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Ilgas kelias į draugyste – Der lange Weg zur Freundschaft

Titelthema - Ilgas kelias į draugyste – Der lange Weg zur Freundschaft
Für viele Westeuropäer gehört Litauen immer noch zum Osten, aus russischer Sicht bildet es die Speerspitze des Westens. Doch wo verortet sich das Land selbst, das so lange besetzt war und um seine Freiheit kämpfen musste? Der Versuch einer überfälligen Annäherung. © Rainer Weisflog

Die deutsch-litauischen Beziehungen seit 1918 waren mal heller, mal dunkler und manchmal sehr dunkel. Aber sie waren noch nie so gut wie heute.

Vejas Gabriel Liulevicius01.07.2021

Im Jahr 1918 schien es, als würde eine hoffnungsvolle neue Welt geboren werden. Als der Globus aus dem Ersten Weltkrieg hervorging, war klar, dass ein Großteil der alten Ordnung vergehen würde. Die Slogans des US-Präsidenten Woodrow Wilson für eine neue internationale Ordnung und Selbstbestimmung inspirierten viele. Dies erwies sich als besonders wichtig für die Beziehungen zwischen den sich neu formierenden Staaten Deutschland und Litauen. Inmitten der Niederlage wurde eine demokratische Republik Deutschland ausgerufen. Im Osten Deutschlands hatte sich ebenfalls eine junge demokratische Republik Litauen gegründet und begann ihre prekäre neue Existenz. Wie würden sich ihre Beziehungen gestalten?

Frühe Berührungen

Natürlich waren die deutsch-litauischen Beziehungen kein Novum, sondern reichten Jahrhunderte zurück. Sie reichten zurück bis ins Mittelalter und bis zum entstehenden Staat Preußen an den östlichen Grenzen der deutschen Besiedlung, zu den kreuzfahrenden Rittern des Deutschen Ordens, zu den im Osten Europas tätigen Hansekaufleuten. Doch anders als die baltischen Provinzen im heutigen Lettland und Estland, die unter deutsche Herrschaft gerieten, behielt Litauen seine Eigenstaatlichkeit und festigte sie. So konnte sich in Litauen keine deutsche Führungsschicht etablieren. In den folgenden Jahrhunderten entstanden durch die Nähe Bindungen und Beziehungen, die über die politischen Grenzen hinausgingen. In Ostpreußen wurden Gebiete mit litauischer Minderheit als Kleinlitauen bezeichnet, um sich von dem östlich gelegenen Land, das Teil des polnisch-litauischen Commonwealth war, abzugrenzen. Der Fluss von Ideen und kulturellen Impulsen erwies sich als lebenswichtig – tatsächlich wurde das erste Buch in litauischer Sprache 1547 in Königsberg veröffentlicht. Die Botschaft des ostpreußischen Philosophen und Schriftstellers Johann Gottfried Herder vom kulturellen Nationalismus erwies sich in Osteuropa als äußerst einflussreich und förderte die romantischen Erweckungsbewegungen, auch unter jungen Litauern, nachdem Litauen dem russischen Reich angegliedert worden war. Nach dem zaristischen Verbot des litauischen Verlagswesens 1864 wurden Pressen in Ostpreußen zu unverzichtbaren Stätten für die Produktion von Büchern in litauischer Sprache, die über Jahrzehnte hinweg über die Grenze geschmuggelt wurden, die Russifizierungsbestrebungen unterliefen und die nationale kulturelle Wiederbelebung anführten.

Im Ersten Weltkrieg, der 1914 ausbrach, nachdem ein russischer Einmarsch in Ostpreußen mit dem deutschen Sieg bei Tannenberg zurückgeschlagen worden war, rückten kaiserliche deutsche Armeen tief in die nordwestlichen Provinzen Russlands ein. In Litauen und in den baltischen Provinzen wurde ein hartes militärisches Besatzungsregime errichtet, getrieben von den Erfordernissen des totalen Krieges. Doch die expansiven Visionen eines kontinentalen Kolonialreichs unter der Herrschaft des Kaisers zerschellten in der Niederlage im Herbst 1918. Die drei unabhängigen baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland gingen aus den Trümmern der Imperien hervor, standen aber vor gewaltigen internationalen Herausforderungen.

Die Hoffnungen starben 1933

Die alliierten Siegermächte diktierten dem besiegten Deutschland einen Friedensvertrag, der dessen Macht einzudämmen suchte und gleichzeitig rhetorisch eine neue demokratische Weltordnung anstrebte. Der Versailler Vertrag stellte in Artikel 99 die Gebiete um Memel unter ein alliiertes Mandat. In dieser Zeit der sich verschiebenden Grenzen hatten Aktivisten unter den Kleinlitauern Ostpreußens Ende November 1918 sogar ein Tilsiter Gesetz proklamiert und den Anschluss ihrer Heimat an das übrige Litauen gefordert. Im Strudel der Ereignisse wurden diese Forderungen nicht verwirklicht. Während sich die deutschen Armeen Anfang 1919 aus Vilnius zurückzogen, wurden sie durch marodierende Freikorps-Einheiten ersetzt, die sich aus deutschen Ex-Soldaten zusammensetzten, die auch nach dem formellen Ende des Ersten Weltkriegs weiterkämpfen wollten. Sie wurden schließlich Ende 1919 vertrieben.

Die kriegerischen Handlungen gingen weiter, als im Januar 1923 die Hafenstadt Memel/Klaipėda von lokalen litauischen Rebellen und regulären litauischen Truppen eingenommen wurde. Dies erwies sich als eine dauerhafte Quelle des Konflikts mit Deutschland. Die Konvention von Klaipėda von 1924 spezifizierte Minderheitenrechte, einschließlich Autonomie für die Region, aber ihre Integration blieb unruhig. Nichtsdestotrotz wuchsen die Handelsbeziehungen mit Deutschland rasant. Im Jahr 1938 kaufte Deutschland 27 Prozent der litauischen Exporte, hauptsächlich landwirtschaftliche Produkte, und lag damit nur hinter Großbritannien. Deutsche Touristen besuchten das Land, unter ihnen der Schriftsteller Thomas Mann, der sich in Nida an der Kurischen Nehrung ein Sommerhaus baute.

Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1932, schrieb der preußisch-litauische Lehrer, Philosoph und Theosoph Wilhelm Storost-Vydunas ein Buch mit dem Titel Sieben Hundert Jahre deutsch-litauischer Beziehungen. Es endete mit der Hoffnung, dass nun doch eine friedlichere Zukunft anbrechen müsse. Diese Hoffnung wurde schon im nächsten Jahr grausam enttäuscht. Mit der Machtübernahme Hitlers und der Nazis in Deutschland 1933 wurden die Weichen für kontinentale Zerrüttung und Verwüstung gestellt.

Die Nazis unterstützten die Agitation im Memelland. Im Jahr 1934 erklärte Litauen dort das Kriegsrecht und verfolgte im Neumann-Sass-Prozess 1934/35 pro-nazistische Agitatoren. Es kam zu Spannungen mit Deutschland, das ein Handelsembargo verhängte. Das endgültige Ergebnis kam im März 1939, als Hitler die sofortige Abtretung der Region Klaipėda an Deutschland forderte. Litauen musste zustimmen. Weitere Grenzveränderungen sollten folgen. Der zynische Nazi-Sowjet-Pakt vom August 1939 teilte Osteuropa in Zonen unter Hitler und Stalin auf. Nach Folgeabkommen fiel Litauen an die UdSSR, die das Land 1940 besetzte und mit der Sowjetisierung der Gesellschaft durch Repressionen und Deportationen begann.

Russen, Deutsche, wieder Russen

Dann, am 22. Juni 1941, griff Hitler mit dem Unternehmen Barbarossa seinen ehemaligen Verbündeten Stalin an. Die litauischen Widerstandskräfte hofften auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit, aber stattdessen kamen alle baltischen Länder unter eine größere Nazi-Einheit, das Reichskommissariat Ostland. Mit dem Einmarsch der Nazis begann das Massenmorden des Holocausts. Insgesamt kamen 90 Prozent der großen jüdischen Bevölkerung Litauens in dem von den Nazis mithilfe lokaler Kollaborateure inszenierten Völkermord um. Es starben mindestens eine Viertelmillion Menschen unter der Nazi-Besatzung. Im März 1943 wurde der Versuch, eine litauische SS-Legion aufzustellen, durch lokalen Widerstand vereitelt.

1944 kehrten die sowjetischen Armeen zurück. Als sie die Ostseeküste entlangzogen, wurden Jahrhunderte preußischer Geschichte ausgelöscht und die Bevölkerung floh in Gebiete, die der sowjetischen oder polnischen Verwaltung zugewiesen wurden. Königsberg wurde in Kaliningrad umbenannt, aus Tilsit wurde Sovetsk, und die Region wurde zum Kaliningrader Gebiet. In den Trümmern des Krieges suchten vertriebene preußische Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern verloren hatten, getrennt von ihren Familien, Zuflucht weiter östlich im ländlichen Litauen. Bauern, die diesen Unglücklichen den Spitznamen „Wolfskinder“ gaben, retteten viele, indem sie sie aufnahmen.

Mit dem Krieg suchten Massen von Litauern und anderen Balten Zuflucht im Westen. Über 60.000 fanden sich in den „Displaced Persons“-Lagern in Deutschland und Österreich wieder, darunter Hanau, Hamburg, Lübeck, Kempten und Eichstätt. Einige bauten sich in Deutschland ein neues Leben auf, aber die meisten konnten bis 1950 in die USA, nach Kanada oder Australien umgesiedelt werden.

„Die erfolgreichste Etappe“

Die Teilung Europas durch den Kalten Krieg schloss viele normale Wege in den deutsch-litauischen Beziehungen aus, beendete sie aber nicht. Ein wesentlicher Beitrag war die hervorragende deutsche Geschichtswissenschaft zum Baltikum. Heute führen das Nordost Institut unter Dr. Joachim Tauber und das Herder Institut in Marburg diese Beiträge fort. In der Literatur schuf der in Tilsit geborene deutsche Dichter Johannes Bobrowski Lyrik über die Natur seiner Heimat entlang des Nemunas (Memel-Flusses), von der er erklärte, sie sei trotz ihrer schwierigen Geschichte „wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und ein redlicher Versuch in deutschen Gedichten“.

Mit der Perestroika-Ära trugen die litauischen Forderungen nach Unabhängigkeit und die Erklärung der wiedererlangten Eigenstaatlichkeit am 11. März 1990 zur Systemkrise bei, die die Sowjetunion 1991 zu Fall brachte. Als sich die letzten sowjetischen Truppen Ende August 1993 friedlich aus Litauen zurückzogen, war das eine historische Trennlinie. Im Jahr 2004 wurde Litauen Mitglied der EU und der Nato.

Heute zeichnet sich, ganz im Gegensatz zu vielen vergangenen Etappen, ein sehr optimistisches Bild ab. 2018, kurz vor einem Treffen mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, erklärte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė ihre Überzeugung, dass Deutschland und Litauen „die erfolgreichste Etappe in der Geschichte der bilateralen Beziehungen“ erreicht hätten, noch nie seien sie so enge Verbündete und Freunde gewesen wie in der Gegenwart. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine Streitpunkte gibt, wie etwa die Sinnhaftigkeit der geplanten Nord-Stream-Pipeline. Aber der Geist der Beziehungen ist ausgesprochen positiv und vielversprechend, so wie es noch nie zuvor der Fall war.

Vejas Gabriel Liulevicius

Prof. Vejas Gabriel Liulevicius lehrt Geschichte an der Universität von Tennessee/USA. Ins Deutsche übersetzt wurde 2002 sein Buch Kriegsland im Osten – Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, das in der Hamburger Edition erschien.