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Kein Jahrestag wie jeder andere
Ein dreiviertel Jahrhundert nach dem 20. Juli 1944 bewegt das Attentat auf Hitler und der Widerstand gegen die NS-Diktatur noch immer die Gemüter.
Seit ihrer Gründung vor über 70 Jahren pflegt die Bundesrepublik Deutschland ein ambivalentes Verhältnis zur Geschichte der eigenen Nation. Obwohl die tragenden Kräfte des Staates – Liberale, Sozial- und Christdemokraten – tief in der deutschen Geschichte verwurzelt sind, betonten ihre Protagonisten seit 1949 überwiegend den mit der Verabschiedung des Grundgesetzes markierten staatlichen Neuanfang. Während seit den fünfziger Jahren kontinuierlich der Wohlstand wuchs, offenbarte jeder Blick zurück die Millionen Opfer des Nationalsozialismus, die Gefallenen des Krieges und den vielfachen Verlust der Heimat.
Dass so mit der Zeit das Bewusstsein für die positiven Traditionen des eigenen Landes verloren ging, zeigte sich erst in den letzten Monaten wieder, als nacheinander der 100. Jahrestag der Novemberrevolution von 1918, die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung samt Einführung des Frauenwahlrechts und vieler weiterer historischer Ereignisse anstand. Zwar hielt der Bundespräsident im Deutschen Nationaltheater in Weimar eine große Rede, die auch in den Fernsehnachrichten und Leitartikeln entsprechend gewürdigt wurde – doch wirklich bewegt haben die Jubiläen die Nation nicht.
Ausnahmestellung eines Jahrestags
Um so erstaunlicher ist angesichts dieser Geschichtsvergessenheit der Umgang mit der Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Zwar haben die Witwen und Kinder der einstigen Verschwörer oft beklagt, dass ihre Männer und Väter gerade in den ersten Jahren nach dem Ende des „Dritten Reiches“ bei vielen Landsleuten noch lange als Verräter gegolten hatten. Doch hat das offizielle Bonn – und später Berlin – von Beginn an konsequent an den Widerstand gegen die NS-Diktatur erinnert. Die Liste der Redner, die alljährlich zum 20. Juli sprachen, reicht von Theodor Heuss bis Joachim Gauck, von Konrad Adenauer bis Angela Merkel; von Carl Zuckmayer bis Ralf Dahrendorf, von Fritz Stern bis Karl Heinz Bohrer. Ihre und viele weitere durchaus sehr vielfältige Reden – Bruno Kreisky etwa sprach 1981 über das Thema „Der deutsche Widerstand und die Österreich-Frage“ – sind nachzulesen auf der Website der Stiftung 20. Juli 1944. So wurde der 20. Juli zu dem Tag, der die Bundesrepublik mit der Zeit vor ihrer Gründung verbindet; ein Tag, an dem sie sich vergewissert, woher sie kommt und auf welchen Fundamenten sie steht.
Andere Jahrestage wie der 8. Mai, der als Schlusspunkt der NS-Diktatur von größerer symbolischer Bedeutung wäre, sind weitaus weniger gewürdigt worden. So erinnerte der Berliner Tagesspiegel unlängst daran, dass etwa 1955 zum zehnten Jahrestag des Kriegsendes kein Bundespräsident an dieses Datum erinnerte, und dass Heinrich Lübke am 7. Mai 1965 auf einem Festakt zur 300-Jahr-Feier der Handelskammer Hamburg sprach und kein Wort über den Krieg, die deutsche Niederlage und deutsche Verbrechen verlor.
Wer war Stauffenberg?
Dass der 20. Juli 1944 die Gemüter noch immer bewegt, zeigte sich erst in diesem Frühjahr wieder. Im März legte Thomas Karlauf die Biographie „Stauffenberg. Porträt eines Attentäters“ vor und stellte darin u.a. die überlieferte Motivation Stauffenbergs und seiner Mitstreiter infrage. Anstelle der moralischen Empörung über die Verbrechen des NS-Regimes, so Karlauf, habe bei den Verschwörern die Sorge um das Schicksal des Vaterlandes angesichts der zu erwartenden Niederlage im Kriege überwogen.
Damit hatte Karlauf einen Nerv getroffen: Während die großen Jubiläen dieses Jahres allesamt ohne großes Echo blieben, diskutierte die Kulturnation plötzlich über das Wesen des Widerstands. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Bendlerblock, bescheinigte dem Biographen in der Welt, „mit diversen Nachkriegslegenden“ aufzuräumen und „präzise die Milieus (herauszuarbeiten), die Stauffenberg prägten“. Dagegen kritisierte Jens Jessen – dessen Großvater nach dem gescheiterten Attentat zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war – in der Zeit, dass Karlauf die Attentäter zu sehr aus heutiger Perspektive beurteile und somit den gesamten Widerstand dubios erscheinen lasse: „Karlauf traut dem Helden seines Buches nicht, er hält ihn nach heutigen moralischen Maßstäben nicht einmal für einen Helden, bestenfalls für einen kühnen Wirrkopf. Wenn man alles argumentative Hin und Her beiseiteschiebt, ergibt sich ein Bild, das der rasanten Abwertung des konservativen deutschen Widerstands in den letzten Jahrzehnten entspricht, kulminierend in der These, der schon die Westalliierten bis lange nach 1945 anhingen: dass es allesamt auch nur Nazis waren, die den Putsch lediglich versuchten, weil sie ihre Schäfchen ins Trockene bringen wollten oder Hitler für ineffizient hielten.“
Entschieden kritisiert Jessen auch die grundsätzliche Haltung des Biographen gegenüber den Attentätern: „Thomas Karlauf reklamiert für sich eine Neutralität der Darstellung, die auf jede Apologie verzichtet. Aber abgesehen davon, dass er ständig Haltungsnoten verteilt – was bedeutet das Konzept der Neutralität gegenüber Männern, die für ihren Widerstand gegen Hitler mit Folter und Tod bezahlten?“ Und weiter: „Gleichgültigkeit gegenüber Todesmut kann man natürlich als moralische Neutralität feiern. Man kann es aber auch als moralische Kapitulation einer Gegenwart sehen, die den Opportunismus der Angestelltenwelt verinnerlicht hat und Ideale nur noch im Sprachgebrauch hochhält.“
Einen in der Fülle der Literatur zum Thema oft vernachlässigten Aspekt betont Sophie von Bechtolsheim in ihrem Stauffenberg-Buch: Unter dem provokanten Titel „Stauffenberg – mein Großvater war kein Attentäter“ weist die Autorin auf die besonderen Umstände hin, die die Verschwörer zu einer Tat veranlassten, die ihrem ursprünglichen Weltbild zuwider war: „Die Persönlichkeit meines Großvaters lässt sich nicht darauf reduzieren, Attentäter gewesen zu sein. Er entspricht nicht dem Typus, unter dem wir uns den Attentäter schlechthin vorstellen. Seine Geisteshaltung, seine Motive, seine Lebensleistung zusammenzuschnüren und sein ganzes Leben auf die Tat am 20. Juli 1944 hin zu stilisieren, wird ihm nicht gerecht. Er gehört nicht in die Reihe all derer, deren Ziel einzig die Gewalt, einzig die Aufmerksamkeit durch einen Mordanschlag ist.“
Der andere Widerstand
Zu den Akteuren des Widerstands, die neben Stauffenberg noch heute gegenwärtig sind, gehört der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Wegen seiner konsequenten Haltung gegen die Nationalsozialisten und seines Engagements in der Bekennenden Kirche, die er mit Gestapo-Haft und Ermordung bezahlte, gilt Bonhoeffer nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen protestantischen Kirchen der Welt sowie auch in der römisch-katholischen Kirche als Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Seine Briefe aus der Haft wurden als Neubeginn der Theologie verstanden, seine Verse „Von guten Mächten treu und still umgeben“ – im Dezember 1944 in der Todeszelle verfasst – fanden vertont Eingang in die Gesangbücher der evangelischen Landeskirchen und werden noch heute weit über die Kirche hinaus gesungen.
In seinem Porträt „Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit“ beschreibt nun Alt-Bischof Wolfgang Huber das Leben, Denken und Wirken dieses Ausnahmetheologen. Kompakt und übersichtlich zeichnet Huber den Lebensweg Bonhoeffers von der Kindheit in Breslau und dem Studium in Berlin über diverse Auslandsaufenthalte, die Gründung des Pfarrernotbundes und den Aufbau der Bekennenden Kirche bis hin zu seiner Verhaftung und späteren Ermordung am 9. April 1945 nach. So begegnet der Leser einem Menschen, der sich – anders als die meisten Landsleute – konsequent dem NS-Regime verweigerte, der 1935 von einer sicheren Auslandspfarrstelle in London zurückkehrte, um ein Predigerseminar für die Bekennende Kirche in Zingst und später in Hinterpommern aufzubauen, der 1939 – trotz des Wissens um die Gefahren für sein Leben – eine Einladung nach New York ausschlug, weil ihm klar war, dass er danach nicht mehr zurückkehren könnte – und der selbst in der Gestapo-Haft nicht gebrochen war, sondern seine stärksten Texte schrieb. Hubers Bonhoeffer-Porträt verdeutlicht, warum die Köpfe des Widerstands noch heute so viele Menschen bewegen und anregen.
Ferne nahe Zeit
Wie schwer unterdessen der Zugang zu jener fernen Zeit inzwischen sein kann, zeigt die ebenfalls in diesem Frühjahr erschienene Marion-Dönhoff-Biographie von Gunter Hofmann, deren programmatisches Ziel im Untertitel „Die Gräfin, ihre Freunde und das andere Deutschland“ lautet. Hofmann, der als Redakteur der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit viele Jahre unter der Herausgeberin Dönhoff gearbeitet hat, ist redlich bemüht, den einzigartigen Lebensweg einer jungen ostpreußischen Gutsverwalterin hin zur „publizistisch-moralischen Instanz der Bundesrepublik“ (Hofmann) nachzuzeichnen. Doch unterlaufen ihm dabei leider immer wieder Fehler. So nennt er den durch Königsberg fließenden Fluss durchgängig die Pregel, obwohl es der heißt, was ähnlich schmerzhaft klingt, als wenn man den Rhein konsequent die Rhein nennen würde. Und das Dönhoffsche Gut Quittainen platziert der Autor „rund 120 Kilometer westlich vom ehemaligen Königsberg“; dabei liegen westlich der ostpreußischen Hauptstadt das Frische Haff und die Ostsee. Derlei Ungenauigkeiten mögen Lappalien sein, doch lassen sie Zweifel aufkommen, wie tief der Autor sich auf die ursprüngliche Lebenswelt der Gräfin eingelassen hat.
Ein grundsätzliches Problem ist, dass Hofmann Marion Dönhoff stets von ihrem Lebensende her betrachtet. Das ist einerseits verständlich, weil es genau diejenige Grande Dame ist, die ihm vertraut ist; andererseits verbaut ihm dieser Blickwinkel manch kritische Nachfrage. So stellt der Biograph nüchtern fest, dass die im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn zum Inbegriff einer liberalen Journalistin gewordene Herausgeberin sich von Beginn an „reibungslos“ in die kleine Hamburger Zeit-Familie einfügte, obwohl die Zeitung sich schon bald nach ihrer Gründung den „Ruhm als nationales Kampfblatt gegen neues Unrecht“ erwarb. Hofmanns Fazit dazu lautete: „… man wird sie sich als jemanden vorstellen müssen, der erst werden musste, was sie war“. Doch gerade hier wäre es spannend gewesen, mehr darüber zu erfahren, wie Marion Dönhoff nach dem Kriege tatsächlich dachte. Immerhin sagte einer der Nachfolger der Gräfin einmal, dass sie als kalte Kriegerin begonnen habe.
Der ursprünglichen Lebenswelt Dönhoffs nähert sich Hofmann durch ausführliche Zitate aus ihren Werken, allen voran aus „Um der Ehre willen“, den „Erinnerungen an die Freunde des 20. Juli“. Auch wenn ein Biograph angesichts einer solchen Fülle an Büchern und Artikeln, wie sie Marion Dönhoff hinterlassen hat, nicht alle Werk-Details berücksichtigen kann, wäre es wünschenswert gewesen, auch auf einige andere ihrer Texte einzugehen, die heute meistens ausgeblendet werden. So schildert Marion Dönhoff in ihrem Fluchtbericht „Nach Osten fuhr keiner mehr“ (veröffentlicht in „Namen, die keiner mehr nennt“), wie sie in Pommern zwei Tage Halt in Varzin macht; jenem Gut, das Otto v. Bismarck 1866 erworben hatte. Im Frühjahr 1945 lebt dort noch die uralte Schwiegertochter des Reichsgründers: „Sie war sich ganz klar darüber, dass sie den Einmarsch der Russen nicht überleben würde. Sie wollte ihn auch nicht erleben, und darum hatte sie im Park ein Grab ausheben lassen (weil dazu nachher niemand mehr Zeit haben würde). Sie wollte in Varzin bleiben und sich bis zum letzten Moment an der Heimat freuen. Und das tat sie mit großer Grandezza. (…) Mit keinem Wort wurde das, was draußen geschah und was noch bevorstand, erwähnt (…) Als ich dann schließlich Abschied nahm und wir weiterritten, sah ich mich auf halbem Wege zum Gartentor noch einmal um. Sie stand gedankenverloren in der Haustür und winkte noch einmal mit einem sehr kleinen Taschentuch. Ich glaube, sie lächelte sogar …“
Passagen wie diese mögen klein und unscheinbar sein. Doch lässt sich in ihnen mitunter mehr über jene ostelbische Lebenswelt, der so viele prägende Figuren des Widerstands entsprangen, und deren Untergang 1944/45 erahnen als in den inzwischen unzähligen historischen oder soziologischen Abhandlungen. Trotz der genannten kritischen Punkte ist Hofmanns Dönhoff-Biographie ein überaus lesenswertes Buch. Zum einen, weil es in seinen hinteren Kapiteln ein spannend geschriebenes Stück Zeit- und Kulturgeschichte ist. Zum anderen, weil es verdeutlicht, wie schwer es heutzutage ist, sich den Lebenswelten des deutschen Widerstands zu nähern.
Buchtipps
Thomas Karlauf Stauffenberg. Porträt eines Attentäters, 368 Seiten, Blessing, 24,- Euro. randomhouse.de
Sophie von Bechtolsheim. Stauffenberg – mein Großvater war kein Attentäter, 144 Seiten, Herder, 16,- Euro. herder.de
Wolfgang Huber. Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit, 336 Seiten, C.H. Beck, 26,95 Euro. chbeck.de
Gunter Hofmann. Marion Dönhoff. Die Gräfin, ihre Freunde und das andere Deutschland 480 Seiten, C.H. Beck, 28,- Euro. chbeck.de