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Interview

„Kein unabwendbares Schicksal“

Interview - „Kein unabwendbares Schicksal“
Wichtiger Faktor: Das Taufverhalten spielt für die Zukunft der Kirchen eine herausragende Rolle. © Andreas Salomon-Prym/Visum

Das Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge hat die zu erwartende Entwicklung der beiden großen Kirchen in den nächsten Jahrzehnten untersucht. Fragen an den Leiter des Zentrums

01.06.2019


Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen ist Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.


Herr Raffelhüschen, dass die großen Kirchen seit Jahren Mitglieder verlieren, ist nicht neu. Was ist die besondere Erkenntnis Ihrer Studie?
Wir haben mit unserer Studie zwei Aspekte untersucht: zum einen die Frage, welchen Einfluss der demographische Wandel auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Kirchen hat. Dieser ist ja nicht von den Kirchen zu vertreten, geht jedoch auch nicht an ihnen vorbei. Auf diesem Gebiet können die Kirchen wenig ändern. Daneben gibt es jedoch Entwicklungen – diese haben wir uns ebenfalls angesehen –, die nicht durch die Demographie bestimmt werden und auf die die Kirchen durchaus einen Einfluss haben: zum Beispiel das Taufverhalten oder das Austrittsverhalten vorhandener Mitglieder. Wir wollten wissen, wie viel von dem, was an Mitgliederschwund zu erwarten ist, unabdingbar und nicht mehr behebbar ist – und wie viel davon beeinflussbar ist.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Im Großen und Ganzen sind es je nach Landeskirche oder Diözese rund die Hälfte bis zwei Drittel kircheninterne Faktoren, die den Mitgliederschwund ausmachen. Damit haben die Kirchen eigentlich eine gute Nachricht. Denn sie stehen nicht hilflos und machtlos vor einem unabwendbaren Schicksal, sondern sie können die Entwicklung beeinflussen, wenn sie denn wollen.

Haben Sie auch untersucht, warum viele Menschen sich von ihrer Kirche abwenden oder gar nicht erst zu ihr finden?
So weit sind wir nicht gegangen. Unsere Untersuchung war statistisch-mathematisch angelegt, nicht inhaltlich-theologisch. Wir haben uns zum Beispiel das Austritts- und Taufverhalten der Vergangenheit angeschaut und dieses für die Zukunft reflektiert. Doch wenn die Mathematik zu der Erkenntnis kommt, dass es einen Gestaltungsspielraum gibt, sollte man diesen meines Erachtens auch nutzen. Wenn es diesen Spielraum nicht gäbe, könnte man sagen „Schwamm drüber, die Sache ist gelaufen“. Aber sie ist es nicht.

Welche Erkenntnisse, bzw. Perspektiven konnten Sie noch ermitteln?
Auf lange Sicht werden die beiden großen Kirchen fast die Hälfte ihrer heutigen Mitgliederzahl verlieren. Dies führt natürlich zu einem dramatischen Rückgang des Kirchensteueraufkommens und zur Notwendigkeit, Kosten einzusparen. Allerdings sollte man nicht nur über das Sparen nachdenken, sondern auch überlegen, welche Ausgaben erforderlich sind, um Mitglieder zu gewinnen und zu binden. Die Kirchensteuer heißt zwar Steuer, aber im Grunde ist sie eine freiwillige Abgabe der Mitglieder, die durch einen Austritt jederzeit beendet werden kann.
Interessant finde ich auch, dass die Finanzen der Kirchen von vergleichsweise wenigen Menschen aufgebracht werden. Rund drei Viertel des Kirchensteueraufkommens werden von weniger als 15 Prozent der Kirchenmitglieder gezahlt.

Ist den Kirchen dieser Fakt bewusst?
In den Führungsstrukturen durchaus. Aber ich bin mir nicht sicher, ob jedem einzelnen Pfarrer klar ist, wer da im Falle eines Austritts gerade die Kirche verlässt, und ob es nicht möglicherweise eines der finanziell tragenden Mitglieder dieser Kirche ist. Deshalb ist es unserer Meinung nach wichtig, um jedes Mitglied zu werben. Zumal sich jeder Austritt schnell doppelt und dreifach auswirkt: Denn wo die Kirchenferne der Eltern zunimmt, wird zugleich die Taufwahrscheinlichkeit der Kinder deutlich geringer.

Haben Sie regionale Unterschiede feststellen können?
Im Wesentlichen sind die Entwicklungen gleich, das Niveau ist natürlich jeweils ein anderes. Im ostdeutschen Bereich sind die Katholiken und Protestanten schlichtweg eine Minderheit, hier ist der Atheismus die vorherrschende Weltanschauung. Das mag als Folge von vierzig Jahren Kommunismus in der DDR vielleicht verständlich sein; andererseits wissen wir, wie wichtig vor und während der Wende 1989/90 die Kirchen für die Opposition waren. Die DDR ist zwar primär an ihrer Unfreiheit und an den Mängeln der sozialistischen Planwirtschaft gescheitert; klar ist aber auch, dass die Bürgerbewegungen von Rügen bis zum Thüringer Wald in unzähligen Pfarr- und Gotteshäusern eine Heimstatt und Orte zum Versammeln hatten, die ihnen sonst im SED-Staat verwehrt geblieben wären. Doch obwohl damals über Monate hinweg Millionen Menschen Woche für Woche in die Friedensgebete gegangen sind, ist den Kirchen daraus keine dauerhafte Identifikationsrolle zugefallen. Darüber sollte man meines Erachtens vertiefter nachdenken.

Welche Unterschiede konnten Sie zwischen den Konfessionen beobachten?
Da gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede, zum Beispiel bei der Taufwahrscheinlichkeit. Die katholische Taufwahrscheinlichkeit kennt im Grunde nur ein Maximum, und das ist bei der Geburt oder kurz danach. Die evangelische Taufwahrscheinlichkeit kennt zwei Maxima: eines bei der Geburt und eines kurz vor der Konfirmation. Offensichtlich holt die evangelische Kirche Teile dessen, was sie rund um die Geburt verliert, später nach. Nun kann man natürlich sagen, die Jugendlichen machen dies nur wegen des Geldes. Das ist sicherlich auch vielfach so. Aber ein getaufter Mensch ist immerhin ein Mitglied, das austreten muss; ein gar nicht erst getaufter Mensch muss eintreten. Das ist im Zweifel die viel größere Hürde.

Spannend für beide Kirchen ist auch der Einfluss des Faktors Migration.
Das stimmt. Ein Großteil der nach Deutschland fließenden Zuwanderungsströme kommt aus Osteuropa. Da es dort sehr viel mehr Katholiken als evangelische Christen gibt, profitiert die katholische Kirche von der Zuwanderung ungleich mehr.

Zu den Befunden Ihrer Studie gehört, dass die Kirchenaustritte vorwiegend im Alter zwischen 25 und 35 Jahren stattfinden. Das weckt den Verdacht, dass es sich dabei überwiegend um junge Menschen handelt, die als Kinder Mitglied der Kirche geworden sind und sich dann – beim Blick auf den ersten Lohn- oder Gehaltszettel – fragen, was da eigentlich abgebucht wird. Täuscht dieser Eindruck?
Der Eindruck ist völlig richtig. Die Kirchenaustritte fangen sehr oft dort an, wo die Finanzierung der Kirchen für die Menschen spürbar wird. Dann findet eine Kosten-Nutzen-Abwägung statt, bei der sich die Kirchenfernen sagen, dass sie zwar sehr hohe Kosten haben, jedoch wenig Nutzen. Das führt dann zu Austritten. In dem Zeitraum zwischen der Konfirmation bis zu einer signifikanten Einkommenshöhe spielt die Kirchensteuer kaum eine Rolle. Doch ab einem bestimmten Niveau sagen viele: „Jetzt ist das für mich nicht mehr verhältnismäßig; ich habe nicht ansatzweise so viel Nutzen, wie es mich kostet.“ Und es kommt zu einer ganz normalen Abwägung wie bei jeder anderen Mitgliedschaft auch.

Heißt das, dass Effekte wie die Missbrauchsskandale und der Umgang damit eine weniger entscheidende Rolle spielen als gemeinhin angenommen?
Aus diesen Zahlen lässt sich einiges ablesen. Dazu gehört, dass der von Medienvertretern oftmals erweckte Eindruck, die Gläubigen würden vorwiegend aufgrund irgendwelcher Verfehlungen der Amtsträger ihre Kirche verlassen, nicht richtig ist. Natürlich gibt es Skandale, und natürlich verlassen Mitglieder danach ihre Kirche. Aber im Verhältnis zu den oben beschriebenen Austritten zwischen 25 und 35 Jahren ist dieser Effekt eher gering. Es ist in der Regel eher so, dass Menschen, die längst ihre innere Kosten-Nutzen-Analyse für sich negativ berechnet haben, durch einen Skandal den ohnehin geplanten Austritt vorziehen. Aber bestimmend sind die Skandale nicht. Vom Grundsatz her bieten die Kirchen ein einzigartiges Angebot: Glaubensgemeinschaft und Gemeinsinn. Beides steht bei den jungen Leuten von heute ganz hoch im Kurs. Doch nur wenige verbinden diese Begriffe mit Kirche. Um diese Diskrepanz sollten sich die Kirchen kümmern. Wenn sie es weiterhin nicht schaffen, ihr inhaltliches Angebot mit den Bedürfnissen der Menschen zu verbinden, dann verpassen sie eine ganz große Chance.

Das Gespräch führte René Nehring.