Das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen im Nachkriegs- deutschland – eine schwierige Ankunftsgeschichte
» Geht doch da hin, wo ihr hergekommen seid! «
Gedanken zur Identität unserer Gesellschaft, die sich nicht nur in diesen Tagen auf dramatische Weise verändert, sondern auch in der Vergangenheit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterlag.
Wir können alles. Außer Hochdeutsch!“, lautet eine geniale, vielfach ausgezeichnete Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg. Großflächig annonciert, propagiert sich der Südweststaat selbstbewusst und lokalpatriotisch. „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ – das ist auch das Plädoyer für einen neuen Heimatbegriff. Im Zeitalter von Globalisierung und Krisen an den internationalen Finanzmärkten sehnen wir uns – so scheint es – nach dem Regionalen, dem Vertrauten. Daraus ergibt sich ebenfalls die Frage: Wann ist man angekommen? Wann gehört man dazu? Wann ist man Westfale, Rheinländer, Niedersachse, Holsteiner, Sachse oder Franke?
Fremde Landsleute
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als ein Fünftel der Deutschen Flüchtlinge und Vertriebene, in manchen Bundesländern gar jeder Zweite. Sie sprachen Egerländisch, Schlesisch oder Ostpreußisch. Sie kamen als fremde Deutsche in den Westen, nicht freiwillig, sondern als Flüchtlinge und Vertriebene. „Pollacken“, „Zigeuner“, „Rucksackdeutsche“, „Neigeschmeckte“ schimpfte man sie vielfach: Willkommen waren sie nicht.
Deutschland ist nach 1945 aus den Fugen geraten. Nichts war mehr wie früher. Der Aufbruch in ein anderes Land, in eine andere Landschaft ist zunächst einmal von Fremdheit bestimmt. Fremd zu sein ist ein Schicksal, das die Betroffenen oft nicht selbst bestimmen können. Fast immer werden sie aufgrund von Hunger, Krieg und Gewalt gezwungen, ihre vertraute Umgebung aufzugeben, in die Fremde aufzubrechen. Erzwungener Heimatverlust, etwa durch Flucht, Zwangsaussiedlung oder Vertreibung, bringt die Gewissheit vom geschützten Raum, vom Elternhaus, vom Dialekt der Kindheit, den Gerüchen der Küche, diese von frühester Kindheit geprägte Gewissheit von Zugehörigkeit durcheinander.
Die „Königsberger Straße“ oder die „Breslauer Straße“ in den Neubausiedlungen der 1950er und 1960er Jahre am Rande der historischen Ortskerne sind architektonischer Ausdruck dieser unfreiwilligen Ankunft. Zwar wurden sie vielfach als materialisierter Ausdruck gelungener Integration von Millionen Vertriebenen gewertet, doch führt ihre bloße Existenz deutlich vor Augen, wie schnell man im Europa des 20. Jahrhunderts selbst zum Vertriebenen werden konnte.
Zweifelhafte Erfolgsgeschichten und Integrationslegenden
Lange Zeit begnügte man sich in der Darstellung der Ankunft der Vertriebenen im verbliebenen Teil Deutschlands mit ebendiesen Erfolgsgeschichten, die die materiell messbare Integration unterstreichen sollten: Sie galt als gelungen, geglückt, erfolgreich. Doch Vertreibung, Heimatlust und unerwünschte Ankunft haben als millionenfache Erfahrung in der deutschen Gesellschaft tiefe mentale Spuren hinterlassen.
Gustav Seibt hat auf die anthropologische Dimension von Heimatverlust am deutschen Beispiel hingewiesen: „Diese Erfahrung haben im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach Millionen Deutsche gemacht. Es gibt wohl überhaupt nur wenige Familien in Deutschland, die nicht in irgendeiner Weise von ihr berührt worden wären. Und diese Erfahrung hat, jenseits von Kausalketten und Schuldzusammenhängen, eine anthropologische Dimension, die älteste Erinnerungsbilder der Menschheitsgeschichte heraufruft: Nie können Menschen wissen, wie fest sie wirklich in ihrem Boden wurzeln und wie sicher ihre Häuser sind“.
Nach Kriegsende zerfiel die deutsche Welt in Vertriebene und Einheimische: Die Anwesenheit der vertriebenen Menschen war die ungeliebte Mahnung an den gemeinsam verlorenen Krieg, den man am liebsten verdrängen und vergessen wollte. Hatte man wenige Jahre zuvor noch gemeinsam „Heil Hitler“ gebrüllt, versteckten sich Viele, die ihrer Heimat weiter sich sein konnten, nach Kriegsende allzu gern hinter ihren regionalen Identitäten. Jetzt war man nur noch Badener, Württemberger, Holsteiner oder Westfale. Damit löste man sich von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, ja man konnte sich auf Kosten der Vertriebenen entnazifizieren. Denn, so war oft zu hören, wer seine Heimat verloren hat, musste besonders schwere Schuld auf sich geladen haben. Das brachte der eigenen Verantwortung Entlastung.
Zweierlei Ausgangssituationen für den Neuanfang
Die Vertriebenen kamen in eine feindliche Welt einheimischer Besitzstände. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Deutschen irgendwie auf der Flucht vor dem, an was sie gestern noch geglaubt und euphorisch bejubelt hatten. Doch die häufig erwähnte „Stunde Null“ gab es nur bedingt. Denn einen totalen Zusammenbruch Deutschlands hat es nicht gegeben, vielmehr blieben gerade auf dem Land die sozialen Strukturen erhalten. In dieser Welt störten die Vertriebenen durch ihre pure Existenz. Auch Günter Grass erfährt, als er die Eltern wiedersieht, die kalte Hartherzigkeit derjenigen Deutschen, die alle materiellen Besitztümer unbeschadet durch den Krieg sichern konnten:
„Vor mir standen Vertriebene, als einzelne zwar, doch unter Millionen von nur statistischem Wert. Ich umarmte Überlebende, die, wie es hieß, mit dem Schrecken davon gekommen waren. Man existierte noch irgendwie, aber […]. Die zuständige Behörde hatte die Eltern und die Schwester bei einem Bauern eingewiesen. Dieser Zwang war üblich, denn freiwillig wurden Flüchtlinge und Vertriebene selten aufgenommen. Besonders dort, wo keine Schäden sichtbar waren, Haus, Stall und Scheune wie unbekümmert auf Erbrecht fußten, zudem keinem Bauernschädel ein Haar gekrümmt worden war, verweigerte man die Einsicht, den siegreich bejubelten Krieg gemeinsam mit den Geschädigten verloren zu haben. Nur weil von der Behörde gezwungen, hatte der Besitzer des Hofes meinen Eltern den zweigeteilten Raum mit Betonfußboden überlassen: eine ehemalige Futterküche für Schweinemast. Beschwerden halfen nichts. ‚Geht doch hin, wo ihr hergekommen seid!‘ hieß die Antwort des seiner Hektar sicheren Bauern, der so katholisch war wie jener, dem ich im Frühjahr des vergangenen Jahres davongelaufen war. Allerorts hatte man sich schon immer mißtrauisch bis feindselig gegenüber Fremden und – wie es hieß – Hergelaufenen verhalten; dabei sollte es bleiben.“
Viele Vertriebene sahen sich in einer mentalen Obdachlosigkeit. Wie oft wurde von der gelungenen materiellen Integration gesprochen, aber fast immer mit einem schlechten Gewissen im Unterton. Denn die materiellen Leistungen des Lastenausgleichs, die Flüchtlingssiedlungen an den Ortsrändern können über eines nicht hinwegtäuschen: Trauer, Schmerz und Verlusterfahrungen durch Flucht und Vertreibung hat man sich jahrzehntelang gesamtgesellschaftlich verschlossen.
Innere Emigration
Bis heute hört man viele ältere Vertriebene sagen: „Bei uns zuhause …“. Gemeint ist die alte Heimat im Riesengebirge, in Siebenbürgen oder im Böhmerwald. Peinlich berührt stehen Nichtbetroffene vor dem unbewältigten Schmerz, seit den 1970er Jahren hat man ihn gar karikiert, sich darüber lustig gemacht, ihnen Larmoyanz vorgeworfen. Man überließ die Vertriebenen mit ihren Traumatisierungen der privaten Bewältigung, ließ es häufig an Mitgefühl für das individuelle Leid fehlen. Doch der Verlust von Heimat ist für einen Menschen ähnlich traumatisch wie der Verlust eines geliebten Menschen. Viele von ihnen konnten den Heimatverlust nicht verkraften und zerbrachen regelrecht daran, seelisch und körperlich. Heimweh als Todesursache, davon erzählt Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster.
Christoph Hein, selbst ein Vertriebener aus Schlesien, schreibt in seinem Roman „Landnahme“: „Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören…“. Wer sich seiner Heimat stets sicher sein konnte, brauchte sich nie Fragen nach Identität und Verwurzelung zu stellen. Wer sie verloren hatte, musste sie sich ständig stellen. Viele Vertriebene empfanden ihren Aufenthalt viele Jahrzehnte nur als Geduldetsein, deshalb wählten viele die innere Emigration.
Die innere, die mentale Kluft zwischen Deutschen, die ihre Heimat verloren haben, und denen, die sie nicht verloren haben, existiert nach wie vor, obwohl äußerlich kein Unterschied mehr feststellbar ist. Denn die unzähligen Heimat-Erzählungen in den deutschen Wohnzimmern verlaufen nicht entlang politischer Linien, sondern, ob die Heimat der Familie im Böhmerwald, Riesengebirge oder Siebenbürgen war oder auf der Alb, in Oberschwaben, Westerwald, Lüneburger Heide oder Schwarzwald. Die Trauer um die verlorene Heimat, die Verletzungen durch die Ankunftserfahrungen – sie fanden hinter verschlossenen Türen statt, privatisiert in den Familien. Diese „Privatisierung des Leids“ wurde den Vertriebenen – so der Historiker Hans-Ulrich Wehler – jahrzehntelang von der Mehrheitsmeinung zugemutet.
Die deutsche Gesellschaft trägt viele Spuren dieser mentalen Obdachlosigkeit, geprägt von Vertreibung und Heimatverlust. Mit der Ankunft von bis zu 14 Millionen Vertriebenen erfolgte ein bislang einmaliges Zusammentreffen von Fremden und Einheimischen, ein cultural clash. Heute sind wieder Millionen Menschen auf der Flucht. Deshalb können wir gar nichts anders als bei den aktuellen Herausforderungen an historische deutsche Erfahrungen zu denken. Millionen Deutsche waren einst Heimatlose, sie haben dieses Land fundamental verändert. Die Bundesrepublik ist durch die Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem deutschen Osten zu einem anderen Land geworden.