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Immer wieder: Frankreichs unzufriedene Jugend

Forum - Immer wieder: Frankreichs unzufriedene Jugend
Wut, die sich entlädt: Brennende Mülltonnen liegen auf der Straße, die protestierende Menge steht dahinter. © moritz thibaud/abaca/picture alliance

Liberté, Égalité, Fraternité: Frankreich scheint von seinem Wahlspruch weiter entfernt denn je – das zeigten wieder einmal gewaltsame Proteste.

Johannes Maria Becker01.08.2023

Wieder ist es passiert: Ein junger Mann mit – hierzulande würden wir sagen Migrationshintergrund wurde bei einer Polizeikontrolle erschossen. Kritische Stimmen sprachen von einer Hinrichtung. Es entluden sich in den zwei Wochen danach tiefgehende soziale Auseinandersetzungen: Pkw, Busse, Straßenbahnen wurden angezündet, abgebrannt, zumindest beschädigt. Schaufenster gingen zu Bruch. Schulen und kommunale Einrichtungen wurden angegriffen, teilweise zerstört. Eine in Deutschland wie in Österreich ungekannte Gewalt brach sich erneut Bahn.


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Aber worin liegen eigentlich die Ursachen für das Geschehen? Wo finden sich die großen Unterschiede zu unseren Ländern? Was ist den Regierungsverantwortlichen in Paris zu raten?

Die Lage der französischen Jugend ist kompliziert. Ein duales Ausbildungssystem ist nur in Ansätzen vorhanden, darüber hinaus ist das Bildungswesen von einem Zwei- oder gar Drei-Klassen-System gekennzeichnet. Die Jugendarbeitslosigkeit ist seit Jahren doppelt so hoch wie in Deutschland und Österreich.

Die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen in Frankreich wird durch die Wohnsituation vor allem in den Banlieues der großen Städte akzentuiert: Hier leben Tausende in oft heruntergekommenen Wohnriegeln. Die sozialen Probleme sind auch außerhalb der Jugend unübersehbar, teilweise haben sich Parallelgesellschaften entwickelt. Da fehlt oft nur ein Funke, und Unmut und Verdruss schlagen in Gewalt um.

Dieser Unmut trifft häufig auf Polizeikräfte, für die das Wort Deeskalation ein Fremdwort zu sein scheint – in deutschen Polizeiakademien ist dies ein Pflichtthema und Handlungsziel. Erinnert sei nur an die Bilder aus den Gelbwesten-Kämpfen der Jahre 2018/19 auf Frankreichs Straßen. Da verloren Dutzende ihr Augenlicht oder Gliedmaßen durch Polizeigeschosse und rohe Gewalt. An dieser Stelle sollen die rassistischen, xenophoben Probleme bei Deutschlands Polizei zum Beispiel in Hessen, Hamburg oder anderen Bundesländern mitnichten beschönigt werden: Deren Auswüchse in der Realität sind jedoch von völlig unterschiedlicher Quantität wie Qualität.

Offener und versteckter Rassismus

Diese Geschehnisse werden häufig sowohl bei den Sicherheitskräften als auch bei der Bevölkerung von offenem und verstecktem Rassismus begleitet, der sich in erster Linie gegen Menschen mit maghrebinischem Hintergrund richtet. Es scheint, dass Frankreich auch über 60 Jahre nach dem Loslösen Algeriens aus der kolonialen Umklammerung die grausame Politik der letzten Jahre vor und nach den Verträgen von Evian (1962) noch nicht aufgearbeitet hat. Algerien hatte für das riesige französische Kolonialreich eine besondere Bedeutung: Es war eine in zwei Departements aufgeteilte Siedlungskolonie, „l’Algérie française“. Deren Verlust wurde als ungekannte Kränkung empfunden.

Zur Tiefe der Auseinandersetzungen, die wir gerade wieder erlebt haben, trägt auch bei, dass jenseits des Rheins Revolte und gar Revolution positiver als hierzulande konnotiert sind. Der 14. Juli ist im Gedenken an 1789 der Nationalfeiertag, die Revolutionen von 1830, 1848, die Pariser Kommune von 1871, der 8. Mai 1940 werden in Frankreich gefeiert. In Deutschland: Fehlanzeige. Eine Folge: Jugendliche, die Randale machen, sind in Frankreich nicht in dem Maße isoliert wie in Deutschland.

Mitte Juli flachte die Bewegung ab, was nicht zuletzt mit den beginnenden Ferien in den Schulen, Verwaltungen und Betrieben zu tun hat. Die aufgezeigten strukturellen Probleme indes bleiben.

Was könnte Macron tun?

Aktive Sozialarbeit in den unwirtlichen Wohnvierteln der Banlieue-Städte ist kurz- und mittelfristig zu organisieren, einzelne Modellprojekte gibt es auch in Frankreich, etwa in Marseille. Die Polizeiausbildung muss dringend modernisiert werden, die Differenzen zu benachbarten Ländern wie Deutschland sind flagrant. Allerdings: Den Rassismus in der Gesellschaft und in den staatlichen Institutionen zu bekämpfen ist freilich ein Mehr-Generationen-Projekt. Hierzu müsste – bleiben wir beim Beispiel Algerien – die gesamte Geschichte des dortigen Kolonialismus aufgearbeitet werden. Es müssten die Themen der Besiedlung und Ausbeutung behandelt werden, auf beiden Seiten auch die Verbrechen im Loslösungsprozess. Das komplizierte Verhältnis Frankreichs zu seinen vormaligen Kollaborateurinnen und Kollaborateuren sollte ebenso angegangen werden wie das Schicksal der französischen Siedler nach der Unabhängigkeit. Und schließlich wäre auch der Blick auf neokoloniale Strukturen zu richten: Frankreich wie andere frühere Kolonialstaaten weben nach wie vor ein feines Netz an Abhängigkeiten zu ihren ehemals abhängigen Territorien und deren Bevölkerungen. Hier ist es nicht mit wortgewandten Entschuldigungen getan.

Beschäftigungsprogramm

Für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit indes gibt es ein französisches Beispiel aus den 1990er Jahren, das rasch in einer Neuauflage angegangen werden könnte. Von 1997 bis 2002 wurde Frankreich von einer „Cohabitation“ unter dem sozialdemokratischen Premierminister Lionel Jospin regiert; Staatspräsident war zu der Zeit der Gaullist Jacques Chirac. Die Jugendarbeitslosigkeit lag bei etwa 40 Prozent. Premier Jospin, er entstammt einer sehr sozial orientierten Pädagogenfamilie, entwarf mit seiner Linksregierung ein Beschäftigungsprogramm, das in seiner Qualität wie Quantität epochal genannt werden muss:

  1. Der französische Staat finanzierte für fünf Jahre ein Beschäftigungsprogramm.
  2. Der Zentralstaat trug 80 Prozent des Mindestlohns bei.
  3. Das Programm wurde für 700.000 Jugendliche ausgeschrieben. 350.000 Stellen wurden der Wirtschaft, 350.000 öffentlichen Institutionen zur Ausschreibung übertragen.

Nach wenigen Wochen war der Arbeitskräftemarkt junger Menschen wie leer gefegt. 700.000 erwerbslose Jugendliche hatten eine Perspektive erhalten, wodurch sie ihre weitere Bildung und Ausbildung planen konnten. Auch für die Wirtschaft und öffentliche Institutionen war der nun geschaffene mittelfristige Planungshorizont günstig. Übrigens wurde in dieser Cohabitationsregierung die 35-StundenWoche in Frankreich verankert.

Eine triviale Erkenntnis aus diesem Prozess muss sich auch im Frankreich der Regierung Macron/Borne durchsetzen: Investitionen in Bildung und Ausbildung sind kostengünstiger, vor allem zukunftsträchtiger als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit und von Repressions- und Sicherheitskräften.

Marine Le Pen ante portas?

Eine letzte Überlegung zum Schreckgespenst Le Pen beziehungsweise Rassemblement National: In der Tat bewegen sich deren Umfragewerte für die Präsidentschaftswahl 2027 stabil über 25 Prozent. Ebenso stabil kommt ein möglicher bürgerlicher Nachfolger von Präsident Macron auf knappe 30 Prozent, was schließlich auch für die Linke gälte, wenn sie sich denn auf eine gemeinsame Kandidatur einigen könnte. Die Hausaufgaben für diese beiden Lager habe ich aufgezeigt. 

Johannes Maria Becker

Johannes Maria Becker ist ein deutscher Politologe, Friedensforscher und ehemaliger Geschäftsführer am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Er forschte unter anderem zur Zukunft des deutsch-französischen Verhältnisses. 

protestinstitut.eu