Titelthema
Zwischen den Polen
Deutschland und Europa müssen eigene wirtschaftliche Machtressourcen einsetzen, um zwischen Ost und West nicht zerrieben zu werden.
Im Wahlkampf für die Wahlen zum Deutschen Bundestag am 26. September 2021 spielte Außenpolitik eine vernachlässigte Rolle. Selbst nach dem Debakel des Afghanistan-Abzuges westlicher Mächte gab es keine Diskussionen über grundsätzliche Fragen deutscher Außenpolitik, sondern nur moralische Scheingefechte auf Nebenkriegsschauplätzen. Das ist bemerkenswert für ein Land, dessen Sicherheit gefährdet ist und dessen international verflochtene Wirtschaft wegen absehbarer außenpolitischer Entwicklungen in größere Schwierigkeiten zu geraten droht.
Deutsche und europäische Politiker versuchen einmal mehr vom eigenen Versagen abzulenken, das darin besteht, dass Europa weiterhin nicht in der Lage ist, selbst in seiner Nachbarschaft für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Sie werfen Washington vor, seine Verbündeten wieder nicht bei einer eigentlich vorhersehbaren politischen Entscheidung konsultiert zu haben, die Europas Sicherheitsinteressen gefährdet. Nicht erst seit Amerikas Rückzug aus Afghanistan sollte jedoch Europas Regierungsverantwortlichen klar geworden sein, dass sich auch der Alte Kontinent nicht mehr auf die früheren Sicherheitsversprechen verlassen kann.
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Amerikas Interesse gilt Asien
Der Anspruch der USA, eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, wird die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen. Denn sie wird ihre zunehmend knapper werdenden Ressourcen in der Region Asien-Pazifik bündeln, um dort der aufsteigenden Macht China zu begegnen, das in Ostasien Amerikas Hegemonie herausfordert.
Mit Chinas Aufstieg geriet die Region Asien-Pazifik ins Zentrum amerikanischer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. Im Januar 2021 wurde nunmehr ein bislang als geheim eingestuftes zehnseitiges Dokument vom Februar 2018 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in dem die US-Sicherheitsbehörden ihren „indopazifischen strategischen Rahmen“ abgesteckt hatten. Zu den Kerninteressen Amerikas gehöre demnach, den wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Zugang Amerikas zu dieser bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich interessantesten Region der Welt aufrechtzuerhalten. Dazu gehöre auch, dass die USA wieder die Glaubwürdigkeit ihrer Sicherheitsverpflichtungen gegenüber ihren Alliierten stärken.
Die USA (und ihre Alliierten) auf der einen und China auf der anderen Seite manövrieren sich immer mehr in ein Sicherheitsdilemma: Das individuelle Streben der beiden Protagonisten nach mehr Sicherheit erzeugt am Ende mehr Unsicherheit auf beiden Seiten. Die schon seit Längerem gehegte Befürchtung amerikanischer Sicherheitsstrategen, China wolle in Ostasien eine exklusive Einflusssphäre etablieren, wird durch Chinas zunehmenden Expansionsdrang genährt: seine immer aggressiver werdenden Aktivitäten, eine Sicherheitszone zu errichten und die amerikanische Interventionsfähigkeit zu unterminieren.
Indien sucht Amerikas Nähe
Um die für Chinas Wirtschaft – und seine politische Stabilität – überlebenswichtigen indopazifischen Seewege abzusichern, baut Peking seine sogenannte „blue-water navy“ auf, das sind hochseetaugliche Marine-Einheiten, die über die Küstenverteidigung hinaus auch eine globale Machtentfaltung zur See ermöglichen sollen. Im Zuge dieser „aktiven Verteidigung“ soll zunächst der Raum innerhalb der „ersten Inselkette“ kontrolliert werden, der das durch Korea und Japan begrenzte Gelbe Meer, den westlichen Teil des Ostchinesischen Meeres mit Taiwan und das Südchinesische Meer umfasst. Der erweiterte Raum, die „zweite Inselkette“, erstreckt sich weiter östlich von den Kurilen über Japan und südostwärts über die Bonin-Inseln und die Marianen bis zu den Karolinen-Inseln.
Chinas raumgreifende Aktivitäten beunruhigen vor allem seine regionalen Nachbarn und drängen diese zur Zusammenarbeit in der indopazifischen Region – und nicht zuletzt auch mit der „Schutzmacht“ USA. Chinas aggressiveres Auftreten in der Region hat bereits dazu geführt, dass die Quadrilaterale Allianz (Quad) zwischen Australien, Indien, Japan und den USA reaktiviert wurde – ein bislang informeller Sicherheitsdialog, der eingerichtet wurde, um dem wachsenden chinesischen Einfluss im Indischen und Pazifischen Ozean entgegenzuwirken.
Während die USA schon seit Längerem engere Sicherheitsbeziehungen mit Japan und Australien pflegen, war Indien bislang um Äquidistanz zu den beiden Großmächten USA und China bemüht, um seine Unabhängigkeit zu wahren und seine Beziehungen zu China nicht zu belasten. Doch die jüngsten Spannungen zwischen China und Indien haben „die größte Demokratie“ der Welt, Indien, bewogen, sich der „ältesten Demokratie“, den USA, wirtschaftlich und militärisch anzunähern. Ebenso wollen Indien und Australien ihre Wirtschafts- und Verteidigungsbeziehungen stärken.
Die Biden-Administration wird in der Region Asien-Pazifik weitere Anstrengungen unternehmen müssen – auch um das Vertrauen in die „Schutzmacht“ USA wiederherzustellen, das von der Vorgängerregierung schwer beschädigt wurde. Hatte doch die US-Regierung unter Trump einen radikalen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen und auch die asiatischen Verbündeten im Regen stehen lassen, die sich zuvor, nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Obama-Regierung, für die USA und gegen ihre wirtschaftlichen Interessen mit China entschieden hatten. Zum Entsetzen seiner Alliierten kündigte US-Präsident Trump in einer seiner ersten Amtshandlungen im Januar 2017 die US-Teilnahme an der Transpazifischen Partnerschaft (Transpacific Partnership, TPP).
Zum Entsetzen der Europäer
Damit verunsicherte die Trump-Regierung die Alliierten umso mehr in der für sie existenziell wichtigen Frage, ob die USA weiterhin für ihren Schutz sorgen würden. Denn das stärkste Argument der USA unter Obama, mit dem sie Länder wie Japan dazu bewegen konnten, sich gegen ihre wirtschaftlichen Interessen mit China zu entscheiden und sich der amerikanischen Initiative anzuschließen, war der Schutzschild der USA. Mit ihrer Initiative der Transpazi fi schen Partnerschaft, die sich explizit nicht an China richtete, reagierten die USA auf dessen Bemühungen, die Region Asien in eine Wirtschaftsgemeinschaft zu integrieren. China antwortete wiederum auf die Ausgrenzungsversuche der USA, indem es seinerseits mit der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) ein asiatisch-pazifisches Forum schuf, das die USA außen vor lässt.
Im härter werdenden Wettbewerb in der Region Asien-Pazifik geht es der Biden-Regierung also zuvorderst darum, Trumps größten strategischen Fehler zu korrigieren, der darin bestand, die Beteiligung und Führung der USA an der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) aufzugeben. Die Biden-Administration wird allen voran versuchen, daran anzuknüpfen, die innenpolitisch seinerzeit schon schwierige, aber geoökonomisch umso dringlicher gewordene TPP neu zu beleben. Schon für Präsident Obama und den damaligen Vizepräsidenten Biden war – zum Entsetzen der Europäer – die Transpazifische Partnerschaft wichtiger als die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den Europäern.
Was Washingtons Schutz kostet
An eine Wiederbelebung der Freihandelsgespräche mit den Europäern ist nicht zu denken. Im Gegenteil: Aus innenpolitischen Gründen fährt die Biden-Regierung gegenüber Europa Trumps protektionistischen Kurs fort, indem sie etwa die Strafzölle gegen Stahl- und Aluminiumimporte aus Europa aufrechterhält. Angesichts der ökonomischen und geopolitischen Perspektiven in der Wachstumsregion Asien-Pazifik werden der Alte Kontinent und die transatlantischen Freihandelsgespräche mit den Europäern künftig noch mehr ins Hintertreffen geraten.
Gleichwohl werden die europäischen Verbündeten weiterhin – und seit Amerikas Hinwendung nach Asien umso stärker – mit der Forderung konfrontiert, mehr für ihre Sicherheit zu leisten. Wegen ihrer durch die Covid-19-Pandemie verschärften wirtschaftlichen Notlage und enormen Verschuldung werden die USA umso mehr versuchen, aus der ökonomischen und insbesondere militärischen Abhängigkeit ihrer Verbündeten in Europa Kapital zu schlagen. Wer sich selbst kein einsatzfähiges Militär leistet, muss wohl oder übel Tribut für die Pax Americana zollen – nämlich in der Währungs- oder Handelspolitik amerikanischen Interessen folgen. So lautet das nüchterne Kalkül Washingtons. Um das Wohlwollen der „Schutzmacht“ zu erwirken, dürfen Verbündete amerikanische Rüstungsgüter wie Kampfflugzeuge kaufen, damit technologisch abhängig bleiben und zudem das Handelsdefizit der USA verringern helfen. Ebenso werden die europäischen Alliierten aufgefordert, anstelle des billigeren russischen Gases mehr „Freiheitsgas“ aus den USA zu beziehen und für die zum Transport nötige Infrastruktur, etwa Flüssiggasterminals, zu bezahlen.
Entweder mit Amerika oder mit China
Umso stärker in die Bredouille kommen wird Deutschland im Hinblick auf die sino-amerikanische Rivalität. Im Ringen um technologische und wirtschaftliche Einflusssphären werden die USA den Druck auf abhängige Drittstaaten wie Deutschland verstärken, mit dem Entzug ihres militärischen und sicherheitsdienstlichen Schutzes drohen und sie vor die Wahl stellen, entweder mit Amerika oder mit China Geschäfte zu betreiben. Wenn nötig, werden einmal mehr wirtschaftliche Waffen wie der US-Dollar und Sekundär-Sanktionen in Stellung gebracht, um auch europäische Staaten zu zwingen, ihre wirtschaftlichen Interessen mit China preiszugeben.
Um ihre Interessen zu verteidigen, müssen die deutsche und europäische Politik auch ihrerseits die noch vorhandenen eigenen wirtschaftlichen Machtressourcen einsetzen, um international Gestaltungskraft zurückzugewinnen. Wenn die Europäische Union ein „Global Player“ und nicht Spielball anderer Mächte sein will, muss allen voran Deutschland seine Außenpolitik auch gegenüber den USA und China sowie seine Europapolitik entscheidend korrigieren. Die Bundesregierung wird grundlegende Fragen zur Neuorientierung deutscher Außenpolitik beantworten müssen, die jenseits der eigenen bundesdeutschen Komfortzone gestellt werden und bisherige Denk- und Arbeitsmuster der Berliner Republik überfordern.
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