Titelthema
Im Rausch des Positiven
Die Welt nach Corona wird nicht mehr dieselbe sein. Zum Glück. Neues Denken wird zu neuen Möglichkeiten führen. Der Mensch und das Füreinander werden wieder im Fokus der Aufmerksamkeit stehen – in einer guten Zukunft.
Hinter unserem Haus am Stadtrand von Wien, wo ich mit meiner Familie derzeit in coronaler Isolation lebe, ist der Wald voll mit Hunderten von Menschen, die in kleinen Gruppen umherwandern. Jung und Alt, Arm und Reich, Mensch und Tier. Paare, die in virologischer Einheit leben, küssen sich innig, aber immer mit zwei Meter Abstand zu anderen. Fünfergruppen mit Hund stehen da und lachen – worüber? Humor, im Gegensatz zu Zynismus, ist ein wunderbares Gegenmittel gegen das Virus. Kinder sind fröhlich, weil sie plötzlich dauernd mit den Eltern zusammen sind. Eine Wolke von Energie breitet sich aus – eine Art positive Gegeninfektion.
Kann so etwas anhalten? Unsere Kultur verändern? Vielleicht erleben wir das, was wir früher, also in der Prä-Corona-Zeit, am meisten vermissten: Selbstwirksamkeit. Das Gefühl, etwas bewirken zu können, fällt in der Coronakrise plötzlich zusammen mit dem Gefühl, etwas für die Gesellschaft zu tun. Indem wir unser Verhalten individuell ändern, sind wir plötzlich politisch. Indem wir für uns selbst sorgen, sorgen wir auch für andere. Die zerspaltene Welt fügt sich plötzlich zusammen.
Könnten wir dieses Gefühl von innerer Zukunftswerdung auch in eine Post-Corona-Zeit übernehmen? Könnten aus diesen vielen Menschen im Wald noch mehr werden? Alles läuft derzeit auf diese Frage hinaus. Unmöglich, sagen die Pessimisten. Menschen sind gierige Idioten, die sich nie ändern werden. Alle werden nach dem Leid der Krise noch schlechter drauf sein, es wird fürchterlich, ein Desaster, nach ein paar Monaten rennen und hetzen alle wieder wie zuvor. Ich bin mir da nicht so sicher.
Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona vorbei sein wird und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.
Die Welt „as we know it“ löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafé in einer Großstadt. Es ist warm und auf der Straße bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmecken der Wein, der Cocktail, der Kaffee wieder wie früher? Wie damals vor Corona? Oder sogar besser? Worüber werden wir uns rückblickend wundern?
Mutiger Blick nach vorn
Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten sich viele sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die das Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde sind zusammengerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst. Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fußballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Wut und Pöbeleien gab.
Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten, stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.
Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt und Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander? Wir staunen rückwärts, wie viel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden sind.
Just in time war gestern
Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie „Zusammenbruch“ tatsächlich passierte, obwohl es einen „schwarzen April“ gab. Heute im Herbst gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die globale Just-in-time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Globalsystem driftet in Richtung „Glokalisierung“: Lokalisierung des Globalen. Könnte es also sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?
Ich werde dieser Tage auch oft gefragt, was ich denen sage, die Angst haben. Auf diese Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Aber: Angst geht vorüber, und dann machen wir eine verblüffende Erfahrung: wir erleben eine Selbstverwandlung. Das ist nach jeder überstandenen Krankheit so, nach Trauerprozessen, nach Veränderungen, die uns forderten. Jeder hat das schon einmal erlebt, wenn er aus einer Krise herauskam und plötzlich „die Welt mit neuen Augen sah“.
Sich die Zukunft bewusst machen
Warum wirken diese Rückblicke aus der Zukunft so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunftssinns zusammen. Wenn wir „in die Zukunft“ schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme auf uns zukommen, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft.
Rückblicke aus der Zukunft bilden hingegen eine Erkenntnisschleife, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen heute und morgen. Es entsteht ein „Future Mind“ – Zukunftsbewusstheit. Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunftsintelligenz. Dann sind wir in der Lage, nicht nur die äußeren Events, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren. Wir alle kennen das Gefühl der geglückten Angstüberwindung. Nach der Bewältigung eines Problems kommt es zum Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Tatendrang.
Coping heißt: bewältigen. Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt, eine Art körpereigener Zukunftsdroge. Während uns Adrenalin zu Flucht oder Kampf anleitet, öffnet Dopamin unsere Hirnsynapsen: Wir sind gespannt auf das Kommende, neugierig, vorausschauend. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.
Erstaunlicherweise machen viele in der Coronakrise genau diese Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt endet, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren. Mitten im Shutdown laufen wir durch Wälder, Parks oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang. So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahrnehmungen und Weltverbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunftssinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.
Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AfD zeigt ernsthafte Erscheinungen des Zerfransens, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das dem Populismus innewohnt. Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwortlichkeiten bekam in dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie autoritär handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche.
Evolutionsbeschleuniger
Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese. Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.
Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schließung werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden. Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität sprechen, werden die Anführer von morgen sein. Die werdenden Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas.
Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der Kohlendioxid-Ausstoß der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.
Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war das Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt. Aber sie kann sich neu erfinden.
Wer mir zu viel Optimismus vorwirft, dem möchte ich erwidern: Es hilft den Menschen, die leiden, und denen unsere volle Empathie gilt, nicht im Geringsten, wenn wir alle nur finster mitleiden. Es würde vielmehr helfen, Mut zu machen. Das wäre konstruktiv.
Auch mit Zuversicht wäre schon viel gewonnen: Zuversichtliche Menschen erkennt man daran, dass sie etwas für möglich halten, was sie selbst mitgestalten. Also auch eine bessere Zukunft. Zuversicht ist reifer, erwachsener Optimismus, nicht blauäugig, sondern motivierend. Man traut sich etwas zu und damit verändert man die Welt, statt sich vor ihr zu fürchten.
System reset. Cool down! Musik auf den Balkonen! So geht Zukunft.
Matthias Horx ist einer der einflussreichsten Trend- und Zukunftsforscher des deutschsprachigen Raums. Er veröffentlichte 20 Bücher, von denen einige
zu Bestsellern wurden.