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Gefahr aus der Luft

Titelthema - Gefahr aus der Luft
Wartung der Aufklärungsdrohne Heron 1 in Afghanistan: Die unbemannte Luftfahrt wird sich weiterentwickeln. © Jörg Gläscher

Das veränderte sicherheitspolitische Umfeld Europas erfordert einsatzbereite Luftstreitkräfte mehr denn je. Die Luftwaffe ist gut gerüstet.

Ingo Gerhartz01.04.2021

Unseren Fokus haben wir in den vergangenen Monaten primär auf die weitere Verbesserung unserer materiellen Einsatzbereitschaft gelegt. Gemeinsam mit der Industrie wurden richtige Schwerpunkte gesetzt, Maßnahmen identifiziert, umgesetzt und somit spürbare Erfolge erzielt. So konnten wir die Verfügbarkeit unserer Eurofighter von circa 40 Prozent im Jahr 2018 bis heute nahezu verdoppeln. Das ehrgeizige, ursprünglich angestrebte 70-Prozent-Ziel einsatzbereiter Eurofighter haben wir somit sogar überschritten.

Diese Erfolge sind wichtig, da die sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit einsatzbereite, reaktionsschnelle und moderne Streitkräfte erfordern. Konflikte können jederzeit kurzfristig und unvorhergesehen auftreten und schnelles Handeln über große Distanzen erforderlich machen. Auch Deutschland ist nicht unerreichbar für Bedrohungen aus der Luft oder dem Weltraum. Luftgestützte Waffen wie Marschflugkörper oder auch hypersonische Flugkörper, sind Bedrohungen, gegen die es sich zu schützen gilt. So sind hypersonische Flugkörper bereits heute real. Sie sind manövrierbar, bis zu 30.000 Kilometer pro Stunde schnell, fliegen mehr als 10.000 Kilometer weit und zwischen 20 und 60 Kilometer hoch – an der Grenze zum Weltraum.

Nur Minuten bis zum Einschlag

Ein Zukunftsszenario: Im Air- and Space Operations Center (ASOC) der Luftwaffe in Kalkar ertönt ein Alarm. Ein Satellit meldet den Abschuss eines hypersonischen Flugkörpers, der auch eine deutsche Großstadt treffen könnte – es bleiben nur wenige Minuten, um die Gefahr abzuwehren. Blitzschnell errechnet und verfolgt ein Lagebildcomputer die Flugrichtung und den möglichen Einschlagsort des Flugkörpers. Er nutzt dazu eine Vielzahl unterschiedlicher Sensoren, unter anderem die einer britischen Fregatte im Mittelmeer sowie eines stationären Landradars der polnischen Streitkräfte.

Anhand der ermittelten Daten wird dem zuständigen Einsatzoffizier im ASOC das Lagebild in Echtzeit übermittelt. Gleichzeitig wird der Inspekteur der Luftwaffe automatisch über ein Tablet bezüglich der Bedrohungslage informiert und mit dem ASOC über eine sichere Leitung verbunden. Die beschriebenen Mechanismen und Zusammenhänge sowie die  nun erforderlichen Entscheidungen und Reaktionen zur erfolgreichen Abwehr der Bedrohung, zeigen die Erfordernisse unser Reaktionsfähigkeit auf.

Hierzu haben wir die Modernisierung der Luftwaffe fest im Blick und stützen uns auf folgende drei Säulen. Erstens die konsequente Weiterentwicklung der Luftwaffe, zweitens das Ausschöpfen der Potenziale unbemannter Plattformen sowie drittens die Nutzung der Potenziale der Digitalisierung.

Neueste Technologie stellt für Luftstreitkräfte keinen Selbstzweck dar. Vielmehr ist sie notwendig, um zu bestehen. Qualität und Quantität müssen ausgerichtet an den zukünftigen Einsatzerfordernissen in ein sinnvolles Verhältnis gebracht werden. Dies gilt sowohl für die fliegenden, als auch die bodengebundenen Anteile der Luftstreitkräfte. Die für die Fähigkeiten der Luftwaffe geplanten Rüstungsvorhaben bieten hierzu einen ausgewogenen Mix aus der Entwicklung künftiger State-of-the-Art-Systeme sowie der Beschaffung marktverfügbarer Hochtechnologie.

Für den Ersatz der Tornado-Flotte wurde im April 2020 mit der Entscheidung für einen Mix aus Eurofighter und „F/A-18F Super Hornet“ und „EA-18G Growler“ Klarheit geschaffen. Insbesondere mit der einsatzerprobten Growler werden wir eine einzigartige Fähigkeit in Europa zum elektronischen Kampf bereitstellen können – dies ist auch ein deutliches Zeichen an die Nato. Die Fähigkeit zum elektronischen Kampf zeigt, dass nicht nur die Nutzung der Digitalisierung und Vernetzung erforderlich ist, um in Luftkriegsoperationen bestehen zu können, sondern dass es ebenso wichtig ist, einen potenziellen Gegner in diesem Bereich erfolgreich zu stören.

Nutzung unbemannter Plattformen

Gemeinsam mit Frankreich und Spanien entwickeln wir das „Next Generation Weapon System“, kurz NGWS. Dieses neue Kampfflugzeugsystem der 6. Generation ist weit mehr als ein Nachfolger des Eurofighters und der Rafale. Das neue Kampfflugzeug ist Herzstück des „Future Combat Air Systems“ (FCAS) – eines Verbundes von bemannten und unbemannten Luftfahrzeugen in einem System. Die Fähigkeit, sich in einem vernetzten System zu integrieren, aus diesem zu agieren und zu kommunizieren, wird die Luftwaffe der Zukunft prägen. Das „Bindegewebe“ für das Zusammenwirken des gesamten Verbundes bildet die sogenannte „Combat Cloud“. Sie wird maßgeblich für die Fähigkeiten des neuen europäischen Waffensystems im Future Combat Air System sein.

Innerhalb des Future Combat Air Systems werden unbemannte Plattformen fester Teil eines Gesamtansatzes sein, bei dem sie ihre spezifischen Vorteile arbeitsteilig in einen hochintegrierten Verbundeinbringen.

Doch die Nutzung unbemannter Plattformen ist bereits heute in der Luftwaffe selbstverständliche Realität. Bereits seit einem Jahrzehnt nutzen wir die „Heron 1“ als unbemanntes Luftfahrzeug zur Aufklärung. Aktuell leisten unsere Systeme einen wichtigen Beitrag in unseren Missionen in Mali und Afghanistan. Die Erfolgsgeschichte wird mit dem Nachfolgesystem „Heron TP“ als Brückenlösung bis zur Einführung der „Eurodrone“ fortgesetzt. Denn unbemannte Plattformen mit langer Verweildauer im Operationsgebiet und der Fähigkeit zur unmittelbaren Wirkung und somit zum Schutz der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten sind alternativlos und werden auch zukünftig einen hohen Stellenwert in jedem Einsatz der Bundeswehr haben.

Auch das Flugabwehrsystem „Mantis“ schützt bereits heute das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Mantis ist ein modulares Schutzsystem für den Nahbereich gegen Luftangriffe und ist in der Lage, Raketen, Artilleriegeschosse und Mörser abzuwehren, aber auch Flugziele wie Drohnen oder Cruise Missiles. Seit Anfang 2018 wird es in Mali als reines Frühwarnsystem („Sense and Warn“) ohne Geschütze eingesetzt. Zu jeder Zeit erkennt die Sensoreinheit automatisiert anfliegende Geschosse und löst einen Alarm aus, der dann über Lautsprecher im Camp ertönt.

Die Diskussion zur stärkeren Nutzung unbemannter Systeme führen wir vor dem Hintergrund realer Anforderungen und Gefahren im Einsatz. Für die Luftwaffe ist auch daher die konsequente Ausrichtung auf Zukunftstechnologien unverzichtbar, wobei stets gilt: Der Mensch bleibt der zentrale Entscheidungsträger.

Digitalisierung nutzen

Die digitale Vernetzung entscheidet in einem modernen Luftkrieg. Wenn unsere Soldatinnen und Soldaten des Flugabwehrsystems „Patriot“ beim Live Firing auf Kreta trainieren, müssen nicht alle Komponenten vor Ort sein. Im November vergangenen Jahres haben wir das Luftabwehrschießen zum ersten Mal im Reach-Back-Verfahren durchgeführt. Das Startgerät und das Radar zur Erfassung feindlicher Bedrohungen stand auf Kreta, während der Feuerknopf am Gefechtsstand in Husum in 2500 Kilometer Entfernung betätigt wurde.

Digitalisierung ist der Schlüssel für unseren Erfolg. Aus dieser Erkenntnis folgt die Pflicht, technologische Entwicklungen aktiv aufzugreifen und Personal mit entsprechendem Know-how in unserer Luftwaffe auszubilden und zu trainieren. Drei konkrete Beispiele:

Erstens: Im Oktober 2019 haben wir in Laage die Waffenschule der Luftwaffe gegründet. Zukünftig treiben wir hier das Verständnis von Luftoperationen auch im Sinne von „Joint All-Domain Operations“ (JADO) voran und entwickeln Luftoperationen im Zusammenspiel mit Heer, Marine, Cyber/Info und Space weiter.

Zweitens: Schnelles Handeln über große Distanzen ist fordernd. Mit jährlichen Übungen wie „Timber Express“, letztmalig im Juni 2020, trainieren wir die Vernetzung von Waffensystemen, den Datenaustausch und die Nutzung eines gemeinsamen Lagebilds. Auch Systeme internationaler Partnernationen, beispielsweise eine niederländische Fregatte, waren in Echtzeit angebunden.

Drittens: Wir treiben den „Simulationsverbund Luftwaffe“ voran. Dieses Projekt zielt auf die Vernetzung räumlich getrennter Simulatoren untereinander und in einer möglichen zukünftigen Variante auch mit real fliegenden Plattformen. Ziel ist nicht nur eine gemeinsame, effektivere Ausbildung des fliegenden Personals, sondern ebenso die immer komplexeren Anforderungen des modernen Luftkampfes und dimensionsübergreifende Luftoperationen zu trainieren.

Das veränderte sicherheitspolitische Umfeld Europas erfordert einsatzbereite Luftstreitkräfte mehr denn je. Das Erreichte gilt es jetzt nicht nur zu sichern, sondern weiter auszubauen. Mit der konsequenten Weiterentwicklung der Flotte durch einen Mix aus multinationalen Entwicklungslösungen und dem Kauf bewährter, marktverfügbarer Plattformen, dem Ausschöpfen der Potenziale unbemannter Systeme und der Nutzung der Potenziale der Digitalisierung stellen wir heute die Weichen, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen.

Ingo Gerhartz

Generalleutnant Ingo Gerhartz wurde im Mai 2018 zum Inspekteur der Luftwaffe ernannt. Zahlreiche ministerielle Verwendungen, ein achtmonatiger Einsatz in Afghanistan sowie über 2500 Flugstunden auf vier Flugzeugtypen kennzeichnen seinen dienstlichen Lebensweg.