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Titelthema

Immer noch ein Kinderland

Titelthema - Immer noch ein Kinderland
Ein Mädchen bei der Gesangsprobe in einer Schule in Criuleni. Mehr als 100.000 moldawische Kinder wachsen ohne Vater, Mutter oder ohne beide Elternteile auf. © Andrea Diefenbach

Zehntausende moldawische Kinder wachsen ohne ihre Eltern auf, weil diese im Ausland arbeiten. Die Geschichte der Sozialwaisen

Liliana Corobca01.10.2022

Am Sonntag, dem 4. September 2022, saß ich im Bus von Chișinău nach Bukarest, nachdem ich auf der Buchmesse Bookfest Chișinău ein Buch vorgestellt hatte. Neben mir begann eine junge Frau ein Gespräch am Telefon, das sofort meine Aufmerksamkeit erregte, denn ich erkannte, dass sie mit ihrem Sohn sprach. Sie lobte ihn mit zärtlichen Worten und beruhigte ihn. „Was hast du denn? Wenn dir nichts wehtut, warum weinst du dann? Es war Nacht, es war kalt, Mama wollte dich nicht wecken. Mama ist nicht um der Reise willen gegangen, sondern aus der Not heraus.“ Sie unterhielten sich noch ein wenig, sie tröstete ihn noch etwas und bat ihn dann, das Telefon an die Großmutter weiterzureichen. In dem Gespräch mit ihr wurden die Sätze der Mutter wiederholt, aber die Mutter gab auch die Antworten des Kindes wieder.


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Seit Jahrzehnten das gleiche Drama, die gleiche ausweglose Situation. Das Kind fühlt sich verlassen, verraten, es ist sicher, dass seine Mutter es nicht mehr liebt. Zumindest schrieben das die Fachleute in Broschüren für Auswanderungswillige. Nach dem Erscheinen meines Buches Kinderland (2013) hatte ich die Gelegenheit, an vielen Veranstaltungen anlässlich der Übersetzung des Romans in verschiedene Sprachen sowie an Debatten und Treffen zum Thema Migration und verlassene Kinder teilzunehmen. Ich musste feststellen, dass das Phänomen immer noch präsent ist, mit den gleichen negativen Folgen wie in den Anfangszeiten. Mein Roman handelt von drei Kindern aus dem Dorf, in dem meine Eltern leben, inspiriert von realen Fällen – ich habe nicht über verlassene Kinder aus der Stadt geschrieben. Wahrscheinlich sind sie in der Stadt nicht allein, sondern bei einem Elternteil oder Verwandten untergebracht. Aber sie fühlen sich alle gleich einsam, sowohl in der Stadt als auch im Dorf.

Die Statistiken sind in dieser Hinsicht beeindruckend, auch wenn die Sachverständigen darauf hinweisen, dass es unmöglich ist, die genaue Zahl der verlassenen Kinder zu kennen. Da ich mich immer gefragt habe, wie viele Kinder in Moldawien konkret allein zu Hause sind, habe ich versucht, das herauszufinden, und bin auf die „Nationale Studie zur Situation von Kindern in Not und Kindern, deren Eltern im Ausland sind“ gestoßen, die 2012 vom Ministerium für Arbeit, Sozialschutz und Familie in Chișinău erstellt wurde. Demnach haben mehr als 100.000 Kinder (105.270), das heißt 14,5 Prozent aller Kinder in der Republik Moldau, Eltern, die ins Ausland gegangen sind; 53.695 haben keinen Vater, 29.950 haben eine Mutter, die weggegangen ist, und 21.625 wurden von beiden Elternteilen verlassen.

Die Moldauer reisen in die ganze Welt, sie haben nicht nur ein oder zwei Lieblingsziele. In meinem Roman habe ich eine typische Situation für moldawische Dörfer und mein Dorf im Besonderen verwendet: Vater in Russland, Mutter in Italien. Ziele der Auswanderung sind aber auch Länder wie Portugal, Spanien, Deutschland, Israel, die Türkei, Griechenland, Großbritannien, Norwegen, die USA und viele andere. Immer mehr junge Menschen wandern aus. 2016 waren beispielsweise 64 Prozent der ausgewanderten Personen unter 40 Jahre alt, die meisten von ihnen waren Frauen, was sich auch immer stärker auf die demografische Situation auswirkt.

Psychologische Traumata

Ich bin immer wieder gefragt worden, ob Maßnahmen ergriffen werden. Natürlich waren und sind im Laufe der Jahre verschiedene Ministerien, Agenturen, Ämter, Kommissionen, staatliche oder nicht staatliche und unabhängige Organisationen aktiv, die sich mit der Untersuchung und/oder Verbesserung der Situation im Bereich der Migration im Allgemeinen und der Kinder im Besonderen befassen. Im Jahr 2013 wurde das Gesetz Nummer 140 über den besonderen Schutz von gefährdeten und von ihren Eltern getrennten Kindern verabschiedet, das die Registrierung, die Überwachung und den Schutz von Kindern vorsieht, die ohne elterliche Fürsorge sind, weil diese im Ausland arbeiten gehen. Angesichts der problematischen Wirtschaftslage und der unsicheren politischen Situation reichen der institutionelle Rahmen und die spezialisierten Organisationen allein jedoch nicht aus, und die Republik Moldau ist nach wie vor eines der am stärksten von der Migration betroffenen Länder.

Aber ich bin keine Migrationsspezialistin, ich bin Schriftstellerin. Ich habe mit diesen Kindern unter dem Eindruck starker Emotionen, die mit einem konkreten Ereignis verbunden waren, gearbeitet. Die Statistiken sind kalt, und bei all den tragischen Zahlen hätte ich nie eine Geschichte, eine Fiktion darüber geschrieben. Es genügte mir, einen verängstigten kleinen Jungen vor mir zu haben, mit verzweifelten Augen, mit einem Gesicht, das so unglücklich war, dass ich ihn aufmuntern, ihn glücklich machen wollte. Ich bot ihm Spielzeug an, ich sprach sanft und warm mit ihm, aber er blieb genauso steif und stirnrunzelnd. Er hätte gerne seine Mutter an seiner Seite gehabt, nicht mich. Seine Mutter war weg, um Geld für sein besseres Leben zu verdienen. Ich wusste, dass ich damals, im Jahr 2010, darüber schreiben würde. Ich wusste auch, dass die psychologischen Traumata, die diese Kinder erleiden – nicht nur durch den Weggang der Eltern, sondern auch durch den Zerfall der Familien, durch Krankheit und Tod älterer Angehöriger, in deren Obhut sie zurückbleiben, durch die Übernahme der vollen Verantwortung für die Pflege und Erziehung jüngerer Geschwister sowie den Missbrauch ihrer Umgebung –, sie oft daran hindern, sich in die Gesellschaft zu integrieren. So sind beispielsweise die Suizide von Kindern erneut gestiegen, obwohl die Republik Moldau ohnehin zu den Spitzenreitern gehört: Platz 20 in der Welt in Bezug auf die Suizidrate mit etwa 600 Todesfällen pro Jahr, darunter rund 25 Kinder und Jugendliche.

Dennoch sind die Kinder des Kinderlandes keine zukünftigen Verlierer oder Kriminelle. Ich wollte nicht die dramatischsten Situationen zeigen, extreme Verzweiflung und Verfall. Cristina ist eine Kämpferin, sie hat nie an Selbstmord gedacht. Im Gegenteil, sie sucht in jeder schwierigen Situation nach Lösungen, versucht zu überleben, denn wer kümmert sich um ihre jüngeren Geschwister, wenn ihr etwas Schlimmes zustößt? Der Roman ist oft als Dokument, als realistisches Zeugnis der heutigen Realität beschrieben worden. Das muss so sein. Aber ich habe die Kinder erfunden, natürlich unter Verwendung realer Situationen. Ich hoffe also, dass es solche optimistischen, guten und starken Kinder gibt. Ich hoffe, dass auch diese mehr als 100.000 verlassenen Kinder in ihrer einsamen Kindheit Momente der Freude erleben und zu anständigen und ehrbaren Bürgern heranwachsen. Generell macht mich die Tatsache traurig und besorgt, dass diese Tragödie niemals endet. Der Roman wird immer noch übersetzt, ich nehme immer noch an Debatten teil und spreche bis heute über dieses Phänomen. Aber ich habe vor vielen Jahren geschrieben, dass ich als Arzt schreibe, der eine Wunde entdeckt hat, um sie zu heilen. Ich habe über die Migration geschrieben, damit sie eine letzte Aufmerksamkeit bekommt und hoffentlich bald nicht mehr existiert.


Buchtipp

 

Liliana Corobca

Der erste Horizont meines Lebens

Zsolnay Verlag 2015,

192 Seiten, 18,90 Euro

Liliana Corobca
Liliana Corobca wurde in Moldawien geboren, lebt in Bukarest und ist Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. Sie hat acht Romane und Studien über Zensur, Exil und Deportation veröffentlicht.