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Anmerkungen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik in und für Deutschland

Gefährliche Zurückhaltung

Erich Vad15.07.2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat in den letzten Monaten wiederholt mit Fug und Recht angemahnt, dass Deutschland in der Sicherheitspolitik eine aktivere Rolle spielen müsse. Die Reaktionen darauf waren überwiegend kritisch bis ablehnend. Der pazifistische Jargon entspricht der Verfasstheit weiter Teile der politischen, intellektuellen und medialen Klasse in Deutschland: Aus den historischen Hypotheken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs und dem daraus resultierenden Gebot außenpolitischer Zurückhaltung entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte seit 1945 eine zunehmende sicherheitspolitische Realitäts- und Weltabgewandtheit.

Im letzten Bundestagswahlkampf 2013 sowie bei den anschließenden Koalitionsverhandlungen spielten außen- und sicherheitspolitische Überlegungen lediglich eine marginale Rolle. Themen wie Mindestlohn, Arbeitsplatzsicherheit, Gleichstellung von Lebenspartnerschaften, Betreuungsgeld, Rente etc. erhitzten dagegen die Gemüter. Das Thema Verteidigung wird im außen- und sicherheitspolitischen Teil des Koalitionsvertrages erst nach der Afrika-, Lateinamerika- sowie der Kultur- und Bildungspolitik thematisiert. Und inhaltlich geht es dabei primär um eine attraktivere Bundeswehr, um Berechenbarkeit und Planungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Funktionalität, Präsenz in der Fläche, Familienfreundlichkeit und heimatnahe Verwendungen. Es ist nicht zu übersehen: Deutschland definiert sich vorrangig als pazifistische Zivil- und Wirtschaftsmacht.

Und das ist auch gut so, werden viele Zeitgenossen meinen. Sie verkennen jedoch, dass ein generelles „Appeasement“ und idealistisches Wunschdenken als Maximen sicherheitspolitischen Handelns mitunter geradezu zu den Entwicklungen führen können, die man eigentlich verhindern will. Die sicherheitspolitische Genese des Balkankonfliktes zu Beginn der neunziger Jahre etwa zeigt sehr deutlich, dass der Verzicht auf militärische Optionen im Rahmen eines politisch-diplomatischen Krisenmanagements als ultima ratio faktisch zum politischen Freibrief für diejenigen wurde, die Menschenrechte mit Füßen traten und ethnische Säuberungen, Massaker und Greueltaten durchführten. Die Situation für tausende unschuldige Menschen änderte sich damals bekanntlich erst, als NATO-Soldaten den Boden des Balkans betraten.

Verlust der Glaubwürdigkeit

Auch in der aktuellen Krim- und Ukraine-Krise war es eine fundamentale Schwächung der westlichen, europäischen Verhandlungsposition, dass man ostentativ und beruhigend von vornherein militärische Optionen wie etwa die Stationierung von NATO-Truppen in den osteuropäischen Mitgliedsländern ausschloss. Ein solches Verhalten ist jedoch ungefähr das Gleiche, als wenn man nachts in der U-Bahn einem bedrängten Fahrgast zu Hilfe eilen will und gleichzeitig den Randalierern zusichert, auf keinen Fall die Polizei zu rufen.

Auf der anderen Seite muss die Androhung militärischer Optionen auch glaubwürdig sein, um wirken zu können. Wer wie US-Präsident Obama in Syrien „roten Linien“ zieht, verliert jede Glaubwürdigkeit, wenn deren Überschreiten – in diesem Falle der Einsatz von Giftgas gegen die eigene Zivilbevölkerung – folgenlos bleibt. Warum soll der syrische Diktator Assad den Westen in Zukunft noch ernst nehmen, nachdem er die von Obama gesetzte „rote Linie“ folgenlos überschreiten konnte? Und welche Schlüsse werden wohl die übrigen Machthaber und Autokraten dieser Welt daraus ziehen?

Man kann sicherlich nachvollziehen, dass im Westen nach den Militäreinsätzen im Irak und Afghanistan niemand die Lust verspürte, in einen weiteren großen Militäreinsatz in Syrien zu gehen. Doch muss man auch sehen, dass wir für eine solche Appeasement-Politik in der Zukunft vielleicht einen viel höheren sicherheitspolitischen Preis zu entrichten haben. Auch Zurückhaltung kann Schuld auf sich laden. So wird man den gegenwärtigen Vormarsch der ISIS-Kämpfer im Irak wohl kaum mit den in Deutschland üblichen Appellen an die Vernunft der Konfliktparteien oder mit Entrüstungsbekundungen aufhalten können. Nur Streitkräfte werden diese Kämpfer stoppen oder zurückdrängen, entwaffnen und die Konfliktparteien trennen und zusammen mit der Polizei vor Ort die innere Ordnung wiederherstellen.

Zu einer verantwortlichen Sicherheitspolitik gehört auch, dass wir unsere Partner in der Welt im Gesamtspektrum unserer Möglichkeiten, von der Entwicklungshilfe und Good Governance bis hin zur Ausrüstungshilfe und zu Rüstungsexporten, unterstützen. Wir dürfen uns hier als globale Wirtschafts- und Finanzmacht nicht unserer internationalen Verantwortung entziehen. Es ist kaum nachvollziehbar, dass Pazifismus hierzulande so weit gehen kann, dass wir Länder, die in unserem Sinne politisch agieren oder agieren wollen, nicht mit den dazu erforderlichen Mitteln – z.B. mit Rüstungsgütern – in die Lage versetzen dürfen, ohne dass es die üblichen Aufschreie des Entsetzens gibt. Wenn wir Deutsche selbst nicht weltweit militärisch aktiv werden wollen oder sollen, dann müssen wir doch wenigstens denen helfen dürfen, die wichtig sind für unsere nationalen Sicherheitsinteressen an den Hot Spots dieser Welt.

Dazu kommt, dass die deutsche wehrtechnische Industrie mehr und mehr ins Ausland vertrieben wird, die Abhängigkeit von ausländischen Ausrüstungsgütern steigt, hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland zur Disposition stehen und der Verlust deutscher wehrtechnischer Kernfähigkeiten droht. Es wird höchste Zeit, dass sich Deutschland hier an den europäischen Standards orientiert.

Kein Einsatz ohne Konzept

Von großer Bedeutung – nicht nur in Deutschland – ist naturgemäß die Begründung militärischer Einsätze. Hier hat sich in den letzten Jahren die Tendenz gezeigt, immer dann nach Truppen zu rufen, wenn irgendwo auf der Welt Menschenrechte bedroht sind. Doch können und dürfen Militäreinsätze nicht ausschließlich humanitär legitimiert sein. Wir wüssten dann gar nicht mehr, wo, wie und wie lange und wie intensiv wir die Bundeswehr zur Befriedung weltweiter Konfliktregionen zum Einsatz bringen sollten. Die Erfahrung lehrt auch, dass gerade politisch eher pazifistisch gesonnene Politiker dazu neigen, vorschnell nach dem Einsatz von Streitkräften zu rufen, wenn humanitäre Notlagen ein schnelles Eingreifen erfordern. Der Einsatz militärischer Macht wird dann quasi aushilfsweise, konzeptionslos und als politische Ausflucht gedacht, wenn einem politisch nichts Anderes mehr einfällt.

Gleichwohl schließt dies nicht aus, dass man das Militär gern bei den ersten sogenannten Kollateralschäden an den politischen und medialen Pranger stellt, Untersuchungsausschüsse einrichtet und die militärisch Verantwortlichen ins politische und mediale Visier nimmt. Soldaten eignen sich hierzulande bestens dafür, weil sie Projektionsfläche vieler historisch bedingter und immer wieder stereotyp wiederholter Vorurteile geblieben sind. Ohne ein politisch-strategisches Gesamtkonzept, das Ausdruck unserer Werte und unserer Interessenlage ist, darf es keinen Einsatz von Streitkräften geben. Ein einfaches Mitmachen mit anderen Partnern – zum Beispiel mit Frankreich in Afrika –, ohne nach unserer strategischen Interessenlage zu fragen, sollte Ausnahme bleiben.

Rückhalt für die Streitkräfte

Für eine aktive Sicherheitspolitik, die nichts mit dem oft zu hörenden Schlagwort einer „Militarisierung von Außen- und Sicherheitspolitik“ zu tun hat, braucht man natürlich moderne, funktionierende Streitkräfte. Durch die Verkleinerung der Bundeswehr auf ca. 175.000 Mann – eine Reduzierung auf ein Drittel ihres ursprünglichen Umfangs nach Ende des Kalten Krieges – und durch zahlreiche Standort- und Kasernenschließungen ist die Bundeswehr mittlerweile aus zahlreichen Wahlkreisen unserer Bundestagsabgeordneten verschwunden. Entsprechend ist auch das Interesse von Politikern an Verteidigungsthemen gesunken.

Seit dem Wegfall der Wehrpflicht hat sich das Desinteresse an der Bundeswehr auch in der Bevölkerung verstärkt. Der von dem damaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg forcierte und medienwirksame Ausstieg aus der Wehrpflicht war sicherlich zu schnell vollzogen. Jetzt muss man alles daran setzen, junge Menschen davon zu überzeugen, Soldatinnen und Soldaten zu werden, bevor sie eine Kaserne von innen gesehen haben. Dazu muss die Bundeswehr in jedem Fall attraktiver werden.

Doch die wichtigsten Baustellen der deutschen Sicherheitspolitik liegen woanders. Die Bundeswehr steht weiterhin mit tausenden Soldatinnen und Soldaten im Einsatz auf derzeit drei Kontinenten. Während zu Hause debattiert wurde, ob der Afghanistan-Einsatz überhaupt Krieg sei, kämpften deutsche Soldaten bei Kunduz wie im Krieg und erlitten Verluste. Deutschland hatte Gefallene, und viele taten sich schwer dabei, das einzugestehen.

Was die künftigen Szenarien deutscher Streitkräfte sein werden, wissen wir nicht mit Sicherheit, aber die Welt scheint nicht gerade friedlicher zu werden. Wir sollten daher die Sicherheitspolitik, den Gedanken der Wehrhaftigkeit in unserem Land und unsere Bundeswehr nicht vernachlässigen. Gerade nach dem Afghanistan-Einsatz müssen wir uns eindringliche und klar zu beantwortende Frage stellen: Welche Verantwortung wollen wir wo und mit welchen Mitteln in der Welt übernehmen? Wo sind die Grenzen? Und in welchem Rahmen wollen wir vorrangig agieren – in der EU, den VN oder der NATO? Wo wollen wir was sicherheitspolitisch erreichen? Wie definieren wir unsere nationalen Interessen in der Sicherheitspolitik? Wo wollen wir nicht mitmachen, weil das unsere Leistungsfähigkeit übersteigen würde? Sind militärische Einsatzmittel wie z.B. Kampfdrohnen legitim? Und nicht zuletzt: Was ist unsere nationale Sicherheitsstrategie angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa und der Welt?

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Erich Vad
Dr. Erich Vad, RC München, ist Brigadegeneral a.D., war Gruppenleiter im Bundeskanzleramt in Berlin und langjähriger Militärpolitischer Berater der
Bundeskanzlerin. Er lebt heute in Grünwald, ist Unternehmensberater und Dozent an Universitäten im In- und Ausland.