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Glockenriss durch Klöppelkuss?

Titelthema - Glockenriss durch Klöppelkuss?
Der Klöppelkuus: Die Glocke mit Joch und der Klöppel stellen ein Doppelpendel dar, das so aufeinander abgestimmt sein muss, dass die Pendelbewegung der Glocke, die heutzutage mit einer elektrischen Läutemaschine erzeugt wird, den Klöppel in Schwung versetzt. Dabei muss der Klöppel so schwingen, dass er die Glocke im richtigen Moment nahe dem höchsten Punkt anschlägt und es zum „Klöppelkuss“ kommt. © infografik: Michèle Hofmann

Glocken sind extremen Bedingungen ausgesetzt. Je früher ein entstehender Riss erkannt wird, desto höher ist die Chance auf ihre Rettung.

Andreas Rupp01.12.2020

In diesem Jahr ist scheinbar alles anders: Nachdem bereits Ostern ausgefallen ist und auf den gebuchten Sommerurlaub verzichtet werden musste, schließt das Jahr möglicherweise mit einem schlichten Weihnachtsfest und einem einsamen Jahreswechsel. Vieles Vertraute wird wohl wegfallen, aber nicht alles – Glocken werden die Geburt Christi verkünden und auch das neue Jahr begrüßen.

Wenn der Glockenklang landauf, landab die festlichen Tage umrahmt, gibt es mancherorts auch Misstöne, die das geschulte Gehör aufhorchen lassen: Jedes Jahr wird an Dutzenden von Glocken in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgrund von Veränderung im Klang oder im Nachhall festgestellt, dass ein Riss entstanden ist. Der entstandene Schaden ist nicht nur materieller Natur, sondern wertvolle Kulturgüter und Zeugnisse früher Handwerkskunst werden zerstört, wenn historische Glocken Risse bekommen. Aber auch die Kirchgemeinden sind sehr betroffen, wenn vertraute alte und neue Glocken für immer verstummen oder zur Reparatur vom Turm genommen werden müssen.

Nicht zu heftig, nicht zu lasch

Neben einer schlechten Gussqualität, die Schwachstellen in der Glocke hervorrufen kann und Schäden begünstigt, kommt es in den meisten Fällen durch ungünstige Läutebedingungen zu einer Überbeanspruchung beim Läuten – der Klöppel schlägt die Glocke regelrecht kaputt.

Im Europäischen Kompetenzzentrum für Glocken an der Hochschule Kempten wird seit über 15 Jahren daran gearbeitet und geforscht, wie Schäden an Glocken vermieden und gleichzeitig eine möglichst gute Klangentfaltung der Glocken gewährleistet werden kann. Tatsächlich gibt es mittlerweile zuverlässige Verfahren zur Überwachung von Glocken, um sich ankündigende Schäden so frühzeitig zu erkennen, dass noch leicht Gegenmaßnahmen zum Erhalt der Glocken ergriffen werden können.

Um Glocken so zu läuten, dass zum einen Risse vermieden und zum anderen ein guter, ausgewogener Klang erzeugt wird, kommt es vor allem auf eine gute Abstimmung zwischen Glocke und Klöppel an. Die Glocke mit Joch und der Klöppel stellen ein Doppelpendel dar, so aufeinander abgestimmt sein muss, dass die Pendelbewegung der Glocke, die heutzutage mit einer elektrischen Läutemaschine erzeugt wird, den Klöppel in Schwung versetzt. Dabei muss der Klöppel so schwingen, dass er die Glocke im richtigen Moment nahe dem höchsten Punkt ihrer Bewegung anschlägt und es zum sogenannten „Klöppelkuss“ kommt. Dieser Kontakt von Klöppel und Glocke darf nicht zu heftig sein, um die Glocke nicht zu schädigen. Und doch muss er kräftig genug sein, die Glocke zu ihrem wohlklingenden Klang zu bringen, so dass sowohl die tiefen als auch die hohen Teiltöne der Glocke in einem ausgewogenen Verhältnis schwingen.

Umfangreiche Versuche im Messlabor, Computersimulationen und die Erfahrung aus Projekten an über 300 Glocken, vor allem im deutschsprachigen Europa, machen es uns heute möglich, die Abstimmung von Glocke und Klöppel nicht mehr dem persönlichen Geschick des Glockengießers oder Klöppelschmieds oder gar dem Zufall überlassen zu müssen, sondern mit wissenschaftlichen Methoden zu berechnen. Die Anforderungen an eine läutende Glocke sind dabei so vielfältig, dass Erfahrungen oft nicht mehr weiterhelfen.

Historische Glocken sind durch das jahrhundertelange Läuten zum Teil stark ausgeschlagen oder das Material ist bereits durch Ermüdung vorgeschädigt. Hier gilt es, die Glocke so gut wie möglich zu schonen, um ihren unverwechselbaren Klang noch vielen Generationen zu erhalten.

Fast bis zum Überschlag

Die bauliche Situation der Glocke im Turm stellt häufig eine Herausforderung für die Auswahl geeigneter Läutebedingungen dar. In Zeiten blühenden Wachstums haben Gemeinden teilweise Glocken beschafft und mit Joch und Klöppel so ausgestattet, dass sie nur mit erheblichem technischen Aufwand beim Läuten nicht in das Mauerwerk oder den Glockenstuhl schlagen. Fällt dann die Schwingperiode der Glocke in den Bereich der Turmeigenschwingung, können Schäden am Bauwerk entstehen. In solchen Fällen ist es besonders wichtig, das Schwingverhalten der Glocke mit Joch und Klöppel durch Simulation zuverlässig auszulegen.

Schließlich ist auch die örtliche Läutetradition zu berücksichtigen. Insbesondere in Teilen Österreichs, der Schweiz und in Norditalien werden Glocken sehr hoch geläutet, fast bis zum Überschlag. Die Beanspruchungen an der Glocke sind dann um ein Vielfaches höher, wenn nicht der Klöppel auf diese extremen Läutebedingungen angepasst wird.

Leider sind in den Gegenden, in denen das Hochläuten gepflegt wird, Glockenrisse häufiger zu beklagen als in anderen Regionen.

Kleinste Schäden erkennen

Da die messtechnische Erfassung der Beanspruchungen und damit des Schadensrisikos der Glocke beim Läuten verhältnismäßig aufwendig ist, haben wir das Verfahren des musikalischen Fingerabdrucks von Glocken entwickelt, mit dem der Zustand anhand von Klangaufnahmen ermittelt wird. Ein Sprung lässt sich leicht hören. An den wertvollen Glocken müssen aber die Schäden und Risse zuverlässig schon dann erkannt werden, wenn sie noch sehr klein oder gerade in der Entstehungsphase und dabei noch nicht hörbar sind. In einem solch frühen Schädigungsstadium ist es noch möglich, durch Maßnahmen wie Drehen der Glocke und Einbau eines schonenden Klöppels die Rissentstehung oder zumindest den Fortschritt eines ersten Anrisses aufzuhalten. Die Analyse des Glockenzustands erfolgt an der ruhenden Glocke durch Anschlagen mit einem Klöppel oder Hammer und der Aufnahme des Abklingvorgangs. Als Aufnahmegerät reicht die Qualität eines üblichen Smartphones aus, so dass nach einer entsprechenden Schulung auch ein Nicht-Fachmann solche Aufnahmen erstellen kann. Derartige Klangdateien lassen sich dann mit Softwareprogrammen analysieren. Um Gemeindemitglieder und Glockenliebhaber zum Mitmachen bei der Glockenforschung einzuladen, werden die Ergebnisse in unserem „Glockenatlas“ dokumentiert. Die Klangdateien dienen nicht nur dazu, etwaige Schäden zum Zeitpunkt der Analyse zu erkennen, sondern auch als Referenzen für bislang unbeschädigte Glocken, die bei wiederholter Überwachung zum Vergleich herangezogen werden können.