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»Digitale Politik«

Kein Mehr an Demokratie

Nach Jahrzehnten der nahezu vollständigen Digitalisierung des öffentlichen Lebens wächst vielerorts wieder die Sehnsucht nach bewährten analogen Dingen. Zum Beispiel nach Büchern mit Leinen und Lesebändchen oder nach Schallplatten mit ihrem unverwechselbaren Klang. Die Beiträge des Mai-Titelthemas zeigen, dass dieser Trend keinsfalls nur in den Medien stattfindet, sondern in zahlreichen Bereichen unseres Alltags – bis hin zur Politik.

Stephan Klecha15.05.2014

Mit dem Aufkommen der Piraten schien es, als würde das Digitalzeitalter auch die Politik entern. Die Partei war in mehrfacher Hinsicht ein Versprechen, durch welches das politische System zwischenzeitlich beträchtlich aufgemischt worden ist. Man nahm von ihr an, dass sie Politik anders und vor allem zeitgemäßer machen würde. Während zwei Drittel ihrer Wähler die Piraten in erster Linie als Möglichkeit betrachteten, den etablierten Kräften gegenüber ihren Protest auszudrücken, hofften nicht wenige Beobachter der politischen Szenerie, dass endlich eine Partei den postmodernen Zeitgeist antizipieren würde.

Kennzeichen der Parteien in der Bundesrepublik sind nämlich die klassischen Organisationsweisen der Moderne. Die Zentrierung auf wenige Eliten an der Spitze als Entscheidungsträger und ein mehr oder minder bereitwilliges Fußvolk an der Basis entsprechen einer straffen Linienorganisation, wie sie sich in Fabriken, Verwaltungen und im Militär im vorvergangenen Jahrhundert durchgesetzt hat. All das scheint mittlerweile im Gegensatz zur partizipationswütigen Zivilgesellschaft der Gegenwart zu stehen.

Dieses einbeziehend, war mit den Piraten die Erneuerung der Demokratie assoziiert worden, weil die Piratenpartei eine netzgebundene Arbeitsweise propagierte, die einen Bruch mit jener ortsgebundenen und an physische Präsenz geknüpften Arbeit in den starren Strukturen der etablierten Parteien darstellte. Mit Smartphone, Tablet oder Laptop konnte man sich stattdessen bei den Piraten jederzeit in eine umfängliche digitale Kommunikationslandschaft einwählen. Im EtherPad organisierte man Veranstaltungen. Im Mumble besprach man Themen. Auf Twitter regte man sich kollektiv auf, ehe man auf einem Weblog das Zeitgeschehen kommentierte. Der Mailing-Liste enthielt man nicht vor, wenn irgendwo ein spannender Vortrag stattfand. Aus dem Wiki schöpfte man Informationen, die man zum Stand der Programmdebatte haben wollte. Und dann gab man bei LiquidFeedback oder über LimeSurvey noch seine Meinung zu diesem oder jenem Thema ab.

Selbst wer nur einen Bruchteil dessen verstand, was da an Tools und Entscheidungswegen vorgehalten wurde, war schnell hellauf begeistert. Endlich nutzte eine Partei konsequent das Internet, verstand es nicht als bloßen Distributionskanal, sondern gestaltete ihn als Partizipationsraum aus. Seitdem die Piratenpartei langsam, aber sicher zerbröselt, ist von all dem Hype um neue Arbeits- und Beteiligungsformen im Internet aber nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Das ist vielleicht das Erstaunlichste am Untergang der Piratenpartei: Niemand ist bestrebt, aus ihrer digitalen Konkursmasse Elemente zu übernehmen, obwohl ja gerade das als ein wesentliches Erfolgsrezept der digitalen Freibeuter galt.

NEUE ZUGANGSHÜRDEN

Vier Aspekte des Scheiterns der Piratenpartei sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Erstens hat der Erosionsprozess der Piraten gezeigt, welche destruktive Dynamik die digitale Kommunikation im Netz auch entfalten kann. Sie blendet nämlich eine Reihe von Elementen der menschlichen Interaktion aus. Durch die besondere Betonung der textuellen Ebene bleiben Emotionen, rhetorischen Finessen oder nonverbale Kommunikationsweisen ausgespart. Diese sind aber im Diskurs elementar, können gleichermaßen verschärfend wie mäßigend wirken.

Die textliche Bedeutung und das gleichzeitige Erfordernis, mit bestimmten Anwendungstools umzugehen, setzen zudem voraus, ein entsprechendes kulturelles Kapital zu besitzen. Wer darüber nicht verfügt, ist schnell ausgeschlossen. Statt mehr Beteiligung werden dadurch also zweitens schnell neue Zugangshürden errichtet.

Wer diese Zugangshürden jedoch überschreitet, dem bietet sich drittens nur dann ein unbegrenztes Feld der digitalen Partizipation, wenn er genug Zeit mitbringt, um die ganze umfängliche Kommunikation zu bewältigen. Ohne einen umfassenden Überblick ist ein wirksames Mitmachen nämlich schwerlich möglich.

Damit hängt viertens das zusammen, was Eli Pariser unter dem Begriff „Filter Bubble“ popularisiert hat. Um der Informationsflut irgendwie Herr zu werden, müssen selbst die zeitreichen Nutzer digitaler Kommunikationsnetzwerke Informationen herausfiltern, sie ordnen und strukturieren. Die ihnen dabei zur Verfügung stehenden Tools sind aber so angelegt, dass sie sich den Vorlieben ihrer jeweiligen Nutzer anpassen, was eine stark selektive Wahrnehmung von gesellschaftlichen Phänomenen mit sich bringt. In den USA wird das mittlerweile als eine Ursache identifiziert, warum das Parteiensystem dort in der Zwischenzeit so hochgradig polarisiert und ideologisiert ist.

Insgesamt entsteht also der Eindruck, dass die Piraten zwar ein Mehr an Partizipation angeboten haben, aber eben kein Mehr an Demokratie. Das zentrale Versprechen der Demokratie ist nämlich letztlich die Beteiligung aller. Diese ist nur zu erreichen, wenn die Mitwirkung leicht und ohne große Zugangshürden möglich ist, wenn die Entscheidungswege prinzipiell einfach zu verstehen sind und dabei die Handlungsarenen klar zu erkennen sind. Und so scheint sich so etwas wie eine Tendenzwende anzukündigen. Statt darüber weiter zu sinnieren, wie man Partizipation, Mitwirkung und Teilhabe ausbaut und dabei die neuesten technischen Möglichkeiten umfassend nutzt, gibt es eine erkennbare Sehnsucht nach den bewährten Institutionen, Verfahrensregeln und Akteuren.

Sehnsucht nach analoger Politik gibt es heute sowohl in der Politikwissenschaft, die sich mit plebiszitären Erweiterungen der Demokratie ohnehin schwer tut, als auch in den Reihen der journalistischen Beobachter. Diese hatten jüngst die Haushaltsdebatte im Bundestag, also das Hochamt der parlamentarischen Auseinandersetzung in Deutschland, scharf gegeißelt. Es war dabei noch nicht einmal die einschläfernde großkoalitionäre Einmütigkeit, sondern die fehlende Polemik der politischen Auseinandersetzung, die unterentwickelte rhetorische Brillanz der Redner und nicht zuletzt die mangelnde Bereitschaft der Abgeordneten zum prononcierten und anregenden Widerspruch. Kurzum, der Wunsch nach einer ganz klassischen, konventionellen Debatte, derer sich zahlreiche Mandatsträger aber noch dadurch zusätzlich entledigten, indem sie lieber in ihr Smartphone schauten als der Auseinandersetzung zu folgen.

BEDÜRFNIS NACH GEWOHNTEM

Das Bedürfnis, sich Politik in gewohnter, ja geradezu anachronistischer Weise zu nähern, ist dabei keines, welches nur die professionellen Beobachter hegen. Vielmehr werden in Wahlkampagnen ganz urwüchsige Formen direkter Kommunikation gepflegt. Nicht nur die SPD hat im letzten Bundestagswahlkampf auf Hausbesuche gesetzt. Eine ganze Reihe von Bürgermeistern oder Landtagskandidaten setzt mit Erfolg auf das Gespräch im kleinen Rahmen. Sie substituieren dadurch in erster Linie die schwächere gesellschaftliche Verankerung der Parteien in der Gesellschaft. Tatsächlich gehen den Parteien nämlich die Multiplikatoren aus, die in früheren Zeiten die Übersetzung von Bürgerschaft zum Repräsentativorgan gewährleistet haben. Aus dieser Perspektive heraus geht es also nicht um ein wachsendes Partizipationsbedürfnis der Bevölkerung, sondern um steigende Wünsche nach greifbarer Repräsentation.

Auch innerhalb der Parteien kann man vernehmen, dass Parteitage oder Vorstandssitzungen nicht vom Wunsch nach mehr Diskurs belebt werden, sondern dass es um den Austausch von glaubwürdigen Informationen geht. Das spiegelt sich sogar im Mitgliederentscheid der Sozialdemokraten über den Eintritt in die Große Koalition wider. Die Genossen hatten sich – wie eine Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung gezeigt hat – in erster Linie über ihre Parteizeitung informiert.

Die konventionelle, analoge Demokratie ist also keineswegs ein Anachronismus des politischen Handelns, sondern sie genießt unverändert hohe Akzeptanz, erfährt jedoch keine Begeisterung. Der Grund liegt daran, dass nicht zuletzt die Parteien personell Schwierigkeiten haben, gesellschaftliche Debatten aufzunehmen, diese in die Gesellschaft zurückzuspiegeln und advokativ die Interessen zu wahren, auszugleichen und durchzusetzen. Das lässt sich gegenwärtig anscheinend auch nicht durch eine digitale Teilhabestruktur ersetzen.

Stephan Klecha
Dr. Stephan Klecha ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zuletzt erschien „Zwischen digitalem Aufbruch und analogem Absturz: Die Piratenpartei“ (Budrich 2013).

www.demokratie-goettingen.de

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