Ein neuer Blick auf Polen
Ganz nah, und doch so fern
Vom Westen Europas oftmals ignoriert, hat sich unser östlicher Nachbar in den vergangenen Jahren beachtenswert entwickelt. Vor allem die Hauptstadt Warschau ist längst eine pulsierende Metropole. Die Beiträge der September-Ausgabe widmen sich einem Land und einer Gesellschaft, über die die Deutschen immer noch zu wenig wissen – obwohl deren Schicksal ganz wesentlich mit dem unsrigen verbunden ist.
Ich gebe es heute ungern zu. Aber am Anfang war ich wenig begeistert, als mein Arbeitgeber mir die Leitung des Warschauer ZDF-Studios anbot. Ich hatte von London als meiner ersten Korrespondentenstelle geträumt, auch von Tel Aviv, aber Warschau? „Konservativ, katholisch, rückwärtsgewandt“, das waren so die Attribute, die mir zu Polen spontan einfielen. Doch das ZDF war der Ansicht, dass mal ein jüngerer Korrespondent auf unseren östlichen Nachbarn blicken sollte. Den Ansatz fand ich gut, so dass ich mich dem kaum verschließen konnte. Was ich vorfand ist ein Land, das bis heute von den Geistern der Vergangenheit verfolgt wird, und das dennoch oder gerade deshalb seine Zukunft in die Hand nimmt. Ich habe die Polen als pragmatische Romantiker kennengelernt, die über Jahrhunderte den europäischen Traum geträumt haben und ihn jetzt endlich leben wollen. Ich habe das neue Polen als ein Land im Aufbruch angetroffen, das gerade dabei ist, sich neu zu erfinden.
Ankunft an einem Schicksalstag
Mein erster Arbeitstag in Warschau war der 10. April 2010, ein Schicksalstag für das Land. Es war der Tag, als die polnische Präsidentenmaschine über Smolensk abstürzte und neben Präsident Lech Kaczynski und seiner Frau 94 weitere Vertreter aus fast allen gesellschaftlichen Gruppen ums Leben kamen. Ich hatte vorher viele Bücher gelesen, vor allem über die Geschichte. Über die Tartaren, die in Polen eingefallen waren und über die Schweden, die das Land niedergebrannt hatten. Über die Schlacht bei Wien, das die Polen vor den Türken beschützt hatten, über das Wunder an der Weichsel, als Polen die Rote Armee in die Flucht schlug. Und natürlich über die Deutschen, die immer wieder über Polen hergefallen waren und das Land, gemeinsam mit Österreichern und Russen, nach den Teilungen für hundert Jahre von der Landkarte gelöscht hatten. Ich kannte mich theoretisch ganz gut aus, aber ich kannte Polen nicht.
An meinem ersten Arbeitstag schon sollte ich es kennenlernen. Der Flugzeugabsturz von Smolensk rief eine Trauer hervor, zu der vielleicht in Europa nur die Polen fähig sind. Ein ganzes Volk ging da auf die Straße, geeint in unbegreiflich tiefer Trauer. Jung und alt, alle zog es vor den Präsidentenpalast, die angrenzenden Straßen, die Plätze der Hauptstadt: ein Meer von Menschen. Und es kamen auch viele, die dem verstorbenen Präsidenten durchaus kritisch gegenübergestanden hatten. Doch das spielte keine Rolle mehr. Denn hier ging es um viel mehr als um Lech Kaczynski. Während des Zweiten Weltkriegs hatten die Deutschen versucht, die polnische Intelligenz systematisch auszulöschen, die Russen hatten Offiziere und Gebildete im Wald von Katyn hinterrücks erschossen. Nun waren neben dem Präsidenten zahlreiche Armeeführer, Kirchenvertreter und Freiheitskämpfer aus den Zeiten der Solidarno?? auf einen Schlag ums Leben gekommen. Einmal mehr in seiner bewegten Geschichte hatte Polen einen Verlust zu betrauern. Es war der Verlust eines bedeutsamen Teils seiner geistigen Führung.
Doch schon nach wenigen Wochen kippte die Stimmung. Von der großen Einheit im Leid zum großen Streit. Und zwar um das vielleicht größte Symbol in Polen. Es ging um ein zehn Meter hohes Holzkreuz. Pfadfinder hatten es vor dem Präsidentenpalast aufgestellt, in einem Meer von Blumen und Kerzen, die die Trauernden hier abgelegt hatten. Nun waren die Blumen weg und die Trauernden. Nur das Kreuz stand noch, doch der neugewählte Präsident Komorowski hatte verfügt, dass es in eine nahegelegene Kirche gebracht werden sollte. Zunächst waren es ein paar ältere Menschen, zumeist Rentner, die sich davor postierten, um das Kreuz zu verteidigen. Dann wurden es immer mehr, die Ersten ketteten sich daran. Binnen einiger Tage wurden es mehrere hundert Kreuzbewacher. Sie forderten, dass es dort stehenbleiben solle und zwar so lange, bis an seiner Stelle ein Denkmal für den verstorbenen Präsidenten errichtet sei. Ein Versuch der Polizei, den Platz von Demonstranten und Kreuz zu räumen, scheiterte.
Im Internet zog die Gegenseite auf den Plan. Auf Facebook hatte sich die „Aktion Kreuz“ gegründet. Junge Polen, die nicht hinnehmen wollten, dass ihr Staat machtlos vor einer Gruppe von Rentnern kapitulierte. Sie verabredeten sich nachts und zogen vor den Palast. Es waren ein paar tausend, die meist schweigend auf die Straße gingen. Um zu zeigen, dass sie die Mehrheit sind und deshalb die Geschicke ihres Landes bestimmen. In einem laizistischen Staat hätten kirchliche Symbole nichts vor dem Präsidentenpalast zu suchen, so ihr Standpunkt. Und es ging ihnen auch um die Reputation, um den Ruf ihres Landes. Es könne nicht sein, dass dem Rest von Europa immer wieder gezeigt würde, dass hier das Kreuz über allem stünde. Es war ein Kampf zwischen dem neuen Polen und dem alten, ein Konflikt um die Richtung, die das Land einzunehmen hat. Vorwärts oder zurück, von der Geschichte gefangen oder bereit zum Aufbruch in die Zukunft? Am Ende kam das Kreuz in die Kirche. Es war ein Punktsieg für das junge Polen.
Einen nächster Sieg dieser Art gab es 2013. Ausgerechnet auf dem Erlöserplatz wurde als Kunstprojekt ein riesiger Regenbogen aus Blumen aufgestellt. Nationalisten fühlten sich von dieser angeblichen Solidaritätsbekundung mit Homosexuellen provoziert und fackelten das Werk einfach ab. Immer wieder. Insgesamt sieben Mal. Doch Warschaus Oberbürgermeisterin hatte verfügt, dass der Regenbogen ein Symbol für das neue Polen sei. Und immer wieder aufgebaut wird.
Lauter Symbole
Es gibt viele dieser Kämpfe in Polen. Sie werden ausgetragen mit einer Leidenschaft, wie man sie wohl in keinem anderen europäischen Land antrifft. Es geht oft um Fragen, die mit der Lehre der Kirche zu tun haben. Um Abtreibung, um künstliche Befruchtung, um Homosexualität. Die polnische Kirche zählt zu den konservativsten und strengsten in Europa. Doch sie hat den Polen immer wieder das Gefühl von Identität und Einheit gegeben. Polentum und Katholizismus sind deshalb so stark miteinander verbunden: In Zeiten von Besatzung und Fremdherrschaft war die Kirche meist die einzige nationale Institution. Auch hat sie stets auf Seiten des Volkes gestanden und nie mit Diktatoren paktiert. Polen war das erste Land, das gegen die kommunistischen Herrscher aufgestanden ist, ohne den polnischen Papst Johannes Paul II. und Priester wie Jerzy Popieluszko wäre das nicht möglich gewesen. Deshalb hat die Kirche im heutigen Polen bei gesellschaftlichen und politischen Fragen noch immer eine gewaltige Stimme.
Wenn Polen kämpft, dann kämpft die Angst vor dem Untergang mit. Bis heute werden bei Demonstrationen die Symbole des Warschauer Aufstands getragen. Der hat sich tief eingebrannt in das kollektive Gedächtnis. 1944 hatte Polens Heimatarmee, das war die größte Untergrundorganisation im von Deutschen besetzten Europa, zum Aufstand aufgerufen. Ein Jahr nach der gescheiterten Rebellion im Warschauer Ghetto wollte sich auch die nicht-jüdische Bevölkerung den Deutschen nicht länger kampflos ergeben. Die Kämpfer waren mäßig bewaffnet, doch sie hofften, die ohnehin bereits geschwächten Deutschen überraschen zu können. Und sie wussten die Rote Armee bereits vor den Toren Warschaus: Sollte der Aufstand also scheitern, hoffte man auf deren Hilfe. Doch es kam anders: Der Warschauer Aufstand geriet zum Inferno, nach 63 Tagen mussten sich die Kämpfer geschlagen geben und kapitulierten. Schätzungsweise 200.000 Menschen, darunter sehr viele Zivilisten, fanden in Warschau den Tod. In der Folge erließ Himmler den Befehl, an der polnischen Hauptstadt ein Exempel zu statuieren. Haus für Haus wurde von Deutschen niedergebrannt, danach lag die Stadt in Trümmern. In der einstigen Metropole waren bei Kriegsende kaum mehr 1000 Menschen. Die Russen hatten zugeschaut, wie die Deutschen Warschau ausradierten, um danach leichtes Spiel zu haben. Das werden die Polen Russland wohl nie vergessen.
In meiner Arbeit als Korrespondent ist es immer wieder bewegend, wie die Polen uns Deutschen vergeben konnten. Ich habe immer wieder für Berichte und Filme mit Zeitzeugen zu tun, die den Zweiten Weltkrieg überlebt, die die deutsche Terrorherrschaft in all ihrer Grausamkeit erlebt haben. Für die Auschwitz, Majdanek und Treblinka keine Worte der Geschichte sind, sondern lebhafte Erinnerung. Ich habe nie erfahren, dass mir hier Ablehnung entgegenkam oder auch nur Skepsis. Es mag am starken Einfluss der Kirche liegen, dass die Polen uns vergeben konnten. Auch junge Polen haben ein überraschend positives Bild von Deutschland. In Umfragen nach dem beliebtesten ausländischen Politiker besetzt Angela Merkel konstant den ersten Platz; bei der Frage, welchen Ausländer man gerne als Chef, Nachbarn oder Schwiegersohn hätte, liegen die Deutschen immer vorn. Umso schmerzhafter ist es für viele Polen, dass eben jene Deutsche sich so wenig für sie interessieren, sie meist als Hilfsarbeiter, Putzfrauen oder Autodiebe ansehen und ihr Land kaum besuchen.
Denn welcher Deutsche weiß schon, dass die Polen bei PISA-Tests regelmäßig auf den vorderen Plätzen rangieren? Dass Polen zu den Ländern Europas mit dem höchsten Prozentsatz an Hochschulabsolventen zählt? Dass in Polen ein Unternehmergeist herrscht, wie wir ihn bestenfalls von Amerika kennen? Dass Polen auferstanden ist, dass in Warschau heute postmoderne Hochhäuser antreten, buchstäblich nach den Sternen zu greifen. Das zählt den Wundern, die Europas Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.
Die Erinnerung an den Krieg wird Polens Hauptstadt trotzdem noch lange nicht loslassen. Weil ihr Gesicht, wie das keiner zweiten Metropole in Europa, bis heute vom Krieg gezeichnet ist. Es lohnt sich, dieses Gesicht anzuschauen, denn eine Reise nach Polen ist für uns Deutsche immer auch eine Reise zu uns selbst, in unsere Geschichte. Auch noch 70 Jahre nach dem Krieg.
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