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Zeit für eine ehrliche Debatte

» Integration ist keine Einbahnstraße «

Worauf wir uns einstellen müssen, wenn Einwanderung und Integration gelingen sollen

Klaus J. Bade13.02.2015

Ein Gespenst geht um in der Republik. Es heißt „Pegida“ und kommt aus Dresden. Es sucht auch andernorts Fuß zu fassen und provoziert Gegendemonstrationen, die oft größer sind als das Gespenst und seine Ableger selber. Dahinter verbirgt sich eine vielgestaltige, vorwiegend mittelständische Protestbewegung mit oft diffusen, zum Teil auch rassistischen Vorstellungen, begleitet von rechtsextremistischen Randgruppen und nicht minder gewaltbereiten Hooligans.


Abstiegsängste der Einheimischen


Das Motto „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) wirkt im Spiegel – nicht repräsentativer – Umfragen eher aufgesetzt: Trotz der seit Jahren aggressiv hämmernden und brandstiftenden „Islamkritik“, trotz des blutigen islamistischen Terrors von „Boko Haram“ im afrikanischen, von „ISIS“ im arabischen Raum und trotz islamistischer Terrorakte in Europa wie zuletzt gegen die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris stehen auf den ersten Plätzen der mittelständischen Sorgenliste andere Probleme:
Es geht um soziale Abstiegsängste, Rentenprobleme und Altersarmut, um Kulturangst und ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Politik („die da oben“) und Medien („Lügenpresse“) bei der Behandlung der Themen Zuwanderung, Integration und Asyl. Das alles schäumt auf in einem gefährlichen Gebräu von begründeter Kritik, Halbwahrheiten, Fehleinschätzungen, Projektionen und Sündenbock-Theoremen. Nötig ist eine ehrliche Debatte – solange die Adressaten dafür noch erreichbar sind.

Im demografischen Wandel braucht Deutschland dauerhaft starke Zuwanderung. Sie soll das schrumpfende Arbeitskräfteangebot ergänzen und die durch das wachsende Missverhältnis von Beitragszahlern und Rentnern gefährdeten Sozialsysteme entlasten.

Aber Zuwanderung ist kein Allheilmittel. Sie kann die nicht nur gefürchteten, sondern die – ohne die hohen aktuellen Zuwanderungsgewinne – längst eingetretenen Begleiterscheinungen des demografischen Wandels nicht aufheben. Sie kann sie nur abfedern, bis die unumgänglichen Sozialreformen kommen, vor denen die Politik aus Angst vor den Wählern noch immer zurückscheut. Ohne starke Zuwanderung aber würden das Angebot-Nachfrage-Verhältnis am Arbeitsmarkt gefährdet werden, Sozialsysteme und insbesondere Rentensicherung schon bald in die Krise geraten.

Mehr oder minder erfolgreich

Bei starker und anhaltender Zuwanderung stellen sich besondere Integrationsprobleme auch für die Mehrheitsbevölkerung im Sinne der von mir vor rund einem Vierteljahrhundert geprägten Redewendung: „Integration ist keine Einbahnstraße!“.

In Sachen Integration war und ist Deutschland zwar besser als sein Ruf im Land. Skandalisierend geredet und geschrieben wird meist über auffällige Beispiele gescheiterter Integration. Sie bestätigen in Wahrheit als Ausnahmen eher die Regel der mehr oder minder erfolgreichen Integration. Das zeigen einschlägige Statistiken.
Aber es gibt auch Schattenseiten in Gestalt von aus sozialen Gründen oder durch ethnische Koloniebildung verzögerter oder auch misslungener Integration, bis hin zu Segregation, Abwendung und Radikalisierung. Und es gibt gerade hier notwendige, seit einigen Jahren besonders intensivierte, aber noch immer unvollendete Großbaustellen, vor allem in den Bereichen Bildung und Teilhabe am Arbeitsmarkt.

„Nachholende Integrationsförderung“, wie ich das seinerzeit einmal genannt habe, wird dabei für die Zukunft wohl weniger nötig sein: einerseits, weil es einschlägige Erfahrungen gibt, die als Lehren der Integrationsgeschichte wirken sollten; andererseits, weil die Sozial-, Bildungs- und Berufsprofile der in der Regel gut qualifizierten neuen Zuwanderung auch im Blick auf künftige Herausforderungen meist erheblich passfähiger sind als seinerzeit diejenigen der ehemaligen „Gastarbeiterbevölkerung“.
 
Fremd im eigenen Land?

Die Einwanderungsgesellschaft hat ihre eigenen Probleme beim Zusammenwachsen von Mehrheits- und
Einwandererbevölkerung. Das ist ein oft anstrengender, weil eigendynamischer und unübersichtlicher Prozess. Er kann in Kreisen der einheimischen Mehrheit Verunsicherung und das Gefühl wecken, „Fremde im eigenen Land“ zu werden. Die Folge können Identitätskrisen und Kulturängste sein.

Auf der einen Seite wächst die Zahl der Kulturoptimisten. Sie akzeptieren die zunehmende kulturelle Vielfalt als alltägliche Normalität. Auf der anderen Seite steht die abnehmende, aber umso lauter protestierende Gruppe der Kulturpessimisten. Sie verstehen kulturelle Vielfalt als Bedrohung und projizieren ihre Ängste oft ersatzweise auf die Schwächsten der Schwachen: auf Flüchtlinge, Asylsuchende und sogenannte Wirtschafts- und Armutswanderer.

Und der aus dem Einigungsprozess geklaute, in seiner Botschaft verdrehte Demonstrationsrefrain „Wir sind das Volk“ lässt weltweit das Bild vom „hässlichen Deutschen“ auferstehen. Das ist das weltweit aufsehenerregende Gegenteil von „Willkommenskultur“ und Zuwandererwerbung für Deutschland – aber auch für Dresden selbst; denn der mit rund 3700 Beschäftigten größte Arbeitgeber der Stadt ist ausgerechnet ein arabisch-muslimischer Chip-Produzent aus Abu Dhabi.

Die Fehler der Politik

Im Hintergrund der Empörung von Angst- und Wutbürgern steht auch ein Versagen von Politik. Über Jahrzehnte hinweg haben politische Stimmen und ihr Echo in den Medien, besonders zu Wahlkampfzeiten, die Fremdenangst vor „Sozialschmarotzern“ und „Asylbetrügern“, sogar vor „Wirtschaftswanderern“ und an­geblich „unkontrollierter Zuwanderung“ genährt.

Politik aber hat durch die konzeptlose „Anwerbepolitik“ bis zum „Anwerbestopp“ von 1973 unbeabsichtigt den Weg zum Einwanderungsland eröffnet. Sie hat dann in demonstrativer Erkenntnisverweigerung lange die wirklichkeitsfremde Legende hochgehalten, dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei. Die zunehmend irritierte Öffentlichkeit war dabei in der Wahrnehmung der Einwanderungssituation oft weiter als die Politik.
 Aktuell versagt Politik erneut vor der Umkehr der Verhältnisse: Heute ist Migrationspolitik unter dem Druck des demographischen Wandels mit Siebenmeilenstiefeln der öffentlichen Wahrnehmung vorausgeeilt. Sie hat, auch nach Auffassung der OECD, das offenste Zuwanderungsrecht in den westlichen Industriestaaten geschaffen – und dabei die Mehrheitsbevölkerung in weiten Teilen teils überfordert, teils ratlos zurückgelassen. Umso mehr gehen bereichsweise Wut, Angst und die erwähnten Sündenbock-Projektionen um, die von rechtspopulistischen Rattenfängern ausgebeutet werden.

Nötig ist ein mutiges und ehrliches Nachsteuern: In der inzwischen mehrere Generationen umfassenden Einwanderungsgesellschaft geht es heute, von Neuzuwanderern und nachholender Integrationsförderung abgesehen, nicht mehr nur um die „Integration von Migranten“. Es geht um teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

Und für die deutsche Mehrheitsbevölkerung geht es um Orientierungshilfen in dem rasanten kulturellen Wandel, der das Gesicht der Einwanderungsgesellschaft stets aufs Neue verändert. Das ist gesellschaftspolitisch von eminenter Bedeutung; denn die Kampfthemen Einwanderung und Islam sind die wichtigsten Bindemittel aller rechtspopulistischen Strömungen in Europa. Es gilt, ihnen durch kluge Argumente und pragmatische Politik diese Kampfthemen zu entwinden. Sonst werden schwere kulturelle und soziale Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft die Folge sein.
 
Gestaltungsaufgaben

Die starken Zuwanderungen stammen heute weitestgehend aus Europa und insbesondere aus der EU. Das wird nicht so bleiben. Für die deshalb nötige verstärkte Zuwanderung aus Drittstaaten müssen wir uns anders aufstellen. Einige Zuwanderungserleichterungen im Sinne des schon vorhandenen sogenannten kleinen Punkte-
systems zugunsten von Höchstqualifizierten und gesuchten Facharbeitern sind dafür nicht genug.
 Und wir müssen Zuwanderung und Asyl besser aufeinander abstimmen: Der Asylbereich darf als humanitäre Dimension nicht angetastet oder gar wirtschaftlichen Interessen unterworfen werden. Aber es ist absurd, dass wir unter den Asylsuchenden aus Drittstaaten jenseits von Europa Hochqualifizierte und Fachkräfte zurückschicken, nach denen wir selber händeringend suchen, statt ihnen legale Zuwanderung eröffnen.

Die negative Bewertung des an sich positiven Begriffs „Wirtschaftswanderer“ stammt nur daher, dass viele Zuwanderer aus Drittstaaten glauben, sich nach oft lebensgefährlichen Wegen an die Grenzen der „Festung Europa“ dort durch das Nadelöhr der Asylverfahren hindurchlügen zu müssen. Dabei aber wird der Verdacht auf wirtschaftliche Motive in der Regel gleichgesetzt mit dem Anfangsverdacht auf „Asylmissbrauch“.
 Das europäische Asylsystem muss von Grund auf reformiert werden. Dazu gehören eine an Bevölkerungsgröße und Wirtschaftsstärke orientierte Lastenverteilung in Europa und mehr legale Zuwanderungswege nach Europa. Das wird schwer werden. Es ist aber zweifelsohne besser als der inhumane transnationale Verschiebebahnhof, den Menschen in Not erdulden müssen und dessen Folgen einseitig den „Asyltouristen“ zugeschrieben werden. 

Klaus J. Bade
Prof. Dr. Klaus J. Bade ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater. Er war Begründer des Osnabrücker „Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien“ (IMIS), des bundesweiten „Rates für Migration“ (RfM) und zuletzt bis 2012 Gründungs­vorsitzender des Sach­verständigenrats deutscher Stiftungen für Integration
und Migration. www.kjbade.de

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