Titelthema
Hoffnung und Angst
Zeitzeugen erzählen, wie sie den 17. Juni 1953 in unterschiedlichen Städten der ehemaligen DDR erlebt haben. Erinnerungen an Panzer, Schüsse und alte Freunde
„Ich war ein Volksheld“
Ich habe als 13-Jähriger am 17. Juni 1953 in Delitzsch bei Leipzig bei dem Volksaufstand einen Schulterdurchschuss erlitten. In den darauffolgenden drei Wochen im Krankenhaus war ich der Volksheld, man brachte mir gebratene Tauben ins Krankenhaus. Meine Pflegefamilie erhielt die vorher zweimal verweigerte Ausreisegenehmigung in den Westen unter der Bedingung, dass sie mich mitnähme. Der 17. Juni hat mein Leben völlig verändert.
Paul Grunwald (83, RC Pirmasens), Oberstudiendirektor a. D., Dahn
„Aber er widerrief nicht!“
Im Herbst 1962 lernte ich im Zuchthaus Waldheim in Sachsen den Bitterfelder Streikführer Paul Othma (1905–1969) kennen, der zu zwölf Jahren verurteilt worden war. Ich, der Mainzer Student, der 1961 die Leipziger Buchmesse besucht hatte, war wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu dreieinhalb Jahren verurteilt worden. Paul Othma hörte in den Abendstunden des 16. Juni 1953 von den Arbeitsniederlegungen der Ostberliner Bauarbeiter im Westberliner „Hetzsender“ RIAS und rief am nächsten Morgen zur Demonstration in die Bitterfelder Innenstadt auf. Es waren schließlich 30.000 Arbeiter, die auf dem „Platz der Jugend“ der Rede Paul Othmas lauschten: „Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende.“ Für wenige Stunden, ehe die russische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand verhängte, herrschten in Bitterfeld die revolutionären Arbeiter, die sich gegen die SED-Diktatur erhoben hatten.
Nach Verhaftung und wochenlangen Verhören wurde Paul Othma vom Bezirksgericht Halle als „Konterrevolutionär“ und „Feind unserer demokratischen Ordnung“ verurteilt. Später, im Zuchthaus Waldheim, wurde er von der Anstaltsleitung ständig zu Gesprächen vorgeladen: Er könnte sofort entlassen werden, wenn er widerriefe und eingestehe, am 17. Juni 1953 Verbrechen begangen zu haben. Aber er widerrief nicht! Als er im Spätsommer 1964, ein halbes Jahr vor Strafende, entlassen wurde, wusste er nicht, dass ihn die Bundesregierung in Bonn freigekauft hatte, weil er todkrank war.
Jörg Bernhard Bilke (86), Journalist, Coburg
„Hilflosigkeit und Ohnmacht“
Ab dem 17. Juni 1953 um 17 Uhr herrscht Ausnahmezustand in Berlin und anderen Städten der DDR. Es herrscht das Kriegsrecht, und es besteht eine Ausgangssperre für alle Privatpersonen zwischen 21 Uhr abends und 9 Uhr früh.
Der 17. Juni 1953 ist ein warmer Sommertag. Bereits um 20.30 Uhr leeren sich die Straßen auch vor unserem Wohnhaus in Berlin-Pankow. Die Menschen hasten eilig nach Hause, die letzten Autos fahren vorbei. Dann ist es so weit. 21 Uhr. Eine gespenstische Stille breitet sich aus. Ich stehe auf dem Balkon und beobachte die Szene.
Und dann hören wir Motorengeräusch. Ein Mannschaftswagen der Russen fährt langsam die Straße entlang und beobachtet die Hausfassaden rechts und links der Straße. Obwohl noch hell, leuchtet ein russischer Soldat mit einem starken, schwenkbaren Scheinwerfer die Hausfassaden ab. Das Herz klopft, und ich gehe vorsichtshalber hinter den Blumenkästen auf dem Balkon in Deckung. Man weiß ja nie. Der Mannschaftswagen hält genau gegenüber unserem Haus. Zwei Rotarmisten steigen mit umgehängter Maschinenpistole ab und gehen die Stufen zum U-Bahnhof Vinetastraße hinunter. Nach kurzer Zeit kehren sie zurück, rufen ihren Kameraden etwas zu, und dann fahren sie weiter. Erleichterung, aber auch Hilflosigkeit und Ohnmacht machen sich in unserer Familie breit. Wir wissen, dass wir den Kampf gegen das verhasste Regime der SED diesmal verloren haben.
Heinz Puhlmann (86), ehemaliger Unternehmensberater, Rüsselsheim
„Ein großes Wunder“
Der 17. Juni 1953 war ein grauer Tag in Bad Frankenhausen. Ich war zehn Jahre jung, ging zur Schule, aber dort hing ein Zettel: „Unterricht fällt heute aus“. Trotz des Schulausfalls kam unter uns Schülern keine Freude auf. Es herrschte eine eigenartige bedrückende Stimmung. Kein Lehrer war da, mit niemandem konnten wir sprechen. In dieser Situation ging ich zu meiner Mutter, die in einer Knopffabrik arbeitete. Es wunderte mich schon, als ich dort ankam, dass die Arbeiterinnen nicht an ihren Arbeitsplätzen waren, sondern auf der Straße standen und miteinander diskutierten. Ich fragte meine Mutter: „Warum arbeitet ihr nicht?“ Ihre Antwort war: „Wir wollen mehr Geld und uns von den Kommunisten nicht mehr bevormunden lassen.“ Das mit dem Mehrverdienst habe ich verstanden. Was mit der „Bevormundung“ gemeint war, war mir als Kind noch nicht klar.
Die gut 200 Arbeiter marschierten los, und ich an der Hand meiner Mutter marschierte mit. Wir kamen aber nicht weit, denn aus einer Nebenstraße kamen Volkspolizisten mit Gewehren, die auch geschossen haben, doch zum Glück nur in die Luft. Schlimmer war für mich, dass ich mit einem Mal vor einem Panzer stand. Da stellte sich für mich in meiner großen Angst die Frage: „Was ist das für ein Staat, der auf seine eigenen Leute schießt?“
Die Wiedervereinigung war für mich ein großes Wunder. Ich lebe nun seit über 30 Jahren in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Ich hätte mir nie aus meiner Erfahrung mit der DDR vorstellen können, dass dies einmal möglich wird.
Klaus Jürgen Tiller (80), ehemaliger Geschäftsführer des Caritasverbandes in Geisa, Geisa
„Salven sausen über Köpfe“
Der 17. Juni war ein Mittwoch. Nach der Schule ging ich als knapp 14-Jähriger nicht nach Hause, sondern in die Dresdner Innenstadt, denn ich hatte ja am Vortag im RIAS gehört, am 17. Juni gäbe es in der DDR einen Generalstreik. Gegen 10 Uhr war es im Sachsenwerk Niedersedlitz zu ersten Arbeitsniederlegungen infolge unregelmäßiger Materiallieferungen, deren Folge Feierschichten und dann angeordnete Überstunden waren, gekommen. Diesem Streik schlossen sich benachbarte Betriebe an. Der Demonstrationszug bewegte sich in Richtung Stadtmitte, wo auch Arbeiter weiterer Betriebe dazukamen.
Die Demonstranten hatten sich am Postplatz, dem zentralen Verkehrsknotenpunkt Dresdens, des Megafons der Straßenbahn bemächtigt, skandierten damit ihre Parolen und rissen ein Stalinbild aus der Verankerung. Da die Volkspolizei die Demonstration nicht unter Kontrolle bringen konnte, griffen Panzer der Roten Armee ein. Sie schossen Salven über die Köpfe der demonstrierenden Arbeiter hinweg, nicht aber in die Menschenmenge.
Der Demo-Zug bewegte sich nunmehr auf den Pirnaischen Platz zu, dem Polizeipräsidium in der Schießgasse, wo man die Freilassung politischer U-Häftlinge forderte. Man warf mit Trümmergestein auf die sich dort verschanzten Volkspolizisten.
In dann folgenden Prozessen wurden die Anführer der Dresdner Demonstration zu 10- und 15-jährigen Zuchthausstrafen verurteilt.
Wolfgang Jähnichen (83, RC Berlin-Spree), ehemaliger Geschäftsführer der Leipziger Verkehrsbetriebe, Falkensee
„Irgendwas lag in der Luft“
Ich war politischer Häftling der DDR. 1953 war ich neun Jahre alt. Der 17. Juni war ein schöner Sommertag, und am Vormittag war es in Leipzig noch sehr ruhig. Doch irgendetwas lag in der Luft. Die letzten Tage vor dem 17. Juni waren doch schon etwas seltsam gewesen.
Am 17. Juni dann ging mein Vater früh aus dem Haus. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, weil durchgedrungen war, dass die Straßen gesperrt waren. Wir Kinder gingen trotzdem hinaus, um herauszufinden, was draußen los war. Ich sah, wie die sowjetischen Panzer mit lautem Gedröhne durch die Waldstraße in Richtung Zentrum fuhren. Sie kamen aus Gohlis, wo sie in einer ehemaligen Wehrmachtskaserne stationiert waren. Ich hatte natürlich Angst um meinen Vater, der sich in der Stadt aufhielt. Mein Vater arbeitete im VEB Metallgusswerk Leipzig. Rund 27.000 Arbeiter aus über
80 Betrieben streikten, die Fabriken waren leer.
Es befanden sich mindestens 40.000 Demonstranten in der Stadt. Viele versuchten, den Gebäudekomplex der Staatsanwaltschaft und der Stasihaftanstalt in der Beethovenstraße zu erstürmen. Sie wollten die politischen Häftlinge befreien. Als mein Vater am 17. Juni 1953 nachts nach Hause kam, war ich sehr erleichtert. Er erzählte mir alles, was sich in der Stadt ereignet hatte.
Frank-Michael Nemetz (79), ehemaliger Chemiker, Belgershain
„Es läuft mir kalt den Rücken runter“
Es muss am 17. Juni etwa gegen 18 Uhr gewesen sein, als die Großkundgebung auf dem Markt in Halle begann. Für den nächsten Tag wurde zum Generalstreik aufgerufen, die Kernforderungen waren: freie Wahlen, Senkung der HO-Preise, der Rücktritt der Regierung. Dann wurde das Deutschlandlied gesungen – für die Freiheit, für Demokratie und ein vereinigtes Deutschland.
Die Demonstranten wurden per Lautsprecher aufgefordert, den Marktplatz zu räumen. Als sie der Forderung nicht nachkamen, rückte die Volkspolizei mit aller Härte gegen die Demonstranten vor. Diese warfen in ihrer Wut Flaschen und Steine auf die Panzer. Das Schlimmste für uns war, zu sehen, wie die Leute willkürlich zusammengeschlagen wurden. Das kann man nie wieder
vergessen. Am nächsten Tag haben wir erfahren, dass es acht Tote und Hunderte Verletzte gegeben hat. Und es gab etliche Verhaftungen und Prozesse an den Folgetagen.
Auf dem Rückweg hatten wir Glück, dass wir Kinder (elf Jahre jung, die Redaktion) an allen Absperrungen durchgelassen wurden. Am MfS-Gefängnis Roter Ochse haben uns russische Soldaten auf ihre Panzer gesetzt und Fotos von uns gemacht, aber sie waren nett. Wenn ich heute über all das rede, läuft es mir immer noch kalt den Rücken herunter
Peter Hippe (81), Diplomingenieur im Ruhestand, Düren
„Ich bin nicht erwischt worden“
Ich erinnere mich noch, dass ich mit dem Fahrrad nicht in die Stadt Potsdam hineinfahren konnte, weil sowjetische Panzer in ununterbrochener Reihe in Richtung Berlin fuhren. Da ich gerade mein Abitur gemacht hatte, war mir natürlich zum Feiern zumute. Mein Klassenkamerad, Flüchtling aus Riga, wohnte auf Hermannswerder in einem kleinen Bootshaus des evangelischen Rudervereins. Da hinter dem Haus Ruderboote lagen, haben wir uns einen Zweier „geliehen“, ohne dass der evangelische Frauenruderverein etwas davon wusste. Wir nannten das „organisieren“. Wir sind dann auf dem Templiner See bis nach Caputh gerudert und dort in das Fährhaus eingekehrt.
Danach holten wir aus dem Caputher Seebad am Schwielowsee unseren beliebten Chemielehrer, Herrn Stumper, ab, der sich sehr für Rita Pokrandt interessierte, eine Abiturientin aus der Mädchenklasse. Am späten Nachmittag brachten wir beide mit dem Boot nach Caputh, wo Rita im Elternhaus wohnte. Da es dann schon spät und die Ausgangssperre verhängt war, blieb Herr Stumper bei den Eltern im Haus. Die beiden haben später dann geheiratet und einen Sohn gezeugt.
Ich bin mit meinem Freund über den sehr leeren Templiner See nach Hermannswerder gerudert. Wir haben dann das Boot ordnungsgemäß abgelegt, und ich bin dann mit dem Fahrrad trotz Ausgangssperre nach Hause gefahren – und bin auch nicht erwischt worden. Am nächsten Tag sind wir, vier Abiturklassen, mit der Bahn nach Heringsdorf auf die Insel Usedom gefahren.
Horst Krause (88), Regierungsdirektor im Ruhestand, Berlin