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Titelthema

Sicherheit vor dem ewigen Frieden

Titelthema - Sicherheit vor dem ewigen Frieden
Kiew: Tanja, 13, auf der Dnepr-Insel in Kiew. Sie ist zum ersten Mal hier, badet und trinkt mit ihren Freundinnen. Ihr verstorbener Vater kam aus Moldau, ihre dortigen Verwandten glauben, in der Ukraine gäbe es keinen Krieg, während ihr 27-jähriger Bruder sich freiwillig zur Armee gemeldet hat. Für Tanja verbindet der Dnepr alle Ukrainer, und der heutige Tag ist für sie ein Versprechen an einen glücklichen Sommer und ein baldiges Ende des Krieges © Florian Bachmeier fürs Rotary Magazin

Deutschland sollte einen ernsthaften Beitrag zu einem wehrhaften Europa leisten. Das wird umso nötiger, da sich die USA mehr oder weniger konsequent als Schutzmacht Europas verabschieden werden.

Josef Braml01.06.2022

Ich glaube, dass wir Putin erfolgreich abschrecken können. Aber dazu muss das größte Land in Europa, nämlich Deutschland, aufhören, in diesen postmodernen Begriffen und in ewigem Frieden zu denken. Und seinen Reichtum und sein Gewicht in die europäische Verteidigung einbringen“, mahnte Radosław Sikorski, der frühere Außenminister Polens und heutige Abgeordnete des Europäischen Parlaments, im Media Pioneer-Podcast nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des russischen Präsidenten gegen Polens östlichen Nachbarn Ukraine.

Sikorskis Weckruf ist nötig, denn viele Verantwortliche der Berliner Republik haben den sprichwörtlichen Schuss nicht wirklich gehört. Sie verharren immer noch im Zeitgeist der deutschen Wiedervereinigung und vertrauen in ihrem Fortschrittsglauben, trotz zwischenzeitlicher Rückschritte, weiterhin dem „Weltgeist“ der Geschichte.

Nach dem Ende der Geschichte

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die USA für einen historischen Moment die einzig verbliebene Supermacht, und es schien, als könnten sie den Globus nach ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modell neu ordnen. Das Wort vom „Ende der Geschichte“ machte die Runde.

Und dies, obwohl das nach dem Untergang des Systemrivalen Sowjetunion von der westlichen Glaubensgemeinschaft gefeierte „Ende der Geschichte“ – der weltweite Sieg liberal-demokratischer Herrschaft und freier Marktwirtschaft – von der Geschichte schon seit geraumer Zeit auf ironische Weise widerlegt worden ist: Donald Trumps autoritäre Herausforderung der US-Demokratie und nationalistische Wirtschaftspolitik waren deutliche Anzeichen eines neuen Systemwettbewerbs zwischen der angeschlagenen Weltmacht USA und dem immer selbstbewusster auftretenden China.

Bezeichnenderweise ist es jener amerikanische Politikwissenschaftler, Francis Fukuyama, der seinerzeit vorschnell den endgültigen Sieg liberaler Demokratien und freier Marktwirtschaften prognostizierte, der heute elementare demokratische Defizite der westlichen Führungsmacht diagnostiziert. Die Unzulänglichkeiten der USA seien umso problematischer, weil sich ein neuer Konkurrent, China, anschicke, sein Gegenmodell zu exportieren. Die Geschichte geht also offenbar doch weiter, denn Fukuyama sieht nun eine neue „historische Auseinandersetzung“ um das „Schicksal Eurasiens“ im Gange: zwischen den USA und ihren westlichen Partnern auf der einen und China auf der anderen Seite.

In seiner neuen Prognose konnte Fukuyama wiederum nicht vorhersehen, dass das von US-Präsident Obama als „Regionalmacht“ degradierte Russland alles in seiner Militärmacht Stehende unternehmen würde, um den Lauf der Geschichte zurückzudrängen. Ebenso übersah der vom Siegeszug der Demokratien inspirierte Vordenker, dass Russlands Autokrat Putin durch eine wertegeleitete Außenpolitik von Obamas demokratischem Nachfolger Joe Biden dann noch weiter in die Arme der autokratischen Führung Chinas gedrängt werden würde.

Für die Weltenplaner in Washington wäre ein festes strategisches Bündnis zwischen Russland und China jedoch ein sehr bedrohliches Szenario. Bereits heute wären die USA nicht mehr in der Lage, einen Zweifrontenkrieg, also gegen Russland in Europa und gegen China in Asien, zu gewinnen. Das war bereits 2019 die Befürchtung von amerikanischen Verteidigungsbeamten und Militäranalysten. In Planspielen der Rand Corporation, des größten und renommiertesten amerikanischen Thinktanks, in denen Großmachtkonflikte simuliert wurden, wäre in einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Russland und China eine Niederlage für die USA programmiert.

Insofern ist es selbst nach Putins Waffengang in der Ukraine durchaus denkbar, dass sich die amerikanische Russlandpolitik in Zukunft wandelt und damit die Europäer erneut vor Probleme stellt – allerdings vor völlig andersgeartete: Analog zum machtpolitischen Kalkül des damaligen US-Sicherheitsberaters Henry Kissinger, der Präsident Nixon nahelegte, die Verbindung mit dem damals schwächeren China zu suchen, um die mächtigere Sowjetunion einzudämmen, könnte es laut neorealistischen Vordenkern wie John Mearsheimer heute ratsam sein, Russland zu umgarnen, um dem aufsteigenden und für die USA immer bedrohlicher werdenden China zu begegnen.

Ebenso fordern selbst liberale Internationalisten wie Charles Kupchan, der am Council on Foreign Relations außenpolitische Ideen schmiedet, eine Kurskorrektur von der Biden-Regierung. Anstatt Russland und China mit einer moralisierenden Wertepolitik zusammenzudrängen, sollten US-Präsident Biden und seine europäischen Verbündeten ganz pragmatisch versuchen, Russland nach Westen zu locken. Bidens Offenheit für ein Sommertreffen (im Juni 2021) mit Putin sei ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen. Obwohl weitere Schritte nach Putins völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine – und Bidens rhetorischen Angriffen auf Putin (Stichworte: „Mörder“, „Völkermörder“) – nicht einfacher werden dürften, haben die USA laut Kupchan „eine beeindruckende Bilanz“ auch mit „unappetitlichen Regimen“ eine gemeinsame Basis zu finden.

Der Geopolitiker Putin, dem aktuell die Unzulänglichkeit seiner Militäroffensive in der Ukraine vor Augen geführt wird und der ebenso daran interessiert ist, Chinas raumgreifende Aktivitäten einzudämmen, könnte von Washingtons Geostrategen weitere Anreize erhalten, indem etwa „westliche“ Sanktionen, die auch den USA selbst schaden, wieder gelockert werden, um russisches Wohlverhalten in anderen, für Amerika wichtigeren Regionen zu erwirken. Europa insgesamt könnte so eine Erfahrung machen, mit der die osteuropäischen Staaten historisch bereits vertraut sind, nämlich dass die eigenen Interessen einem „Deal“ größerer Mächte geopfert werden.

Sollte Donald Trump erneut ins Weiße Haus einziehen, würde diese Gefahr noch größer werden. Die Republikanische Partei, die einst den Kampf gegen den „gottlosen Kommunismus“ führte, beugt sich jetzt einem Führer, der Putin ein „Genie“ nennt. Wo es gälte, sich der russischen Aggression entschieden zu widersetzen, belobigen Trumps Anhänger bewaffnete Aufständische, die das US-Kapitol angegriffen haben. Zusätzlich schleifen die Republikaner das Wahlrecht, um Trump eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.

Es hätte nur wenige Stimmen in den entscheidenden „Swing States“ gebraucht und statt Joe Biden säße weiterhin Donald Trump im Weißen Haus. Niemand kann voraussagen, ob das Pendel bei den nächsten Wahlen im Herbst 2024 nicht in die andere Richtung ausschlägt. Trump hat die Republikanische Partei fest in der Hand. Es ist nicht auszuschließen, dass er wieder antritt. Aber auch wenn dem nicht so sein sollte: Andere republikanische Kandidaten könnten noch herausfordernder für Deutschland und Europa sein. Bleibt es bei der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Europas von den USA, dann machen wir uns in der Konsequenz abhängig von den höchst volatilen Ergebnissen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen – eine höchst riskante und wenig nachhaltige Strategie.

Europas Stunde

Wem die liberale, sprich regelbasierte Weltordnung am Herzen liegt, sollte nicht auf Washington oder den Weltgeist hoffen, sondern sein Schicksal mutig selbst in die Hand nehmen. Bestand die Herausforderung europäischer Russlandpolitik bislang darin, den strategischen Baustein „Wandel durch Annäherung“ auch ohne beziehungsweise gegen Washington anzuwenden, so könnte sich das Problem in Zukunft verschieben, hin zu der Frage, wie sich eine glaubwürdige Abschreckung ohne Washington aufrechterhalten lässt.

Um Europas Sicherheit und Zusammenhalt strategisch zu gewährleisten, gilt es bereits heute, vorauszudenken und dementsprechend mutig zu handeln. Vertrauen in andere ist gut, eigene Verteidigungsfähigkeit ist besser. Es ist höchste Zeit, dass sich die Europäer neben vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber Russland auch über eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten Gedanken machen – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, auch um Erpressungsversuchen oder gar Aggressionen der russischen Führung vorzubeugen.

Als Investition in die eigene Sicherheit sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), aufstocken, um Europas Verteidigungsfähigkeit zu verbessern und seine industrielle Basis zu erhalten. In den nächsten beiden Jahrzehnten sind umfangreiche Ressourcen – schätzungsweise bis zu 300 Milliarden Euro – für das geplante französisch-deutsche Luftkampfsystem, das Future Combat Air System (FCAS), vonnöten, um Europas Souveränität im militärischen Bereich und im IT-Sektor zu stärken.

Es ist allerhöchste Zeit, die politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern. Denn nur ein einiges Europa, ein supranationaler Rahmen, gewährt europäischen Staaten die nötige Souveränität, um in der neuen Weltordnung selbstbestimmt wirtschaften und leben zu können. Der Eigensinn der um Weltmacht konkurrierenden russischen, amerikanischen und chinesischen Geostrategen nötigt Europas Einzelstaaten und seine Bürger zu mehr Gemeinsinn.


Buchtipp

 

Josef Braml, 

Die transatlantische Illusion: Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können,

C. H. Beck 2022, 176 Seiten,

16,95 Euro

Josef Braml
Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können ist beim Verlag C. H. Beck erschienen.