Europäische Kulturhauptstadt 2016
Jetzt erst recht – Breslau 2.0
In Zeiten, in denen die polnische Regierung einen nationalkonservativen Kurs fährt, hat es einen besonderen Reiz, wenn eine der größten Städte des Landes Europäische Kulturhauptstadt ist. Die Beiträge dieses Titelthemas widmen sich einer Metropole, die auch jenseits der Feierlichkeiten eine Erkundung wert ist.
Als erstes fallen dem Besucher wohl die Zwerge auf. Überall in der Altstadt stehen sie, kaum mehr als 30 Zentimeter hoch. Manche stehen einfach am Straßenrand, andere sitzen oder klettern an irgendetwas hoch. Marta Dyner läuft mit ihrer Gruppe an ihnen vorbei, manche machen ein Foto. Marta trifft sich mit Gleichgesinnten in unregelmäßigen Abständen zum „Instagram Walk“. Junge Menschen mit Smartphones, jederzeit bereit, den Auslöser zu drücken. „Wir wollen zeigen, wie wir Breslau sehen“, erklärt Marta ihre Mission. Auf der Online Plattform „Instagram“ kann jeder seine Fotos bearbeiten und hochladen. So zeigt jeder „sein“ Breslau.
Die Zwerge erinnern an die Zeit der Revolution gegen den Kommunismus. Die Staatsmacht hatte immer wieder mutmaßlich revolutionäre Graffitis an Hauswänden übertüncht. Die Avantgarde-Gruppe „Orange Alternative“ fing dann an, Zwerge an diese Stellen zu malen und in Zwergenkostümen zu demonstrieren. Die kommunistischen Herrscher machte das ratlos: Wer würde denn ein paar Zwerge verhaften lassen? So erinnern die Figuren bis heute daran, dass die Revolution in Breslau bei aller Ernsthaftigkeit stets auch mit einem Augenzwinkern geführt wurde.
Metropole zwischen Ost und West
Doch das ist nur ein Teil ihrer Geschichte, die das heutige Wrocław, so der Name auf Polnisch, bis heute prägt. Immer wieder hat sie ihren Namen und ihre Nationalität gewechselt, es sind genau diese Brüche, die sie heute zu einem Spiegel der europäischen Geschichte machen. Bis 1945 war sie deutsch, bis die Deutschen von hier fort mussten als Preis für einen Krieg, den sie begonnen hatten. Die neuen Breslauer kamen aus dem Osten, aus den an die Sowjetunion verlorenen polnischen Ostgebieten. Heute gehören die zu Litauen und der Ukraine. So ist Breslau bis heute ein Schmelztiegel, auch eine Brücke zwischen Ost und West. Mit beiden Einflüssen gehen die Stadt und ihre Bewohner selbstbewusst um. Man sieht alte Bäckereien, die litauische Backwaren anbieten und alte deutsche Inschriften. Breslau ist eine Stadt, in der Identität vielleicht kein konstanter Zustand ist, sondern eher ein Weg.
Auch Marta Dyners „Instagram Walk“ führt an historischen Eckpunkten vorbei. Die im täglichen Leben kaum der Rede wert sind, weil die Breslauer eben mit der Geschichte leben. „Sie ist nicht schwarz oder weiß, nicht deutsch oder polnisch“, sagt Marta. „Die Deutschen mussten von hier fort, und neue Menschen mussten hier irgendwie mit dem klarkommen, was sie vorgefunden haben. Das war doch für alle gleichermaßen tragisch. Wir brauchen das heute nicht mehr zu beurteilen, sondern wir leben einfach damit.“ Leben heißt auch, in der Shoppingmall „Renoma“ einzukaufen. Die hieß früher „Wertheim“ und war das exklusivste Kaufhaus zwischen Berlin und Moskau. Der Architekt Zbigniew Mackow hat daraus eine polnische Shoppingmall gemacht. Zbigniew ist in dieser Stadt geboren und sieht es als seine Aufgabe an, das Neue mit dem Alten, modern mit historisch in Einklang zu bringen. Das heißt in Breslau auch: polnisch mit deutsch.
„Ich sehe mich als ein Gast in der langen Geschichte dieser Stadt. Und als Gast sagt man höflich ‚Guten Tag‘ und respektiert die Regeln des Gastgebers. Lange vor meiner Zeit haben sich Menschen ein architektonisches System für diese Stadt ausgedacht. Ich versuche, mich in meiner Arbeit daran anzupassen, und es nicht zu zerstören.“ Zbigniew ist einer dieser typischen polnischen Breslauer, die es ja erst seit drei Generationen gibt. Er hat in den neunziger Jahren, als Polen sich öffnete, in London studiert. Auch seine Vorfahren stammen aus dem Osten, Zbigniew aber ist hier geboren. „Wenn ich als Kind nach Dresden oder Berlin gekommen bin, dann kamen mir diese Städte viel vertrauter vor, als Krakau oder Warschau“, sagt er. „Weil die Art der Bebauung, diese deutsche Höhe mich an zuhause erinnerte.“ Heute ist er ein Star in der Stadt, der daran mitarbeitet, ihr ein neues, europäisches Gesicht zu geben.
Aufbruch in eine neue Zeit
Und dieses Gesicht trifft der Besucher überall an. Der Stadtteil „Nad Odrze“ galt lange als verrufen und heruntergekommen, heute mischt sich hier das alte und das neue Breslau. Überall eröffnen Kneipen und Restaurants, immer mehr Künstler und Galerien siedeln sich hier an. Ein bisschen abseits der Touristenpfade auf der anderen Seite des Flusses erinnert die Atmosphäre stark an den Berliner Prenzlauer Berg in den wilden neunziger Jahren. Verfallene Fassaden, daneben renovierte Altbauten. Überall trifft man auf kleine Werkstätten und Handwerksbetriebe. Auch Wojciech Podgajny hat hier seine Werkstatt. Er fertigt handgemachte Stempel und Visitenkarten. Auch er hat die kommunistische Zeit in Breslau erlebt. Jene Zeit, in der die Stadt von den Herrschern ein bisschen stiefmütterlich behandelt wurde. Hier wurde kaum investiert, weil man dem Frieden mit den Deutschen nicht recht traute. Weil die Polen nicht glauben konnten, dass die auf Breslau wirklich verzichten und die Stadt nicht eines Tages zurückfordern würden. „Die Kommunisten haben uns immer Angst vor den Deutschen gemacht“, sagt Wojciech. „Aber heute schauen wir doch aus einer ganz anderen Perspektive auf die Welt. Wir sind Teil der Europäischen Union und Partner. Wer würde denn da noch einem anderen etwas wegnehmen wollen?“
Nicht nur, weil Breslau in diesem Jahr Europas Kulturhauptstadt ist, spielt die europäische Idee hier eine große Rolle. Auch weil aktuell die polnische Regierung keinem Konflikt mit Europa aus dem Weg zu gehen scheint. Breslaus Oberbürgermeister Rafal Dutkiewicz ist seit 14 Jahren im Amt, und irgendwie verkörpert der stattliche Mann seine Stadt. Dutkiewicz ist parteilos, bei Wahlen erfährt er aber in der Regel die Unterstützung der Liberalen. „Wenn es eine europäische Identität gibt, dann trifft man sie bei uns an“, hat er stets in Interviews, übrigens in tadellosem Deutsch gesagt. Damit verweist er auf die Geschichte, in der seine Stadt immer wieder ihrer nationalen Identität beraubt wurde. Heute ist er nachdenklich, wenn es darum geht. Es gab große Demos gegen Flüchtlinge, bei einer verbrannten Rechtsradikale symbolisch eine Puppe, die einen orthodoxen Juden darstellte. „Europa ist für uns heute auch eine Herausforderung“, sagt Dutkiewicz.
Marta Dyners „Instagram Walk“ haben sich mittlerweile auch immer mehr Touristen angeschlossen: Sie kommen aus aller Welt. Überhaupt ist das Straßenbild im Vergleich zu anderen polnischen Städten ungewöhnlich bunt. Denn in Breslau leben auffällig viele Ausländer. Weil Polen die Region Niederschlesien als Sonderwirtschaftszone mit niedrigen Unternehmenssteuern ausgeschrieben hat, haben sich internationale Konzerne hier angesiedelt. Und viele Menschen mitgebracht. Auch die Krisen in Südeuropa sorgen dafür, dass man immer wieder Spanisch und Italienisch auf der Straße hört. Englischsprachige Jobs und relativ niedrige Lebenshaltungskosten haben viele hierher gelockt. Trotz all der aktuellen Debatten zeigt das für Marta, dass Breslau eine weltoffene Stadt ist. „Wenn man an die Geschichte denkt, so war hier doch eigentlich jeder einmal fremd. Fast niemand hat wirklich seine Wurzeln hier. Wir kennen das Gefühl und machen es deshalb Anderen leicht, sich hier zuhause zu fühlen.
Am Abend nimmt uns Marta mit in eine der vielen Kneipen. Einmal die Woche heißt hier das Motto „Tower of Babel“. Das soll ein Treffpunkt sein, wo Ausländer und Fremde mit den Breslauern in Kontakt kommen. Es ist brechend voll, und tatsächlich sind hier junge Leute aus aller Welt. Viele arbeiten in der IT-Branche, andere an den vielen Universitäten der Stadt. Und wer hier das Sprachenwirrwarr hört und all die unterschiedlichen Gesichter sieht, der denkt nicht mehr darüber nach, ob diese Stadt nun eher deutsch oder polnisch ist. Der fühlt sich einfach mitten in Europa.
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