwirkt, die infolge der industriellen Revolution entstandenen großen Unterschiede in der Gesellschaft schrittweise zu vermindern. Ihre Grundwerte sind „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ als Dreiklang. Ohne Freiheit keine Demokratie, ohne Gerechtigkeit kein gesellschaftlicher Frieden, ohne Solidarität kein Ausgleich in der Gesellschaft. Doch wie erreicht man diese Ideale? Durch ständigen politischen Kampf! Hätte jemand unseren Altvorderen, einschließlich August Bebel, vorhergesagt, was es heute gibt: Acht-Stunden-Tag oder gar die 40-Stunden-Woche, Verbot der Kinderarbeit, Gleichstellung der Frauen, Kranken-, Renten-, Unfallversicherung, erträgliche Wohnverhältnisse, Urlaub für jeden, gleichberechtigtes Gegenüber von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sie hätten geantwortet: „Unser Ziel ist erreicht“.
Doch bereits um 1900 kamen Zweifel daran auf, ob ein „Endziel“ überhaupt jemals erreicht werden kann. Bald wurde zweierlei klar: Trotz aller gesellschaftlicher Veränderungen und Verbesserungen für die arbeitenden Massen der Bevölkerung haben wir noch immer keine solidarische und gerechte Gesellschaft. Und zweitens: Diesen Zustand werden wir nie erreichen! Dennoch darf das Ziel nicht aufgegeben werden, denn hier ist es so, wie der Philosoph Hans Jonas sagt: „Der Seefahrer kommt nicht bei dem Sternbild an, nach dem er navigiert, gleichwohl wäre seine Fahrt ohne diese Orientierung unmöglich“. Die Sozialdemokraten stehen daher hinter einem Wort von Willy Brandt: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer – besinnt Euch auf Eure Kraft, und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“.
Die Politik der Sozialdemokratie führte maßgeblich zu einem tiefgreifenden Wandel in der Gesellschaft, den auch die Konservativen weder rückgängig machen wollen noch können. Der Satz von der „Sozialdemokratisierung der CDU“ ist nicht ganz falsch. Das hat Rückwirkungen auf die SPD selbst, denn man wird nicht gewählt für Leistungen in der Vergangenheit – dafür gibt es höchstens Sympathie und Anerkennung –, sondern für Hoffnungen auf die Zukunft. Damit fallen viele Unterstützer weg, die zwar Nutznießer bisheriger SPD-Politik sind, aber nun auf der besseren Seite leben. Viele fragen ganz nüchtern: „Wozu brauche ich die SPD?“, doch immer weniger: „Werde ich von der SPD gebraucht, um für andere einzutreten?“.
Wandel von Gesellschaft und Partei
Zu den tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft gehört der Entsolidarisierungs-Prozess. Er hat eine naheliegende und eine sehr tiefe Ursache. Ursprünglich war es auch auf engem Raum zwingend erforderlich, sich zu solidarisieren. Zunächst waren es die Schwachen miteinander: „Gemeinsam sind wir stark“. Dann kamen Starke hinzu, weil sie lieber in einer mit sich selbst befriedeten Gesellschaft leben wollen als inmitten von Armut und Kämpfen. Inzwischen ist so viel geregelt, dass selbst der Einzelne zu seinem Recht kommen und seinen Vorteil allein suchen kann. Die zweite, länderübergreifende langfristig wirkende Ursache ist folgende: Die Menschheit war über Jahrtausende erfolgreich als Notgemeinschaft. Die Not hielt die Menschen zusammen. Wenn sie jedoch durch Unterwerfung und Ausbeutung anderer Stämme oder Völker überwunden war, hielt dieses Band nicht mehr, und frühe Staaten und ganze Reiche wie das römische gingen unter.
Heute haben wir in der sogenannten westlichen Welt weitgehend die wirklich bittere Not, wie sie noch in anderen Teilen der Welt herrscht, überwunden. Der Zwang zur Solidarisierung wird geringer, und zwar mit allen Folgen bis hinunter zu modernen Verhaltensweisen. Shopping wird wichtiger als bürgerschaftliches Engagement und der Gang zur Wahlurne. Nicht nur die Parteien haben weniger Mitglieder, sondern auch Kirchen und Gewerkschaften. Ganz privat ist es ähnlich: Mehr Alleinlebende, weniger Eheschließungen, mehr Kleinfamilien. Ebenso sind im Zuge des Wandels von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft auch die klassischen Milieus weitgehend verschwunden und mit ihnen starke Gruppen der SPD-Wählerschaft.
Und weil sich die Gesellschaft, aus der die Parteien hervorgehen, verändert hat, wurde auch die Basis der SPD eine andere. Wie steht es beispielsweise mit dem „kleinen Mann“? Heute will kaum noch jemand ein „kleiner Mann“ sein. Und wie steht es mit der Basis innerhalb der Partei, zu der es einen engen Kontakt geben muss? Die weniger werdenden Mitglieder haben inzwischen mehr Mitwirkungsrechte. Es gibt Befragungen, Mitgliederentscheide, wechselseitige Online-Kontakte und vielfältige Bildungsmöglichkeiten. Doch auch hier ist der Wettbewerb mit den Medien voll entbrannt: Nicht nur Zeitungen, Funk und Fernsehen sind schnell, sondern noch vielseitiger ist das Internet und sind die (un)sozialen Netzwerke. Allerdings: Die persönliche Diskussion mit Gleichgesinnten ist durch nichts anderes zu ersetzen. Deswegen bewahren viele ihr Interesse am Ortsverein. Außerdem: Es ist immer noch reizvoll, sich als Enkel der Aufklärung zu verstehen.