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Bewährungsprobe für Amerikas Demokratie

Forum - Bewährungsprobe für Amerikas Demokratie
Ein Trump-Anhänger bei einer Wahlkampfveranstaltung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump in Vandalia/Ohio am Tag vor den Zwischenwahlen 2022. © mauritius images/zuma press inc./alamy/jintak han

Vier Fünftel der amerikanischen Geschichte waren von Rassismus geprägt. Das ist bis heute deutlich spürbar – und birgt Gefahren.

Josef Braml01.01.2023

Der politischen Gewaltenkontrolle haben die US-amerikanischen Verfassungsväter besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn das Grundprinzip der konkurrierenden, sich gegenseitig kontrollierenden Staatsgewalten („checks and balances“) hat eine grundlegende Bedeutung für die Sicherung individueller Freiheitsrechte. Neben der horizontalen Gewaltenteilung in die gesetzgebende (Legislative), die ausführende (Exekutive) und die richterliche Gewalt (Judikative) wurde in der amerikanischen Verfassung auch eine vertikale Gewaltenkontrolle angelegt: Die Befugnisse zwischen den – bei der Gründung 13 – derzeit 50 Einzelstaaten und dem Bundesstaat wurden aufgeteilt. Mit horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung sollte verhindert werden, dass die Rechte und Freiheiten des einzelnen Bürgers und jene der Einzelstaaten über Gebühr eingeschränkt werden.

Gewaltenkontrolle durch Zwischenwahlen

Mit den Zwischenwahlen, das heißt den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und Senat, die nicht mit den Präsidentschaftswahlen zusammenfallen und somit zwei Jahre nach Beginn der Amtszeit des Präsidenten stattfinden, können die Wählerinnen und Wähler den Spielraum der Exekutive einmal mehr in ihrem Sinne beeinflussen: indem sie dem Präsidenten zu Mehrheiten seiner Partei in beiden Kammern des Kongresses, also zu einem „unified government“, verhelfen, oder aber ihn durch ein „divided government“ hemmen.

Bei den jüngsten Zwischenwahlen konnten die Demokraten zwar ihre Senatsmehrheit verteidigen; sie haben aber ihre Mehrheit im Abgeordnetenhaus verloren. In der künftig also wieder „geteilten Regierung“ kann die legislative Agenda des demokratischen Präsidenten Joe Biden allein von der Mehrheit der Republikaner im Abgeordnetenhaus blockiert werden. Biden hat nun noch größere Schwierigkeiten, über den Gesetzweg seine wirtschafts- und sozialpolitischen Vorhaben umzusetzen. Insbesondere könnte Bidens Unfähigkeit, das Wahlrecht zu reformieren, sich als problematisch für die amerikanische Demokratie erweisen und seinem möglichen Herausforderer Donald Trump bessere Chancen für eine zweite Amtszeit geben.

„Warum haben die USA keinen Sozialstaat wie die Europäer?“, lautete die Forschungsfrage amerikanischer Ökonomen, die nicht gerade im Ruf stehen, sozialliberal zu sein. Alberto Alesina, Edward Glaeser und Bruce Sacerdote testeten eine Reihe von Hypothesen und erkannten am Ende einen dominanten Faktor: Die Ausnahmestellung, die die USA in der zivilisierten Welt bei der Behandlung sozial Schwächerer einnehmen, kann mit Rassismus erklärt werden. Die Hautfarbe gibt den Ausschlag dafür, ob Amerikaner Sozialpolitik unterstützen oder nicht. Sozialpolitik ist in den USA auch deswegen in Verruf geraten, weil, anders als in den 1960er Jahren, als noch mehr Weiße von ihr profitierten, Sozialpolitik heute mit der Unterstützung der „anderen“, der Schwarzen, gleichgesetzt wird.

Diese Befunde sind nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass vier Fünftel der amerikanischen Geschichte von Rassismus geprägt waren und die in mehr als 20 Generationen trainierten Verhaltensweisen in Gesellschaft und Politik der USA auch heute noch allgegenwärtig sind. Es ist nicht zu weit hergeholt, die sozialen Pro ble me des 21. Jahrhunderts mit der „alten Geschichte“ Amerikas in Verbindung zu bringen. Zumal jene Landkreise („counties“) mit mehr Lynchmorden zwischen 1882 und 1930 auch heute noch mehr rassistisch bedingte Ungleichheit und höhere Sterblichkeitsraten bei Afroamerikanern aufweisen.

„States’ rights“ und Diskriminierung

Insbesondere wurden die Rechte der Einzelstaaten, die „states’ rights“, mit Billigung des Obersten Gerichts dazu missbraucht, um bis ins 20. Jahrhundert in den Südstaaten der USA die Rassendiskriminierung aufrechtzuerhalten. Der Su preme Court begründete und rechtfertigte die Rassentrennung und -diskriminierung in den USA durch sein Urteil im Fall „Plessy v. Ferguson“ am 18. Mai 1896. Mit dieser Grundsatzentscheidung wurde die im 13. und 14. Verfassungszusatz garantierte Freiheit und Gleichstellung aller Bürger de facto ausgesetzt. Die Bundesstaaten, zumal im Süden der USA, erhielten damit die höchstrichterliche Erlaubnis, die „Rassen“ nach Gutdünken zu trennen. Der öffentliche Raum, etwa Schulen, Restaurants und Hotels, war nunmehr richterlich verordnet schwarz-weiß. „Getrennt, aber gleich“: Mit dieser Formel betrog ein höchstrichterliches Urteil Schwarze in den USA um ihre Gleichstellung – für weitere sechs Jahrzehnte.

Erst in den 1950er und 1960er Jahren gelang es der Bürgerrechtsbewegung, dem „civil rights movement“, die Rassentrennung und -diskriminierung zum Teil zu überwinden. So erklärte der Su preme Court 1954 im Fall „Brown v. Board of Education“ die Rassentrennung an staatlich finanzierten Schulen für unzulässig. Der Voting Rights Act von 1965 ermöglichte schließlich auch der afroamerikanischen Bevölkerung verbesserte Rechte zur politischen Teilhabe. Mit dem von Präsident Lyndon B. Johnson am 6. August 1965 unterzeichneten Gesetz sollte sichergestellt werden, dass der afroamerikanischen Minderheit gleiche Voraussetzungen gegeben werden, um sich an den Wahlen zu beteiligen. Dazu wurden diskriminierende Praktiken wie Analphabetismus-Tests als Voraussetzung zur Wählerregistrierung verboten und die verantwortlichen Einzelstaaten unter Aufsicht des Bundesjustizministeriums gestellt.

Aktuelle Diskriminierung

Rassendiskriminierung ist jedoch bis heute ein politisch brisantes Thema geblieben. Paradoxerweise könnte sie in der Amtszeit des ersten afroamerikanischen Präsidenten Barack Obama sogar wieder verschärft worden sein. So urteilte am 25. Juni 2013 das Oberste Gericht im Fall „Shelby County v. Holder“ mit einer denkbar knappen Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen, dass im „Lichte gegenwärtiger Bedingungen“, insbesondere aufgrund der verbesserten politischen Beteiligung von Minderheiten, eine elementare Bestimmung (Sektion 4) des Voting Rights Act überholt und damit verfassungswidrig sei.

Hatten die bei Wahlen mit Diskriminierungspraktiken historisch vorbelasteten Südstaaten bis zu diesem Zeitpunkt der Bundesaufsicht unterstanden, so sind die Gesetzgeber seitdem aufgefordert, neue, an die heutige Zeit angepasste Kriterien zu finden, die weiterhin eine bundesstaatliche Aufsicht der von den Einzelstaaten organisierten Wahlen rechtfertigen würden. Da im extrem polarisierten Politikbetrieb Washingtons, zumal in dieser heiklen Frage, auf absehbare Zeit keine Einigung erzielt werden kann, haben die Einzelstaaten bis auf Weiteres freie Hand, wenn sie Minderheiten bei Wahlen wieder benachteiligen wollen. Ohne Aufsichtsrecht Washingtons müssen schwarze Wählerinnen und Wähler nun wieder damit rechnen, durch Auflagen der Einzelstaaten, insbesondere im Süden des Landes, bei Wahlen diskriminiert zu werden, wenn sie etwa nicht die nötigen Papiere zur Wählerregistrierung vorweisen können oder die Zeit für die Stimmabgabe oder die Möglichkeit der Briefwahl eingeschränkt wird.

Mittlerweile haben republikanische Gesetzgeber in 41 Bundesstaaten bereits Hunderte von Gesetzesvorlagen vorgeschlagen und fast drei Dutzend Gesetze verabschiedet, die die einzelstaatlichen Gesetzgeber ermächtigen, Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Unter anderem sollten professionelle Wahlbeamte durch Parteiaktivisten ersetzt werden, die ein Interesse daran haben, dass ihr Kandidat gewinnt. Viele dieser Gesetze sind in entscheidenden „battleground states“ wie Arizona, Wisconsin, Georgia und Pennsylvania vorgeschlagen und verabschiedet worden.

Ohnehin war bei näherer Betrachtung Bidens Wahlsieg hauchdünn. Trump fehlten in Georgia, Arizona und Wisconsin, den Staaten mit den knappsten Wahlausgängen, zusammengenommen weniger als 44.000 Stimmen, um die Wahl doch noch für sich zu entscheiden.

Bereits nach der Wahl 2020 hatte es die Trump-Kampagne auf diese Staaten abgesehen, indem sie Nachzählungen einklagte und Beamte einzuschüchtern versuchte, um „fehlende“ Stimmen zu finden. Dank der Integrität der Wahlbeamten scheiterten diese Bemühungen. Viele dieser Beamten wurden seitdem aus dem Amt gedrängt und durch Trump-Anhänger ersetzt, die offen behaupten, dass die letzte Wahl betrügerisch gewesen sei.

Die Ruhe vor dem nächsten Sturm?

Der Begriff „battleground states“ könnte künftig eine noch dramatischere Bedeutung im eigentlichen Wortsinn umschreiben: „Wir sind näher am Bürgerkrieg als irgendjemand von uns glauben möchte“, heißt es in einer neuen Studie von Barbara F. Walter. Die Professorin für Politikwissenschaft an der University of California in San Diego ist nicht bekannt für Übertreibungen, sondern für nüchterne Lageanalysen. Sie ist Mitglied der Political Instability Task Force, eines Beratungsgremiums der Central Intelligence Agency (CIA), das weltweit Länder überwacht und prognostiziert, welche am stärksten von Gewalt bedroht sind.

Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, bei dem fünf Menschen starben, hat weltweit und auch in den USA selbst das Vertrauen in die Standhaftigkeit der US-amerikanischen Demokratie schwer erschüttert. Denn die Machtübergabe ging nicht, wie in Demokratien üblich, ohne Gewalt vonstatten. Radikale Anhängerinnen und Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump griffen den Sitz des Kongresses an, als dort der Wahlsieg des Demokraten Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl vom 3. November 2020 zertifiziert werden sollte. Nicht ohne Grund befürchtete selbst die militärische Führung des Landes, dass Trump seine Wahlniederlage mit einem Staatsstreich verhindern wollte: Hatte er doch zuvor bei einem öffentlichen Auftritt seinen unbelegten Vorwurf des massiven Wahlbetrugs wiederholt und seine Anhänger aufgefordert, zum Kapitol zu marschieren und „auf Teufel komm raus zu kämpfen“.

Die Amtszeit Donald Trumps war eine Bewährungsprobe für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Vereinigten Staaten. Unter anderem eskalierten auch die von der Coronapandemie nochmals in aller Schärfe freigelegten sozialen Ungleichheiten in den Auseinandersetzungen um den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd. Der nach wie vor allgegenwärtige Rassismus führte vorübergehend zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Anstatt dagegen anzugehen und zu deeskalieren, rief Präsident Trump zur Gewaltanwendung auf und bedrohte auch damit die US-amerikanische Demokratie.

Um die Präsidentschaftswahl erneut zu gewinnen, flirtet Trump weiterhin mit jenem Rassismus, der die Geschichte der USA durchzieht und bis heute Todesopfer fordert. Schon in seiner Rede vom 4. Juli 2020, dem Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, stigmatisierte der damalige Präsident Trump die in über 100 US-Städten gegen Ungerechtigkeit protestierenden Demonstranten als „böse“ Vertreter eines „neuen linksextremen Faschismus“, dessen ultimatives Ziel es sei, „das Ende Amerikas“ herbeizuführen.

Trumps Verteufelung der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung und der seit 2013 bestehenden „Black Lives Matter“-Bewegung geht einher mit seinem unnachgiebigen Festhalten an den Denkmälern und Symbolen der konföderierten Südstaaten, die für den Erhalt der Sklaverei in den Amerikanischen Bürgerkrieg gezogen und unterlegen waren. In den Augen der Betroffenen stehen diese Denkmäler bis heute für die Rassenungleichheit in Amerika. „Wütende Mobs versuchen, Statuen unserer Gründer niederzureißen, unsere heiligsten Gedenkstätten zu verunstalten und eine Welle von Gewaltverbrechen in unseren Städten auszulösen“, warnte Trump seine um ihn versammelte Anhängerschaft bei einer Kundgebung vor den monumentalen, in Stein gehauenen Porträts der vier bedeutendsten US-Präsidenten in Mount Rushmore.

Donald Trump ist immer noch motiviert, als großer, ja sogar größter US-Präsident aller Zeiten in die Weltgeschichte einzugehen. Dafür wird ihm weiterhin jedes Mittel Recht sein, um wieder an die Macht zu kommen. Verantwortliche in Deutschland und Europa sollten vorgewarnt sein und davon nicht noch einmal überrascht werden.

Josef Braml
Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können ist beim Verlag C. H. Beck erschienen.

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