Papst Benedikt XVI. im Gespräch mit Peter Seewald
Jesus Christus kehrt zurück
Im Sommer 2010 traf der Journalist Peter Seewald Joseph Ratzinger, um ihn nach 2004 und 2005 ein drittes Mal ausführlich über Gott und die Welt zu befragen. Vor wenigen Tagen erschien das daraus entstandene Buch „Licht der Welt“. Das »Rotary Magazin« druckt daraus den nachfolgenden Auszug, in dem sich Benedikt XVI. über den historischen und den geglaubten Jesus äußert.
Seewald Eines der herausragenden Ereignisse des bisherigen Pontifikats ist das Erscheinen des ersten Bandes Ihres Jesus-Buches, dem nun der zweite folgen wird. Zum ersten Mal legt damit ein amtierender Papst eine dezidierte theologische Studie über Jesus Christus vor. Auf dem Umschlag allerdings steht als Autorenname Joseph Ratzinger.
Benedikt XVI. Es ist eben kein Buch des Lehramts, kein Buch, das ich in meiner päpstlichen Vollmacht geschrieben habe, sondern ein Buch, das ich mir als letztes großes Opus lange vorgenommen und mit dem ich bereits vor meiner Wahl zum Papst begonnen hatte. Ich wollte damit ganz bewusst nicht einen lehramtlichen Akt setzen, sondern in die theologischen Auseinandersetzungen mit eintreten und versuchen, eine Exegese vorzulegen, eine Auslegung der Schrift, die nicht einem positivistischen Historismus folgt, sondern den Glauben als Element der Auslegung mit einbezieht. Das ist natürlich in der gegenwärtigen exegetischen Landschaft ein ungeheures Risiko. Aber wenn Schriftauslegung wirklich Theologie sein will, dann muss es das geben. Und wenn der Glaube uns helfen soll, zu verstehen, dann darf er nicht als Hindernis verstanden werden, sondern als Hilfe, damit wir den Texten, die aus dem Glauben kommen und zu ihm führen wollen, auch näherkommen.
Ein Papst wird nicht gewählt, um Bestsellerautor zu werden. Aber muss es Ihnen nicht nachgerade als Fügung erscheinen, dass Sie dieses Buch nun ausgerechnet da vorlegen können, wo Ihnen nach dem kleinen Katheder der Universität die Kathedra Petri als die größte Bühne der Welt zur Verfügung steht?
Das überlasse ich dem Lieben Gott. Ich wollte das Buch geben, um Menschen zu helfen. Wenn es aufgrund der Wahl zum Papst noch mehr Menschen helfen kann, freue ich mich natürlich.
„Jesus von Nazareth“ ist die Quintessenz eines Mannes, der sich als Priester, Theologe, Bischof, Kardinal und nun als Papst sein ganzes Leben mit der Gestalt Jesu beschäftigt hat. Was war Ihnen besonders wichtig?
Eben dass in diesem Menschen Jesus – er ist ja ein wirklicher Mensch – mehr als ein Mensch da ist. Und dass nicht erst im Laufe von weitergehenden Mythisierungen sozusagen das Gottheitliche hinzugefügt worden ist. Nein, schon am Ursprung der Gestalt, in der ersten Überlieferung und Begegnung, erscheint etwas, was alle Erwartungen durchbricht.
Ich habe gelegentlich gesagt, am Anfang steht das Besondere; die Jünger müssen es erst langsam rezipieren. Am Anfang steht auch das Kreuz. Die Jünger versuchen zunächst noch, das Ereignis im Kontext des allgemein Zugänglichen zu verstehen. Erst allmählich öffnet sich die ganze Größe Jesu, und sie sehen immer deutlicher, was am Ursprung stand; sehen also die Ursprünglichkeit der Jesusgestalt, von der wir im Credo sprechen: Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, empfangen durch den Heiligen Geist.
Was will Jesus von uns?
Er will von uns, dass wir Ihm glauben. Dass wir uns von Ihm führen lassen. Dass wir mit Ihm leben. Und so immer mehr Ihm ähnlich und damit richtig werden.
Das Ereignis Ihres Werkes ist, dass es einen Paradigmenwechsel markiert, eine Wende in der Betrachtung und im Umgang mit den Evangelien. Die historisch-kritische Methode hatte ihre Verdienste, aber sie hat auch eine verhängnisvolle Fehlentwicklung eingeleitet. Sie hat mit ihrer „Entmythologisierung“ nicht nur zu einer ungeheuren Verflachung und Blindheit gegenüber den Tiefenschichten und den untergründigen Botschaften der Bibel geführt. Heute müssen wir feststellen, dass die vermeintlichen Fakten der Skeptiker, die seit 200 Jahren so gut wie alle Angaben der Bibel relativierten, vielfach nur blanke Hypothesen waren.
Müsste man nicht noch deutlicher sagen als bisher, dass hier zum Teil eine Pseudowissenschaft betrieben wurde, die nicht christlich, sondern antichristlich operierte und Millionen von Menschen in die Irre geführt hat?
Ich würde nicht ganz so hart urteilen. Die Anwendung der historischen Methode auf die Bibel als einen historischen Text war ein Weg, der gegangen werden musste. Wenn wir glauben, dass Christus wirkliche Geschichte und nicht Mythos ist, muss das Zeugnis von Ihm auch geschichtlich zugänglich sein. Insofern hat die historische Methode uns auch vieles geschenkt. Wir sind wieder näher am Text und seiner Ursprünglichkeit, sehen genauer, wie er gewachsen ist und vieles mehr.
Die historisch-kritische Methode wird immer eine Dimension der Auslegung bleiben. Das Vatikanum II hat dies deutlich gemacht, indem es einerseits die wesentlichen Elemente der historischen Methode als notwendigen Teil des Zugangs zur Bibel darstellt, aber gleichzeitig hinzufügt, die Bibel muss in dem Geist gelesen werden, in dem sie geschrieben wurde. Sie muss in ihrer Ganzheit, in ihrer Einheit gelesen werden. Und das ist nur möglich, wenn man sie als ein Buch des Volkes Gottes betrachtet, das voranschreitend auf Christus zugeht.
Notwendig ist nicht einfach ein Abbruch, sondern eine Selbstkritik der historischen Methode; eine Selbstkritik der historischen Vernunft, die ihre Grenzen einsieht und die Kompatibilität mit einer Erkenntnis aus dem Glauben heraus erkennt; kurzum: die Synthese zwischen einer rational historischen und einer vom Glauben her geleiteten Auslegung. Wir müssen beides in der richtigen Weise zueinander bringen. Und das entspricht auch dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft.
Fest steht: Jesus ist nicht nur durch die Schriften der Evangelien dokumentiert, sondern zudem durch mannigfaltige außerbiblische Quellen. Sie lassen weder Zweifel an seiner historischen Existenz noch an seiner Verehrung als den seit Langem erwarteten Messias zu. Die Autoren der Evangelien haben präzise recherchiert und spannend und wahrhaftig aufgeschrieben, ohne dem Versuch zu erliegen, etwas zu glätten oder zu glorifizieren. Die Details ihres Berichtes stimmen mit den historischen Realitäten überein.
Um es deutlich festzuhalten: Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass der historische Jesus und der sogenannte „Jesus des Glaubens“ absolut identische Realitäten sind?
Das war sozusagen der Hauptpunkt meines Buches, zu zeigen, dass der geglaubte Jesus wirklich auch der historische Jesus ist und die Figur, wie sie die Evangelien zeigen, viel realistischer und glaubhafter ist als die vielen anderen Jesusgestalten, die uns immer wieder vorgeführt werden. Sie sind nicht nur ohne Fleisch und Blut, sondern auch unrealistisch, weil durch sie nicht erklärbar ist, wie plötzlich ganz schnell etwas ganz anderes da ist, was über alles Gewöhnliche hinausgeht.
Natürlich haben Sie da ein ganzes Wespennest von historischen Problemen angestochen. Ich würde da vorsichtiger sein und sagen, Detailuntersuchungen sind weiterhin wichtig und nützlich, auch wenn das Übermaß der Hypothesen allmählich zur Absurdität führt. Klar ist, dass die Evangelien auch von der konkreten Situation der Überlieferungsträger mitbestimmt sind und sich sofort im Glauben inkarnieren. Aber in solche Details können wir hier nicht eintreten. Das Wichtige ist: Realistisch, historisch ist nur der Christus, den die Evangelien glauben; nicht der, den man in den vielen Untersuchungen neu herausdestilliert hat.
Die Evangelien wurden nicht zeitfern vom Geschehen aufgezeichnet, wie man lange Zeit dachte, sondern besonders zeitnah. Zudem wurden diese Schriften in beispielloser Texttreue überliefert. Wer heute das Neue Testament liest, liest es, von Unsicherheiten bei der Übersetzung einzelner Wörter und stilistischen Fragen abgesehen, genau so, analysierte der Texthistoriker Ulrich Victor, wie es vor 2000 Jahren aufgeschrieben wurde.
Heißt das, dass es eine „Formung“ und damit eine „Um-Formung“ der Botschaft Jesu durch die Urgemeinde oder durch spätere Generationen, wie es von vielen Bibelauslegern behauptet wird, nie gegeben hat?
Klar ist erstens: Die Texte sind zeitnah. Wir kommen, vor allem auch durch Paulus, direkt an die Ereignisse heran. Sein Abendmahls- und Auferstehungszeugnis – 1 Korinther 11 und 15 – stammt wörtlich aus den 30er Jahren. Zweitens: Klar und evident ist auch, dass man die Texte ehrfürchtig als heilige Texte behandelt und sie im Gedächtnis und dann in schriftlicher Form fixiert und überliefert hat.
Aber richtig ist natürlich auch – wir sehen das im Vergleich der synoptischen Evangelien –, dass zwischen den drei Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas ein und dasselbe in leichten Variationen überliefert wird und auch die Zeit- oder Ereigniskontexte unterschiedlich fixiert sind. Das heißt, dass von den Überlieferungsträgern doch auch eine Beziehung zum Verstehen der jeweiligen Gemeinde hergestellt worden ist, in der dann das Bleibende des Vergangenen schon erscheint. Insofern muss man darauf achten, dass es nicht um protokollartige Notizen ging, die sozusagen einfach nur Fotografien sein sollten. Es ging um sorgfältige Treue, aber Treue, die schon mitlebt und formt, ohne dabei allerdings das Wesentliche zu beeinflussen.
Der Theologe Joseph Ratzinger weist mit bestechenden Fakten und bestechender Logik nach: Jesus ist der, der alle Vollmacht hat, der Herr über das All, Gott selbst, der Mensch geworden ist. Die Erscheinung Jesu hat die Welt verändert, wie sie noch nie verändert wurde. Sie ist der größte Einschnitt und Umbruch der Menschheitsgeschichte. Und dennoch wird es immer einen Rest an Zweifel geben. Vielleicht auch, weil der Akt der Inkarnation Gottes in einem Menschen unser Fassungsvermögen ganz einfach übersteigt?
Ja, da ist Ihnen völlig recht zu geben. Es ist einfach der Freiheit des menschlichen Entscheidens und Ja-Sagens Raum gelassen. Gott zwingt sich nicht auf, etwa in der Art, wie ich feststellen kann: Hier auf dem Tisch ist ein Glas; es ist da! Sein Dasein ist eine Begegnung, die bis ins Innerste und Tiefste des Menschen hinabreicht, die aber nie auf die Greifbarkeit einer bloß materiellen Sache reduziert werden kann. Deshalb ist von der Größe des Geschehens her klar, dass Glaube immer ein Geschehen in Freiheit ist. Dieses Geschehen birgt in sich die Gewissheit, dass es sich hier um etwas Wahres, um Wirklichkeit handelt – aber es schließt umgekehrt auch die Möglichkeit der Leugnung nie ganz aus.
Muss die Beschäftigung mit Leben und Lehre Christi nicht immer auch eine Anfrage an die Kirche sein? Muss es einem da, gerade wenn man sich auch als Autor noch einmal ganz neu in diese Geschichte hineinbegibt, nicht auch schummerig werden, wie weit die Kirche immer wieder von dem Weg abgewichen ist, den ihr der Sohn Gottes gewiesen hat?
Tja, das haben wir ja gerade in dieser Zeit der Skandale erlebt, dass es einem wirklich schummerig wird darüber, wie armselig die Kirche ist und wie sehr ihre Mitglieder in der Nachfolge Jesu Christi versagen. Das ist das eine, was wir zu unserer Demütigung, zu unserer wirklichen Demut erfahren müssen. Das andere ist, dass Er sie trotzdem nicht loslässt. Dass Er sie trotz der Schwachheit der Menschen, in denen sie sich darstellt, hält, in ihr die Heiligen erweckt und durch sie da ist. Ich glaube, diese beiden Empfindungen gehören zusammen: Die Erschütterung über die Armseligkeit, die Sündigkeit in der Kirche – und die Erschütterung darüber, dass er dieses Werkzeug nicht loslässt, sondern damit wirkt; dass er sich durch die Kirche und in ihr immer wieder zeigt.
Jesus bringt nicht nur eine Botschaft, er ist auch der Heiland, der Heiler, der „Christus medicus“, wie es ein altes Wort ausdrückt.
Ist es in dieser vielfach so kaputten, unheilen Gesellschaft, über die wir in diesem Interview viel gesprochen haben, nicht gerade auch die vordringliche Aufgabe der Kirche, speziell das Heilsangebot des Evangeliums deutlich zu machen? Jesus machte seine Jünger immerhin stark genug, dass sie neben der Verkündung auch Dämonen austreiben und heilen konnten.
Ja, das ist entscheidend. Die Kirche legt den Menschen nicht irgendetwas auf und bietet nicht irgendein Moralsystem dar. Wirklich entscheidend ist, dass sie Ihn gibt. Dass sie die Türen zu Gott aufmacht und damit den Menschen das gibt, was sie am meisten erwarten, was sie am meisten brauchen, und was ihnen auch am meisten helfen kann. Sie tut es vor allen Dingen durch das große Wunder der Liebe, das immer wieder geschieht. Wenn Menschen – ohne einen Profit zu haben, ohne das als Job machen zu müssen – von Christus motiviert anderen beistehen und ihnen helfen. Dieser, wie Eugen Biser sagt, therapeutische Charakter des Christentums, der heilende und schenkende, müsste in der Tat viel deutlicher in Erscheinung treten.
Ein großes Problem für Christen ist das Ausgesetztsein in einer Welt, die im Grunde ein Dauerbombardement gegen die alternativen Werte christlicher Kultur liefert. Ist es nicht eigentlich unmöglich, dieser Art weltweiter Propaganda für negatives Verhalten ganz zu widerstehen?
Tatsächlich brauchen wir gewissermaßen Inseln, wo der Glaube an Gott und die innere Einfachheit des Christentums lebt und ausstrahlt; Oasen, Archen Noahs, in die der Mensch immer wieder fliehen kann. Schutzräume sind die Räume der Liturgie. Aber auch in den unterschiedlichen Gemeinschaften und Bewegungen, in den Pfarreien, in den Feiern der Sakramente, in den Übungen der Frömmigkeit, in den Wallfahrten und so weiter versucht die Kirche, Abwehrkräfte zu geben und dann auch Schutzräume zu entwickeln, in denen im Gegensatz zu dem Kaputten um uns herum auch wieder die Schönheit der Welt und des Lebendürfens sichtbar wird.
Abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung des Herder-Verlags, Freiburg.