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Gelebtes Miteinander? – Vielleicht eines Tages

Aktuell - Gelebtes Miteinander? – Vielleicht eines Tages
Noch nie seit 1945 war die Judenfeindlichkeit höher als jetzt, sagt Autor C. Bernd Sucher. © Adobe Stock Photo

"Nie wieder!", lautet der Slogan, der vor Antisemitismus und seinen Folgen warnt. In Wirklichkeit war die Judenfeindlichkeit in Deutschland seit 1945 nie höher als heute.

14.12.2023

Ja, es leben wieder Juden in Deutschland! Mit Stand 2021 registrierte der Zentralrat der Juden in Deutschland 91.839 Mitglieder in den deutschen jüdischen Gemeinden und Landesverbänden. Nicht mitgezählt sind jene Jüdinnen und Juden, die Mitglieder in den 27 Gemeinden der "Union progressiver Juden in Deutschland" sind, und jene, die zwar als Jüdinnen und Juden gelten – weil sie jüdische Mütter hatten oder haben –, aber keiner Gemeinde angehören. So kann nur geschätzt werden, dass in Deutschland ungefähr 225.000Personen leben, die als Jüdinnen und Juden gelten (können). Bei einer Gesamtbevölkerung von über 83 Millionen ist das eine verschwindend kleine Gruppe – nicht einmal ein Prozent. Und doch steht sie immer wieder im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit.

Wegen der Shoah. Wegen antisemitischer Ausschreitungen. Wegen der israelischen Politik. Wegen der Hamas und wegen der vielen Kriege in Israel und Palästina.

Wegen der vielen gut gemeinten Appelle, dass die Juden zu diesem Land gehörten. Wegen der nach dem 8. Oktober überall herausposaunten Apelle: "Nie wieder!", die bei einem großen Teil der bundesrepublikanischen Bevölkerung nicht ankommen, nie ankamen! Manche widersprechen gar!

Im Februar 2021 beschwor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das seit Jahrhunderten gelebte Miteinander von Juden und Nichtjuden in diesem Land: "Welch beeindruckende Zeitspanne! 1700 Jahre jüdisches Leben feiern wir überall in Deutschland in diesem Jahr, und es war mir eine Freude und ein ganz besonderes Anliegen, als Bundespräsident die Schirmherrschaft für dieses Festjahr zu übernehmen – ein Jahr, in dem wir uns überall in unserem Land auf die Spuren jüdischen Lebens, jüdischer Kultur begeben. Erstes offizielles Zeugnis jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands ist das Edikt des römischen Kaisers Konstantin im Jahr 321, das es Juden in Köln erlaubte, öffentliche Ämter zu bekleiden. Seither gehört das Judentum zu Deutschland, gehören Juden zu Deutschland – ich glaube, vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie tief das Judentum verwoben ist mit der Geschichte und Kultur unseres Landes, wie sehr es sie mitgeschrieben und mitgeprägt hat. Und ich hoffe und wünsche mir sehr, dass es in diesem Festjahr gelingt, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen! Ich bin zutiefst dankbar, dass nach dem Zivilisationsbruch der Shoah wieder jüdisches Leben in Deutschland möglich ist, dass es wieder aufblühen konnte und heute so vielfältig, jung und voller Schwung ist. Das ist ein unermessliches Glück für unser Land."

Diese Meinung, dass die Jüdinnen und Juden in Deutschland für das Land ein "unermessliches Glück" sind, teilen nicht alle Menschen, die in der Bundesrepublik leben.

Ich meine nicht nur jene Deutsche, die Anschläge planen und verüben, die Juden beschimpfen, weil sie diese an der Kippa erkennen, oder Synagogenmauern beschmieren. Ich meine den unaggressiven viel größeren Teil der Bevölkerung. Mehrheit. In einer Umfrage aus dem Jahr 2018 des Pew-Forschungsinstituts antworteten 19 Prozent der Teilnehmer auf die Frage, ob sie Menschen jüdischen Glaubens in ihrer Familie gutheißen würden, mit Nein. Zwölf Prozent gaben keine eindeutige Antwort. Und laut einer Studie aus dem Jahr 2019 des Jüdischen Weltkongresses, der Dachorganisation jüdischer Gemeinden und Organisationen aus mehr als 100 Ländern, hegen 27 Prozent aller Deutschen und 18 Prozent einer als "Elite"kategorisierten Bevölkerungsgruppe antisemitische Gedanken. 41 Prozent der Deutschen sind gar der Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust. Die Befragung mit 1300 Teilnehmern fand vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 statt. 28 Prozent der Hochschulabsolventen mit einem Jahreseinkommen von mindestens 100.000 Euro – das sind die Befragten, die als "Elite" bezeichnet werden – behaupten, Juden hätten "zu viel Macht in der Wirtschaft". 26 Prozent attestieren Juden "zu viel Macht in der Weltpolitik", sie trügen die Verantwortung für die meisten Kriege auf der Welt. Das sind die Stereotypen der Antisemiten. Dazu gehört auch, dass 22 Prozent der Befragten sicher sind, dass Juden wegen ihres Verhaltens gehasst würden.

Um dem entgegenzuwirken, wird von Politikerinnen, Historikern, Publizistinnen und  Vertretern der Kirchen immer wieder bekundet, was Deutsche den Juden während der Naziherrschaft angetan haben. Damit nicht genug. Zerstörte Synagogen wurden und werden wieder aufgebaut, neue Gotteshäuser wurden von den Juden mit der (finanziellen) Unterstützung von Nichtjuden errichtet, andere sind in Planung. Denkmäler wurden gebaut, ehemalige Konzentrationslager umgewidmet zu Begegnungsstätten. Jüdische Museen findet man inzwischen in allen großen Städten, in vielen kleinen und manchmal auch in Dörfern.

Ein nicht zu stoppender Philosemitismus machte sich breit. "Vor lauter 'Juden' im Kopf" könne, so der Historiker Per Leo, der Antisemitismus "die widersprüchliche Vielfalt realer Juden nicht sehen".

Der Begriff Erinnerungskultur prägt die Diskurse, wenn von der jüdischen Geschichte in diesem Land und von der Gegenwart der jüdischen Bevölkerung in der Bundesrepublik gesprochen wird. Man setzt auf Erinnerung; sie wird erhofft, zuweilen sogar eingefordert. Nirgendwo wird so nachdrücklich erinnert und gemahnt wie in Deutschland, auch wenn dies einigen immer noch zu wenig geschieht und es anderen mittlerweile zu viel wird. Die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt auf ihrer Webseite: "Verdrängen, vergessen, verschweigen – die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hat selbst eine Geschichte. Eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung setzte erst zögerlich ein, das Thema wurde zunächst weitgehend totgeschwiegen in der Bundesrepublik, während die DDR als 'per se antifaschistischer Staat' jede Verantwortung für die NS-Verbrechen ablehnte. In den vergangenen Jahrzehnten wandelte sich die Erinnerungskultur. Die Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit ableitet, ist mittlerweile Teil der deutschen 'Staatsräson'. Mit dem Untergang des SED-Regimes rückten auch neue Themen in den Fokus, beeinflusst durch die Rolle der Massenmedien. Wie steht es um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit und welche Rolle spielt die Vergangenheit in der Gegenwart?"

Kann man Erinnerung einfordern? Kann das Erinnern an die Judenmorde im sogenannten Dritten Reich verordnet werden? Gibt es ein Überangebot an Erinnerungsorten, Erinnerungsveranstaltungen? Und welche Konsequenzen könnte das Überangebot haben? Etwa aus Überdruss die Akzeptanz von Antisemitismus in jeglicher Form?

In seinem Buch "Tränen ohne Trauer – Nach der Erinnerungskultur" schreibt Per Leo: "Der Läuterungsstolz, mit dem manche den Gewinn der Erinnerungsweltmeisterschaft bejubeln, ist genauso unangemessen und einseitig wie die Behauptung, der kritische Umgang mit dem Nationalsozialismus sei ein Mythos, dessen Haltlosigkeit sich am derzeitigen 'Rechtsruck' und am Fortbestand völkisch-rassischer und antisemitischer Einstellung ablesen ließe."

Der Antisemitismus in Deutschland ist seit dem 8. Oktober so virulent wie in den vergangenen 50 Jahren nicht. Er ist überall präsent, vor allem – und das ist erschreckend – in Hochschulen und Universitäten. Dass er nie verschwunden war, wissen Jüdinnen und Juden seit dem Kriegsende 1945.

Wann ging es eigentlich los mit dem Antisemitismus? War er in diesem Land je verschwunden? Oder wurde er von der Politik nur verharmlost und verschwiegen? Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum schreibt in ihrem Essay "Das Untote – Warum der Antisemitismus so lebendig bleibt und ist" von der erstaunlichen "Stabilität der antisemitischen Architektur". Und Norbert Frei, ein Historiker und Publizist, der in all seinen Äußerungen ebenso entschieden wie vorsichtig formuliert, präzisiert: "Der Antisemitismus hat nie aufgehört, und die seinerzeit vor allem von Daniel Goldhagen propagierte Idee, dass er mit der Ankunft der Amerikaner überwunden war, beziehungsweise überwunden wurde, ist natürlich Unfug." 

Gab es also schon wieder judenfeindliche Strömungen gleich nach der Kapitulation 1945? Was bewog Juden, die die Shoah überlebt hatten, im Land der Mörder zu bleiben oder gar dorthin zurückzukehren und hier heimisch zu werden? Sie wurden von vielen Juden im Ausland – vor allem denen in den USA und in Israel – angegriffen.

Selbst Jahrzehnte später, vor der Jahrtausendwende, wunderte sich Yohanan Meroz, von 1974 bis 1985 israelischer Botschafter in Deutschland, noch darüber: "Ich kann es tatsächlich schwer verstehen, wie Juden nach der Schreckenszeit in Deutschland Fuß fassen konnten. Ich halte es für schwer verständlich, dass sich Menschen, die keinen Hintergrund der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis haben, dort niederlassen und neue Gemeinden aufbauen. Aber das ist die Entscheidung des einzelnen. Wenn sich Leute zu diesem Versuch entschließen, respektiere ich das, ohne ihn gutzuheißen."

Was bedeutete Adenauers Schweigen bei seinem Regierungsantritt? Norbert Wollheim, ein deutscher Jude, Mitbegründer des Zentralrats der Juden in Deutschland, stellvertretender Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone, war konsterniert über die Haltung des ersten Bundeskanzlers: "Als Adenauer die erste Regierungserklärung im Bundestag abgegeben hat, verlor er kaum ein Wort über die Vergangenheit, nichts über Solidarität mit den Opfern, Bedauern über die Verluste, ganz zu schweigen von Wiedergutmachung. Ich erinnere mich, wir hatten eine Sitzung in Bremen, und wir hatten sie unterbrochen, um Adenauer zuzuhören. Wir konnten kaum die Sitzung zu Ende bringen, denn die Erregung war ungemein."

Entschiedener äußerte sich der Publizist Ralph Giordano, der die Adenauer-Ära als "braunen Epilog" bezeichnete, "die Ära, in der sich das manifestierte, was ich die zweite Schuld genannt habe, womit ich die Verdrängung von Leuten von der ersten Schuld unter Hitler meine. Und zwar nicht bloß als moralische oder rhetorische Kategorie, sondern tief instituiert durch das, was ich den großen Frieden mit den Tätern genannt habe. Nicht nur, dass sie straffrei davonkamen, sie konnten auch in allen Sparten ihre Karriere weiter fortsetzen. Die Funktionselite der alten BRD war bis in die Siebziger nahezu identisch mit der unter Hitler. Und das war Adenauers Werk. Adenauer ist eigentlich für mich der Schöpfer der zweiten Schuld."

Wollten die Deutschen überhaupt wieder jüdische Gemeinden in ihrem Land? Die Antwort von Asher Ben Nathan, dem ersten Botschafter Israels in Deutschland, ist verstörend und lenkt wieder auf Spuren. Täter können durchaus Erinnerungen benutzen, um zu vergessen: "Ich glaube, die Bundesrepublik war an einer jüdischen Gemeinde in Deutschland interessiert. Vielleicht nicht an einer so großen wie in der Vergangenheit, aber trotzdem. Sie wollten das Zeichen. Es gibt eine jüdische Gemeinde hier, und ein gutes Zusammenleben. Das war sicher eine der Absichten."

Nur durch Gespräch, nur durch Informationen kommen wir vielleicht eines Tages dazu, dass Normalität in der Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden, die noch nicht vorhanden ist, entsteht. Eines Tages!

Wir sind im Dezember 2023 weiter von so einer Normalität entfernt als je zuvor nach 1945.Jüdinnen und Juden in diesem Land haben Angst! Ich kann nicht einmal mehr einen Vortrag in einem Theater über Schiller halten, ohne dass die Veranstalter Polizeischutz anfordern. Jüdische Gemeinden ermahnen ihre Mitglieder auf alle Zeichen zu verzichten, die sie als Juden kenntlich machen könnten. Schülerinnen und Schüler jüdischer Schulen dürfen die Häuser erst verlassen, wenn davor die Polizei sie auf dem Nachhauseweg schützt. Nie wieder – dieses Verspechen, das Hoffnung verhieß, konnte nicht gehalten werden. Ich warte auf eine Rede des Bundespräsidenten, der klar formuliert: Wir haben unser Versprechen nicht halten können, und der dies mit der Frage verbindet, was zu tun ist, damit wir es können. Dieser Diskurs ist wichtiger denn je!

2023, unsichere heimat, c. bernd sucher
© Piper Verlag

Prof. C. Bernd Sucher (RC München-Hofgarten) ist seit 1996 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitet an der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik. Der langjährige Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung ist PEN-Mitglied und hat zahlreiche Bücher verfasst. Im November 2023 erschien im Piper Verlag "Unsichere Heimat: Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute", 272 Seiten, 24 Euro.