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Titelthema

Feier der Selbstsucht

Titelthema - Feier der Selbstsucht
Jeder für sich? Honigbienen auf einer mit Pollen gefüllten Wabe © Ingo Arndt

Vor mehr als 300 Jahren plädierte Bernhard de Mandeville in seiner gesellschaftskritischen „Bienenfabel“ für ein aufgeklärtes Selbstinteresse. Was war seine Absicht und was sagt uns das Werk heute?

Otfried Höffe01.08.2024

Sozialphilosophen ist die Bienenfabel bekannter als es ihr Gegenstand, die Bienen, sind. Bei der Schrift Der unzufriedene Bienenstock: oder die ehrlich gewordenen Schurken, handelt es sich um ein satirisches Gedicht, das ein niederländischer Nervenarzt, Bernard de Mandeville (1670–1733), in England auf Englisch verfasst hat.

Der Autor, ein mutiger Freigeist, ist ein früher Vertreter der Aufklärung. Im Sinne dieser Glanzzeit des europäischen Geistes, ihres Leitinteresses, entlarvt er mit kompromissloser Schärfe Vorurteile und Illusionen, die damals in seinem Gastland vorherrschten. Es ist ein England, das unter der Stuart-Königin Anne wirtschaftlich aufblüht.

Die Satire erscheint vor mehr als drei Jahrhunderten, im Jahr 1705. Es ist ein Jahr vor dem Geburtsjahr des Höhepunktes und zugleich Wendepunktes der Aufklärung. Es ist die Zeit Immanuel Kants, der in diesem Jahr weltweit gefeiert und in seinem überragenden Denken allerorten erinnert wird. Mandeville nun erwartet für seine schonungslose Kritik eine nicht minder von Schonung freie, eine gnadenlose Ablehnung. Deshalb lässt er seinen Text anonym erscheinen. Dieses Vorgehen war damals weit verbreitet, denn die Autoren wollten der Zensur, gesellschaftlicher Ächtung und einer nicht selten drohenden politischen Verfolgung entgehen.

In der Tat wird Mandeville, nachdem seine Anonymität gelüftet werden konnte, vor allem von klerikalen Kreisen scharf angegriffen. Denn mit seiner Schrift mache er sich keiner geringeren Schuld als dem Untergraben der Grundlagen von Anstand und Sitte schuldig. Statt selbstsüchtige, also üblicherweise für böse gehaltene Handlungen zu tadeln, werden sie gelobt. Mehr noch: Die Menschen werden aufgefordert, die egoistischen Haltungen zu pflegen. Wahre Tugend bestehe nämlich nicht in der Unterdrückung von Leidenschaften, wie man traditionellerweise behauptet. Vielmehr solle man seinen Eigeninteressen, seiner Selbstsucht nachgeben. Wo erforderlich, solle man nicht nur sozial indifferent, im wörtlichen Sinn a-sozial, sondern sogar antisozial agieren, gewissermaßen zu einem Bösewicht werden.

Gegen den puritanischen Zeitgeist

Wie vom Autor vorhergesehen, wird er von den in Gesellschaft und Politik herrschenden Kreisen angefeindet. In den intellektuellen Zirkeln Europas hingegen steigt er über Nacht zu einer bewunderten, folglich gefeierten Berühmtheit auf. Zwei Gründe, ein theoretischer und ein praktischer, sogar moralischer Grund, sind dafür verantwortlich: Zum einen traut sich der Autor, den Menschen zu zeigen, wie der Mensch tatsächlich ist, nicht, wie er „frommerweise“ sein sollte. Mandeville, kann man sagen, beruft sich auf die sprichwörtliche „normative Kraft des Faktischen“. Allerdings verdrängt er dabei, dass auch Sympathie und Mitleid in der realen Welt weit verbreitete Einstellungen sind.

Zum anderen ist er mutig genug, mit diesem Wirklichkeitssinn die Feindschaft herrschender Kreise auf sich zu ziehen. Was an der Bienenfabel hat den geradezu unbändigen Zorn seiner Zeitgenossen verursacht? Die Satire greift nicht nur so allgemein die damals vertretenen, auch vielfach gelebten sittenstrengen Tugendvorstellungen an. Sie richtet sich vor allem gegen den puritanisch-calvinistischen Geist, den Mandeville fundamental und radikal verwirft. Diesem Geist zufolge beruhe der Wohlstand, insbesondere der wirtschaftliche Reichtum, auf der Sparsamkeit und Genügsamkeit der führenden Unternehmer. In Wahrheit, erklärt Mandeville schon im Untertitel seiner Bienenfabel, sind es die „privaten Laster“, die die „öffentlichen Vorteile“ hervorbringen.

Das Mandeville-Paradox

Nicht wer sich das Gemeinwohl zum Ziel nehme, diene dieser ehrenwerten Absicht. Vielmehr ist es derjenige, der nur seine eigenen Interessen verfolge. Nicht ein Altruismus, sondern sein „krasser“ Gegensatz, der Egoismus, die Eigenliebe und die Selbstsucht, bringen das Gemeinwohl zustande.

Wie kann das sein? Der einer Habgier, also in der Tat einem Laster, entspringende Luxus, bringe immer neue Bedürfnisse hervor, die wiederum Arbeitsplätze schaffen sowie dem Leben und gutem Leben neue Chancen bieten würden. Überdies, so kann man ergänzen, stellen diese neuen Bedürfnisse dem Staat jene wachsenden Steuerquellen bereit, ohne die er seine dem Gemeinwohl dienenden öffentlichen Aufgaben nicht finanzieren könnte, etwa die innere und äußere Rechtssicherheit, ein Gesundheitswesen, ein öffentliches Bildungswesen, Kultureinrichtungen und so weiter.

Den Kern der Bienenfabel bildet ein Paradox, das Mandeville-Paradox: Die moralisch verwerflichen Haltungen einzelner Mitglieder der Gesellschaft können für die gesamte Gesellschaft enorm nützlich sein. Bei Mandeville werden Recht, Staat und Politik nicht überflüssig. Sie verfolgen aber bescheidene Ziele. Sie sollen den Menschen nicht erziehen, sondern ihm das Recht auf seine eigenen Interessen lassen und damit mehr auf eine spontane Ordnung vertrauen.

Allerdings, muss man einschränken, hält Mandeville nicht alles ethisch beziehungsweise moralisch verwerfliche Tun und Lassen für sozial förderlich. Er plädiert zwar für Habgier mit ihrem Verlangen nach Luxus, lässt dafür aber, auch wenn er es so nicht ausspricht, nicht alle Mittel und Wege zu. Er spricht nicht dem Diebstahl und dem Raub das Wort, auch nicht dem Betrug, schon gar nicht Mord und Totschlag. Er verlangt lediglich, auf Altruismus zu verzichten und ein – mehr oder weniger – aufgeklärtes Selbstinteresse agieren zu lassen. Wo das nicht geschieht, kommt es zu dem, womit Mandeville in der Sache endet: Irgendwann findet ein Umdenken satt: Der Göttervater Jupiter greift ein, die bislang selbstsüchtigen, dabei aber mächtigen und wohlhabenden Bienen werden tugendhaft – und verarmen.

Eigennutz mit Gottes Segen?

Mandevilles moralischer Grundgedanke, das aufgeklärte Selbstinteresse, sollte übrigens den Vertretern der Kirche kein Ärgernis sein. Denn die für sie doch grundlegenden Zehn Gebote, der Dekalog, gebieten in der zweiten, nicht mehr genuin theologischen Tafel, als erstes, Vater und Mutter zu ehren. Dieses Gebot wird aber nicht mit einer wahren Elternliebe begründet, sondern aus Eigennutz: „auf daß es dir wohl ergehe“ beziehungsweise „auf daß du lange lebest“ … „auf Erden“.

Der literarischen Gattung gemäß, einer Satire, treibt Mandeville dieses – immerhin biblisch legitimierte – Selbstinteresse lediglich auf die Spitze. Damit erweist sich der Autor als ein PR-Genie. Nicht eine brave Predigt, sondern die bis heute von den Medien so geliebte Zuspitzung verschafft dem Verfasser, was doch jeder Autor letztlich will: eine möglichst überragende Aufmerksamkeit.

Otfried Höffe
Otfried Höffe, RC München, ist em. Professor für Philosophie der Universität Tübingen, Leiter der dortigen Forschungsstelle Politische Philosophie sowie Professor für Praktische Philosophie an der Tsinghua-Universität in Peking.

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