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Debatte

Gestern Opfer, heute Verfolger! Oder?

Debatte - Gestern Opfer, heute Verfolger! Oder?
Thomas Weber © Judy Lang

Die Debatte um Achille Mbembe wird ebenso unreflektiert geführt, wie er sich zu Israel äußert. Mbembe muss Empathie gleichermaßen für Israelis und Araber entwickeln.

01.06.2020

Wer sein Denken der letzten 40 Jahre verstehen wolle, so der kamerunische Historiker Achille Mbembe letztes Jahr auf Facebook gegenüber seiner Fangemeinde, möge sein Essay über „Israel, die Juden und wir“ aus dem Jahr 1992 lesen. Die Lektüre des Berichtes seiner ersten Israelreise erlaube es, „die faulen Karikaturen und Kategorisierungen, die heute als ‚Kritik‘ daherkommen“, zu überwinden.

Irgendetwas Grundlegendes muss sich in den vergangenen Monaten gewandelt haben. Denn seitdem ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Mbembes Essay als einen Inauguraltext seines Denkens in den öffentlichen Diskurs einbrachte, redet Mbembe auf einmal ganz anders über seinen Text. Es seien nur „flüchtige“, unwesentliche „Reisenotizen“. Bei ihnen ginge es nicht einmal „um das genaue Wesen Israels“, so Mbembe in der Tageszeitung taz. Es sei auch nicht darum gegangen, wer die Israelis „wirklich sind“. Daher sei ich in meinem FAZ-Artikel von „Rassismus und Paternalismus“ getrieben gewesen.

Mbembes Vorwurf stimmt mich traurig, trifft mich aber nicht. Als Resultat der hysterischen Polarisierung des öffentlichen Diskurses unserer Tage bin ich es gewohnt, von allen Extremen angegangen zu werden. Mal bin ich für einen AfD-Politiker ein politisch motivierter Leichenfledderer, mal ein Volksverräter und nun zur Abwechslung halt mal ein Rassist. In solchen Fällen orientiere ich mich an Michelle Obamas Maxime „When they go low, we go high“. Wie war ich aber in den Augen Mbembes zu einem paternalistischen Rassisten geworden? Die Antwort auf diese Frage birgt Hinweise darauf, wie wir der Hysterisierung des öffentlichen Lebens und der Gefahr einer Mutation antisemitischen Gedankenguts entgegenwirken und die wirklichen Probleme der Welt angehen können.

„Gewalttätig in seinem Zorn, blutig in der Rache“

Ich hatte geschrieben, dass seine Reiseerlebnisse Mbembe zum Nachdenken gebracht hätten. Er habe daher seine Gedanken zum Verhältnis der Juden mit dem Rest der Welt geordnet. Wie passten die Juden und Israel in den ganz großen Zusammenhang der Welt? Wie kam es eigentlich dazu, dass in „der Welt von Israel“, so Mbembe, „jede Überzeugung ein Verlies geworden“ war?

Ich war zum Schluss gekommen, dass er nicht als Paradebeispiel für den gedankenlosen Antisemitismus der postkolonialen Linken taugt. Aber ebenso wenig stützt der Text die reflexartige Behauptung vieler Verteidiger, dass auf Mbembe eine Hexenjagd gemacht werde. Um die Eindrücke seines Besuches der heiligen Stätten Jerusalems, kaum der Pubertät entsprungene Israelis in Uniform mit Waffen über den Schultern und „die Not auf den Gesichtern der palästinensischen Kinder und Frauen“ in seine eigene Erfahrungswelt einzuordnen, greift er aufs Bibelstudium seiner Kindheit zurück, um das Verhalten der Juden zu erklären – denn Israelis und Juden behandelt er als identisch. Seine Aussagen hier über das Gottesbild der Juden sind ersichtlich in jahrhundertealtem christlichem  Antijudaismus getränkt. Der Gott der Juden ist beispielsweise „gewalttätig in seinem Zorn, blutig in der Rache“. Es ist auch ein Gott, der den Juden zeigt, „wo sich die Macht befindet“. Das Resultat ist „der Schrecken des Absoluten, der genau das bewirkt, dass jede zum Äußersten getriebene Überzeugung ein Verlies wird“. Mbembe wendet sich auch dem Holocaust zu.

Die Shoah sei der Grund dafür, wieso jüdische Erfahrungen und Verhaltensmuster für Afrikaner so viele Lehren böten. Denn laut Mbembe haben Juden und Afrikaner in Holocaust und Kolonialismus im Kern das Gleiche durchlitten, auch wenn er natürlich nicht sagt, dass die Form westlichen Verhaltens im Holocaust und dem Kolonialismus identisch ist.

Das Wesen der Erfahrungen soll gleich gewesen sein, aber nicht deren Form: „Ich sehe vielleicht jetzt, was es ist bei den Juden, das so viele von uns anspricht, die sich für Afrikaner halten. Mit vielen anderen Völkern haben wir
uns dem gestellt, was der Westen tief in uns selbst an Dämonischstem hervorgebracht hat. (...) Wir können in unseren jeweiligen Geschichten wiederfinden, was es an Scheußlichstem im Zusammenspiel zwischen dem ,Fortschritt‘ und der Grausamkeit, der ,Zivilisation‘ und der Barbarei, der Vernunft‘ und der Gewalt gibt.“ 

Die Erfahrung von Kolonialismus und der Shoah führt nach Mbembe zu neuem Leid in der heutigen Welt, für welches nun die ehemaligen Opfer selbst verantwortlich sind. Das Verhalten von gewalttätigen Autokraten im postkolonialen Afrika und von Juden in Israel sind für ihn zwei Seiten einer Medaille. Daher seien die Juden Israels postkolonialen afrikanischen Gewaltherrschern – also den ehemaligen Opfern westlicher Kolonialherren – wesensgleich.

In den Dialog treten statt sich anzukläffen

Dennoch stellt Mbembe einen Kausalzusammenhang zwischen dem Holocaust und Israels Verhalten heute her, genauso wie er einen solchen zwischen Kolonialverbrechen und den Schandtaten von afrikanischen Autokraten sieht. Mehr noch: Er behandelt Antisemitismus, Holocaust, israelische Politik und imperiale und postkoloniale Verbrechen als wesensgleich. „In dem Maße, wie die magische Illusion der ,Befreiung‘ sich auflöst, versinkt Israel wie die gesamte Postkolonie in der Wiederholung: Wiederholung des Verbrechens, ... Wiederholung des Rechts zur Ungerechtigkeit und zur Untat, Wiederholung der schändlichen Arbeit, die darin besteht, den Platz der Mörder einzunehmen und das dumme Leben derer zu reproduzieren, die, gestern Opfer, heute Verfolger, sich jenem schwachsinnigen Spiel hingeben, das Vergewaltigung, Raub, Kolonisierung und Schutzgelderpressung heißt.“ Aus Opfern, so Mbembe, sind Täter geworden, sei es in Israel, sei es in Afrika. Der „krankhafte Wille zum Nichts“ des Holocaust und des Kolonialismus ist für ihn von einem Teil der Opfer verinnerlicht worden. Das Resultat: Dieser Wille „fährt fort, seinen Schrecken über den Opfern schweben zu lassen, und das noch sehr lange nach ihrer eingebildeten Befreiung“, er „spukt in der Rede der Opfer von gestern, jedes Mal, wenn diese Rede in den Tod investiert und sich in das Projekt verwandelt, den anderen aufzulösen. ,Ich bin, also bist du nicht‘, welche Schimäre!“

Mbembe muss sich der Debatte stellen

Mbembe konstatiert also eine Wesensgleichheit und einen Kausalzusammenhang zwischen Antisemitismus, Holocaust und israelischem und jüdischem Verhalten heute. Daher muss er sich auch Argumenten stellen, nach denen er den Holocaust relativiere. Es lohnt dennoch, über diese Fragen und die anderen Dinge, die Mbembe zu sagen hat, in Dialog zu treten, anstatt sich anzukläffen. Die Gefahr ist zu groß, dass in den Krisenzeiten des ersten Drittels des 21. Jahrhunderts moderate Formen von linken und rechten antisemitischen Überzeugungen und Klischees wieder, wie einst vor 100 Jahren, blitzschnell mutieren können und wieder für Juden zu einer tödlichen Pandemie werden können. Und die Gefahr ist zu groß, dass die Probleme des globalen Südens eskalieren.

Das Problem ist nicht, Mbembe einzuladen, sondern ihn unreflektiert als Säulenheiligen zu behandeln. Es ist besser, über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts konstruktiv zu streiten, als sich hysterisch mit Unterstellungen zu überhäufen. Dafür müsste Achille Mbembe aber aufhören, unreflektiert und ohne Sinn in Ideen, die mit den seinen konkurrieren, Rassismus zu sehen. Und er müsste Empathie gleichermaßen für Juden und Araber entwickeln.


Zur Person

Thomas Weber ist Professor for History and International Affairs und Direktor des Centre for Global Security and Governance an der University of Aberdeen. Zuletzt erschien von ihm 2016 „Wie Adolf Hitler zum Nazi“ wurde bei Propyläen.

abdn.ac.uk