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Titelthema: Abschied von der Weltpolitik

Für eine subsidiäre Weltbürgergesellschaft

Müssen Patriotismus und Kosmopolitismus zwingend Gegensätze sein? Anregungen für ein Bewusstsein, das beide Haltungen miteinander vereint

Otfried Höffe01.03.2017

Im Zuge der Globalisierung wird beinahe zur Regel, was zuvor eine seltene Ausnahme darstellte: Eine breite Mittel- und Oberschicht mutiert zu Weltbürgern. Sie arbeitet mit dem Internet und anderen IT-Hilfsmitteln, sie liebt die Küche fremder Länder, kauft deren Produkte, reist um die Welt, pflegt bei ihren Geschäften internationale Beziehungen, verkehrt scheinbar mühelos auf Englisch und gibt sich auch sonst weltgewandt. Die Globalisierungsverlierer hingegen, die tatsächlichen oder auch nur die angeblichen, schließen sich den Wortführern eines Anti-­Kosmopolitismus oder – auf großregionaler Ebene – der Anti-Europapolitik an.

Identifikationsprobleme
Nach mancherlei Diagnose soll für die Ge­genbewegung ein „entfesselter Wirtschaftsliberalismus“ verantwortlich sein. Plausibler ist die Diagnose „Identifikations­schwierigkeiten“, auch „Angst vor dem Verlust der nationalen Kultur“ (Le Pen), verbunden mit der Sorge, dass sowohl in den einzelnen europäischen Staaten als auch in der Europäischen Union sich ein erheblicher Kontroll- und Sicherheitsverlust breit macht. Die Wortführer der Gegenbe­wegung plädieren nämlich zum geringeren Teil für mehr Umverteilung und ein Mehr an sogenannter „sozialer Gerechtigkeit“. Die Trump-Wähler haben sogar ein höheres Durchschnittseinkommen als die Clinton-­Anhänger. Marine Le Pen in Frankreich und Geert Wilders in den Niederlanden, Jaroslaw Kaczynski in Polen, Viktor Orbán in Ungarn, die „Brexiteers“ und Donald Trump eint eher ein Nationalismus, der in seiner häufigen Verbindung mit Auslän­derfeindlichkeit einen legitimen Patriotis­mus zu Chauvinismus pervertiert.

Wirklichkeitsverzerrungen nimmt man dabei gern in Kauf. Polnische Politiker, die Europafeindlichkeit zelebrieren, unter­schlagen die enormen Summen, die sie von Brüssel erhalten. Bei ihrer Abneigung gegen Deutschland verdrängen sie die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der peku­niären Hilfe von genau diesem Nachbarland finanziert wird, und dasselbe Land im Rahmen der NATO hilft, Polen vor ­etwaigen Bedrohungen aus dem Osten zu schützen. Oder: Trump schmettert sein Mantra „America first“ in die Welt, obwohl er sich keineswegs für den ganzen Kontinent, sondern nur für den eigenen Teil interessiert. Noch bedrohlicher ist freilich, dass er seine im Wahlkampf angekündigten Rechts-, Bündnis- und Völkerrechtsverletzungen zu verwirklichen beginnt.

Spätestens hier sollten europäische Natio­nalisten aus langfristigem Selbst­interesse aufhören, sich Trump zum Vorbild zu nehmen. Denn weil Trump den derzeitigen, zwar nicht wirklichen, aber doch annähernden Weltfrieden aufs Spiel setzt, braucht es, wenn man schon lediglich das eigene Land liebt, einen aufgeklär­ten Nationalismus, der das nachhaltige Eigenwohl nicht einem kurzfristigen Ego­ismus opfert.

Stufen des Weltbürgertums
Die Gegenhaltung ist ohnehin klüger. Den Ehrentitel des Antichauvinisten schlechthin, den eines Weltbürgers oder Kosmopo­liten, darf beanspruchen, wer sein Bewusstsein und Verhalten nicht auf nationale Grenzen fixiert, wer sich räumlich oder nur geistig in der ganzen Welt bewegt und dabei – mehr oder weniger – sich überall zu Hause fühlt. Solange er freilich seine Sprache, Kultur und Sitten mitnimmt, sich allenfalls auf eine Weltsprache, früher das Lateinische, heute das Englische, einlässt, ist er lediglich jener Weltbürger erster Stufe, den wir aus Zeiten der britischen Empire kennen: Als ein Weltreisender, nicht selten sogar Kolonialherr streift er in der Ferne von seinen heimischen Bindungen nichts ab.

Zu einem anspruchsvolleren Weltbürger, einem Kosmopoliten zweiter Stufe, steigt er erst im Falle einer Weltoffenheit auf, die in freier Toleranz Fremdes als gleichwertig anerkennt. In einem noch stärkeren Sinn ist Weltbürger, wer in der Fremde seine eigene Kultur nicht verleugnet, sich aber trotzdem von der neuen Kul­tur inspirieren lässt und nach Rückkehr in die Heimat weder in seinem Denken noch seinem Verhalten die entsprechenden Einflüsse aufgibt. Selbst dieser veritable Weltbürger, ein Kosmopolit dritter Stu­fe, bleibt jedoch ein Weltbürger in einem vorpolitischen Sinn.

Der in Zeiten wachsender Globalisierung erforderliche Weltbürger hingegen, der im politischen Verständnis, empfindet sich als Glied eines Gemeinwesens, das die rechtsfähigen Wesen der ganzen Erde umfasst. Er fühlt und verhält sich als Bür­ger eines globalen Gemeinwesens. Dafür gibt es allerdings zwei grundverschiedene Gestalten, von denen die eine Gestalt für den wiedererwachten Nationalismus mitverantwortlich sein dürfte: das alle anderen Bürgeridentitäten ausschließende exklusive Weltbürgertum.

In der Regel mit dem Stolz moralischer Überlegenheit setzt sich ein exklusiver Welt­bürger gegen sein Gemeinwesen ab. Etwas, das selbst weltoffenen US-Bürgern oder Chinesen fremd ist – er empfindet sich nicht länger als Deutscher, Franzose oder Italiener, sondern lediglich als Bürger des gesamten Globus. Dieser exklusive Welt­bürger macht jedoch eine Voraussetzung, die in Wahrheit noch nicht erfüllt ist. Er unterstellt, es gäbe schon heute die doch noch zu schaffende Weltrechtsordnung, pointiert: eine Weltrepublik, die über­dies an die Stelle der Einzelstaaten getreten sein soll. Hier ersetzt ein Weltbürgerrecht das „nationale“ Bürgerrecht. Man ist Weltbürger statt Staatsbürger, wobei die Gefahr droht, die der heutigen Jetset-Elite nicht fremd ist: Man ist überall ein wenig, aber nirgendwo richtig zu Hause. Gerät man freilich in politisch ge­fährlicheren Gegenden in Gefangenschaft und wird nur gegen Lösegeld frei, dann appelliert man primär nicht an eine Weltorganisation, etwa die UNO, sondern erwartet die Hilfe selbstverständlich von seinem bislang diskreditierten National- bzw. Einzelstaat.

Dabei begeht der exklusive Weltbürger einen Widerspruch, der in der Philosophie pragmatisch heißt: Mit seinem tatsächlichen Verhalten widerspricht er den eigenen Behauptungen. Dagegen erhebt die zweite Gestalt des Weltbürgers Einspruch. Beim komplementären, noch wichtiger: subsidiä­ren Weltbürger tritt zum üblichen Staatsbürgersein das Weltbürgertum – auf unserem Kontinent zusätzlich ein Europabürgersein – als Hilfe und Ergänzung hinzu. Nun sind wir nicht nur Deutsche, sondern, sichtbar im entsprechenden Wahlrecht, auch Bürger einer Kommune und eines Bundeslandes. Infolgedessen ist unsere Bürgeridentität noch komplexer als es der Chauvinist und auch der exklusive Weltbürger annehmen.

Otfried Höffe
Otfried Höffe, RC München, ist em. Professor für Philosophie der Universität Tübingen, Leiter der dortigen Forschungsstelle Politische Philosophie sowie Professor für Praktische Philosophie an der Tsinghua-Universität in Peking.

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