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Große Erwartungen – und tiefe Frustration

Über die Ursachen der neuen Ost-West-Spannungen in der Europäischen Union

György Dalos01.04.2016

Vor mehr als dreißig Jahren, ungefähr in der Zeit, als die drei Greise der sowjetischen KP bereits an der Kremlmauer beerdigt wurden, aber der junge, gesunde Nachfolger Michail Gorbatschow noch kein politisches Lebenszeichen von sich gab, veröffentlichte ich in der (West)Berliner Kulturzeitschrift „Kursbuch” einen Aufsatz, in dem ich versuchte, so etwas wie ein Drehbuch der für mich zweifellos zu erwartenden Veränderungen in den Ostblockstaaten aufzuwerfen:

„Stellen wir das Unwahrscheinliche vor: Ein verjüngtes Zentralkomitee in Moskau entscheidet sich für die Befreiung der Sowjetunion von ihren immer lästiger werdenden Verbündeten. ,Sehen Sie doch ein, Genossen“, sagt der erst dreiunddreißig jährige Generalsekretär, „dass diese kleinen osteuropäischen Staaten mit ihrer chaotischen Situation und unbegreiflichen Widersprüchen nur unseren kommunistischen Aufbau erschweren. Viel richtiger wäre es meines Erachtens, diese Gesellschaften unter Wahrung unseres militärischen Interesses ihrer eigenen Entwicklungsdynamik zu überlassen. Vom propagandistischen Standpunkt würde uns das nur Vorteile bringen. Einerseits könnten wird dann wieder als Befreier dieser Länder gefeiert werden, andererseits waren unsere Ideale, wie die Erfahrung zeigt, stets sehr viel erfolgreicher in Gesellschaften, in denen nichts oder nur sehr wenig von ihnen verwirklicht worden ist.‘

Fantasieren wir weiter: Die Worte des Generalsekretärs werden einstimmig zu Gesetz erhoben, der Warschauer Vertrag wird gekündigt, die in der osteuropäischen Region stationierten sowjetischen Truppen werden mit Militärmusik und Blumen verabschiedet, und die Länder des ehemaligen Ostblocks beginnen mit der Regelung ihrer eigenen Probleme. Durch freie Wahlen, an denen mehrere Parteien teilnehmen dürfen, schaffen sie ihre parlamentarischen Institutionen, sie öffnen die Grenzen und garantieren die Freiheitsrechte, einschließlich eines vernünftig beschränkten Privatbesitzes. Alles andere – das McDonalds-Netz, die Arbeitslosigkeit und die Peepshows – kommen von selbst.“

Erschöpfter Elan

Bei all diesem flotten Gedankengang von 1985 erwartete ich von der Wende nicht nur Gutes: „Jedenfalls müssen wir voraussetzen, dass eine solche Veränderung die betroffenen Länder völlig unvorbereitet fände. Paradoxerweise ist nämlich nicht nur das System sowjetischen Typs in unseren Gesellschaften dermaßen unorganisch geblieben, dass es bei Völkern mit schwächeren Nerven nur mit Waffengewalt aufrechterhalten werden konnte, sondern auch demokratisch-pluralistisches Gedankengut hat in diesen Ländern kaum eine Basis.“

Dreißig Jahre sind in historischer Perspektive nicht allzu viel Zeit, und das Erreichte kann man kaum überschätzen. Die Jahrtausendwende wurde von drei historischen Großereignissen – die deutsche Wiedervereinigung, die Entstehung des Euros und die Ost-, bzw. Süderweiterung Europas – geprägt Die Bundesrepublik ist heute eine weltweit beachtete, stabile Föderation, der Euro allgemein akzeptiertes Zahlungsmittel, und die achtundzwanzig Mitgliedstaaten der Union pflegen konstante ökonomische, politische und kulturelle Bindungen miteinander. Trotzdem erscheint es manchmal so, als wären die ursprünglichen Energien der Gemeinschaft erschöpft und in den Beziehungen einzelner Mitglieder würden statt Konsens Konflikte dominieren. Auslöser, obwohl nicht Ursache, für diesen wenig erfreulichen Prozess in der letzten Zeit waren die internationale Finanzkrise, die wachsende Flüchtlingsproblematik und zentrifugale Tendenzen, die sowohl im Westen als auch im Osten von den Parteien des neuen Populismus vertreten werden.

Nationalistische Gespenster

Lassen Sie mich zuerst vor der eigenen Tür kehren. Ohne die negative Rolle einzelner Politiker wie der ungarische, polnische oder slowakische Regierungschef sowie der immer stärker werdenden nationalistischen Medien leugnen wollen, müssen wir bei der Suche nach den Gründen etwas tiefer graben, und zwar nicht nur in der kommunistischen Vergangenheit dieser Länder, die zweifelsohne weder das europäische noch das demokratische Bewusstsein begünstigte. Selbst vor dem Kommunismus bestand die historische Existenz dieser Nationen aus einem ewigen struggle for life, entweder eingekeilt zwischen großen Imperien oder aber untereinander, indem sie manchmal die gleiche Fremdbestimmung schwächeren Ländern aufgezwungen haben, gegen die sie angeblich kämpfen wollten. Die subjektive Wahrnehmung reflektierte meistens nur die eigene Opferrolle: So rangen Ungarns beste Revolutionäre anno 1848 gegen das Habsburger Reich für nationale und bürgerliche Rechte, verweigerten jedoch dieselben den Rumänen, Slowaken und Kroaten. Auch die rumänische Nation wollte ihre Freiheit und Selbstständigkeit erkämpfen, ohne auf die Minderheiten auf seinem künftigen Territorium Rücksicht zu nehmen.

Anders als die fortgeschrittenen europäischen Demokratien oder gar modernere autokratische Systeme wuchsen die osteuropäischen Länder – vielleicht mit Ausnahme von Tschechien, aber selbst dort ohne die Slowakei und Ruthenien – in einem politischen Infantilismus auf. In einem einzigen Gebiet konnten sie den Handschuh mit dem „gebildeten Westen“ aufnehmen, und zwar in der literarisch-künstlerischen Kultur. Von den Natur- und technischen Wissenschaften ließ sich ähnliches nicht behaupten; nicht etwa, weil die diesbezüglichen Leistungen bescheidener als die abendländischen gewesen wären, sondern einfach, weil rassistische und autoritärere Systeme potentielle und zukünftige Nobelpreisträger regelmäßig in den Westen fliehen ließen.

Der Kommunismus, insbesondere dessen Kádársche Version der sechziger bis achtziger Jahre, ließ sehr viele ungarische Bürger als Touristen durch den „Eisernen Vorhang“ gen Westen reisen. Sie erhielten dreijährlich dreißig Tage Visum und konnten dreihundert DM bei der Nationalbank einlösen. Sie nahmen in ihren kleinen Trabant oder in der Bahn mehrere Stangen Salami und Konserven mit und wohnten bei ihren womöglich 1956 emigrierten Verwandten, um auf den Rückweg westliche Klamotten und kleine Geschenke für die Familie mitnehmen zu können. Sie waren glücklich, gedemütigt und von dem westlichen Wohlstand erdrückt.

Enttäuschte Erwartungen

Als dann ab 1. Januar 1988 die Volksrepublik die unbegrenzte Westreise genehmigte, investierte die halbe Nation ihr Spargeld in Shopping. Man jagte nach den neuen PCs auf der Mariafhilfer Straße, während die politische Führungsriege nach und nach ihre Positionen einer völlig unvorbereiteten, eher philologisch als fachtechnisch orientierten Elite übergab. Die jüngeren Kader wechselten auf die Wirtschaft um. Die sogenannten einfachen Menschen arbeiteten härter denn je, um über die Runden zu kommen. Ein paar Jahre später merkten sie, wie Demokratie und Armut gespenstische Synonyme wuden und wie wenig sie bei all ihrer Freiheit mitzureden haben.

Das sind ungefähr die nicht zu vernachlässigenden Rahmenbedingungen der allgemeinen Frustration sowie auch der nicht so sehr euroskeptische als vielmehr euromüde Hintergrund der merkwürdigen neuen Ost-West-Spannung innerhalb der Union. Wenn bei den EU-Wahlen in dem Eurozonenland Slowakei 13 Prozent der Wähler an die Urnen gehen, ist dies nicht nur ein Problem irgendwelcher Mediengestalten und Politiker, sondern des ganzen Kontinents.

Wir – „Ossis“ – müssen aber auch etwas mehr von der westlichen Kritik verstehen. Ein ursprünglich sehr erfolgreiches und jetzt stockendes Projekt kann sich nicht unbegrenzt nach unserem Tempo ausrichten. Wir gehören zu dieser Union, ihre Agenda ist unsere. Es gibt keine Rückkehr in die achtziger Jahre, keine Rückkehr zu dem Warschauer Vertrag. 

György Dalos
György Dalos ist Schriftsteller und Historiker. 1977 gehörte er zu den Mitbegründern der demo­kratischen Oppositionsbewegung in Ungarn und 1988/89 zur Redaktion der DDR-Untergrundzeitschrift „Ostkreuz“. Bis Ende 2011 war er Mitherausgeber der Wochenzeitung „Freitag“. Zu Dalos‘ Büchern gehört u.a. „Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes“ (2012 überarbeitet, C.H. Beck). Zuletzt erschien D"er letzte Zar – Der Untergang des Hauses Romanow" (Verlag C.H. Beck, 2017). www.chbeck.de