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Keine andere Wahl
Die Klimakrise ist akut und eine Energiewende unabwendbar. Wissenschaftliche Ergebnisse zeigen eindeutig: Die Wende ist nicht nur machbar und bezahlbar, sie kann sogar lukrativ sein.
Rückblende: Sommer 2019. Deutschland diskutiert so intensiv wie nie zuvor über den Klimaschutz. Zwei Dinge sind es vor allem, die zu dieser ungeahnten Präsenz des Klimathemas in Zeitungen, Talkshows und sozialen Medien geführt haben: der heiße, trockene Sommer 2018, der die Realität des Klimawandels sehr greifbar gemacht hat, und die Fridays-for-Future-Bewegung, die seit einem halben Jahr lautstark, öffentlichkeitswirksam und unter dem Motto „Hört auf die Wissenschaft!“ die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens einfordert.
Ein Jahr später, im Sommer 2020, beherrscht die Coronapandemie die Zeitungen, Talkshows und sozialen Medien. Dennoch: Das Thema Klimaschutz ist nicht verschwunden, im Gegenteil. Die Frage, welche Rolle die Klimaziele beim Herausführen der Wirtschaft aus der Corona-Talsohle spielen sollten, wird mit hoher Priorität debattiert. Um diese Diskussion richtig einzuordnen, ist es wichtig, den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimaschutz in Deutschland zu kennen.
Technologien der Energiewende
Da 85 Prozent der deutschen klimarelevanten Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger stammen, heißt Klimaschutz in allererster Linie Energiewende: also Umstellung der Energieversorgung von Kohle, Erdgas und Erdöl auf (CO2-freie) erneuerbare Energieträger.
Vor zehn bis 15 Jahren war noch unklar, ob beziehungsweise bis zu welchem Grad eine solche Umstellung realistisch machbar wäre. Diese Frage ist jedoch durch die Forschungen und die technologischen Entwicklungen seit 2010 geklärt: Deutschland kann zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energieträgern versorgt werden. In den letzten Jahren sind dazu mehrere wissenschaftliche Studien veröffentlicht worden, vor allem vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI: „Klimapfade für Deutschland“) und von der Deutschen Energieagentur (DENA: „Integrierte Energiewende“). Diese Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der zukünftigen Energieversorgung im Jahr 2050:
• Die Stromerzeugung, circa 40 Prozent der Energieversorgung, beruht fast ausschließlich auf Photovoltaik (PV) und Windkraftwerken (an Land und auf See). Dazu müssen die heutigen Kapazitäten in etwa verdreifacht werden.
• Speicher und konventionelle Reservekraftwerke sorgen dafür, dass die Stromnachfrage (auch wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht) zu jeder Zeit gedeckt werden kann.
• 60 Prozent der Energieversorgung beruhen in erster Linie auf Wasserstoff und den sogenannten „synthetischen Brennstoffen“. Diese Energieträger werden CO2-neutral in sogenannten PtX-Anlagen aus PV- und Windstrom hergestellt und größtenteils (wie heute die fossilen Energieträger) importiert, denn die Produktion ist in den sonnen- und windreichen Regionen Südeuropas, Nordafrikas, Australiens oder Südamerikas viel günstiger als bei uns.
• Wasserstoff und synthetische Brennstoffe ersetzen das heutige Erdgas in der Industrie und bei der Gebäudeheizung, den Diesel im Schwerlastverkehr und das Kerosin in Flugzeugen.
• Der zukünftige Pkw-Verkehr beruht zum größten Teil auf Elektromobilität. Dazu muss in den nächsten zehn bis 20 Jahren die erforderliche Ladeinfrastruktur aufgebaut werden.
Die für die Energiewende zentralen Technologien sind damit: PV-Anlagen, Windräder, Speicher, Batterien und PtX-Anlagen.
Kosten der Energiewende
Während die Frage nach der technischen Machbarkeit der Energiewende nicht mehr umstritten ist, hält sich hartnäckig die Auffassung, eine solche, auf regenerativen statt fossilen Energieträgern beruhende Energieversorgung sei viel zu teuer. Die Energiewende untergrabe vor allem durch hohe Strompreise die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft – mit negativen Folgen für Wirtschaftsleistung, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Die genannte Studie des BDI und eine Analyse im Auftrag des BMWi haben auch diese Frage untersucht und kommen zu einem anderen Ergebnis: Die Auswirkungen von ambitionierter Klimapolitik auf das Bruttoinlandsprodukt und auf die Arbeitsplätze sind demzufolge sogar positiv.
Auch bezüglich der Energiepreise hat sich bisher die Sorge vor zu hohen Kosten nicht bewahrheitet. Haushalte und Unternehmen zahlen heute – gemessen an den verfügbaren Einkommen beziehungsweise am Umsatz – trotz Energiewende nicht mehr für Energie als vor 20 oder 30 Jahren. Ohnehin spielen die Energiekosten für die Wettbewerbsfähigkeit der meisten Branchen (zum Beispiel Automobil und Maschinenbau) nur eine untergeordnete Rolle; und für die energieintensiven Branchen (Chemie, Metall) sind die Strompreise im internationalen Vergleich eher niedrig.
Bei der Prognose der zukünftigen Energiepreise muss man die aktuellen Entwicklungen berücksichtigen: Was noch vor wenigen Jahren undenkbar schien, wird in diesem Sommer Wirklichkeit: In Brandenburg wird das erste Solarkraftwerk gebaut, das ohne staatliche Subventionen auskommt. Der PV-Strom ist – auch inklusive anteiliger Speicher und Reservekraftwerke – nicht teurer als Strom aus fossilen Kraftwerken. Die meisten Experten sind sich mittlerweile einig, dass spätestens 2025 Elektroautos nicht mehr kosten werden als konventionelle Autos mit Verbrennungsmotor; günstiger in Wartung Verbrennungsmotor; günstiger in Wartung und Betrieb sind sie ohnehin (auch unter Berücksichtigung der Kosten für die Ladeinfrastruktur). Auch die Prognosen zu den zukünftigen Kosten für Wasserstoff und synthetische Brennstoffe werden laufend nach unten korrigiert. Allerdings werden diese Energieträger in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich teurer sein als Erdöl und Erdgas.
Diese Entwicklungen haben alle die gleiche Ursache: Die Kosten für PV-Module und Batterien sind in den letzten zehn Jahren um mehr als 80 Prozent gesunken, und sie sinken weiter.
Der Grund dafür wiederum sind massive Skaleneffekte durch die hohen weltweiten Investitionen in diese Technologien und den Aufbau riesiger, hochautomatisierter Fertigungsstraßen, vor allem in Asien. Bereits seit Jahren wird global deutlich mehr Geld in regenerative Kraftwerke als in fossile Kraftwerke investiert.
Fasst man diese Kostenentwicklungen und die oben genannten Studien zusammen, lautet das Fazit: Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Energieausgaben – im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung – auch nach der oben skizzierten kompletten Umstellung auf klimaneutrale Energieträger in einer ähnlichen Größenordnung liegen wie heute.
Die Energiewende ist also nicht nur technisch machbar, sie ist auch bezahlbar. Aber sie muss politisch gestaltet werden, und damit sind wir bei den aktuellen Diskussionen um die erforderlichen Konjunkturprogramme und staatlichen Impulse zur Wiederbelebung der Wirtschaft. Welche Rolle wird der Klimaschutz dabei spielen?
Nun, zunächst ist klar: Die Menschheit bekommt gerade mit kaum zu überbietender Deutlichkeit vor Augen geführt, wie mühsam, teuer und leidvoll es ist, eine bekannte, wissenschaftlich vorhergesagte Bedrohung – die einer Viruspandemie – zu unterschätzen und verspätet auf ihre Manifestation zu reagieren.
Klimaschutz in Coronazeiten
Es ist geradezu zwingend, diese Lehre auf die Klimaproblematik zu übertragen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Folgen des Klimawandels ungleich schwerwiegender, länger andauernder und unkontrollierbarer sind als diejenigen von Corona. Corona wird in spätestens zwei Jahren – wenn der Impfstoff und/oder ein Medikament zur Verfügung stehen – überwunden sein; der Klimawandel lässt sich nur mit ungeheuren Anstrengungen über viele Jahre bewältigen. Unser Gesundheitssystem mag jetzt einige Monate lang in Gefahr einer Überbeanspruchung sein, aber, um nur ein Beispiel zu nennen, unser Wasserversorgungssystem wird in spätestens 15 bis 20 Jahren permanent der Gefahr einer Überbeanspruchung ausgesetzt sein.
Es wird daher noch einmal viel mühsamer, sehr viel teurer, unvorstellbar viel leidvoller als bei Corona sein, wenn die Menschheit die bekannte, wissenschaftlich vorhergesagte Bedrohung durch den Klimawandel (weiter) unterschätzt, (weiter) verspätet auf seine Manifestationen rund um den Globus reagiert. Diese Folgerung aus der Coronaerfahrung ist so offensichtlich, so unabweisbar, dass sie die politische und gesellschaftliche Klimaschutzdebatte nachhaltig beeinflussen dürfte.
Insbesondere die so weit verbreitete Grundhaltung: „Klimaschutz ja, aber nicht auf Kosten von Wirtschaftswachstum/von Wohlstand/von Arbeitsplätzen“ – die ja ohnehin argumentativ auf tönernen Füßen steht (siehe oben) – wird kaum noch akzeptabel sein, auch für viele ihrer bisherigen Verfechter selbst nicht. Schon jetzt stoßen daher einzelne Forderungen, man möge angesichts der wirtschaftlichen Probleme durch Corona doch die Klimaziele erst einmal hintanstellen, auf großen Widerspruch.
Es geht bei der wirtschaftlichen Bewältigung der Coronakrise ja nicht um neue Belastungen für die Wirtschaft; es geht darum, Konjunkturprogramme und staatliche Impulse so zu gestalten, dass Investitionen den notwendigen Strukturwandel hin zu Klimaneutralität voranbringen und gleichzeitig die deutsche und europäische Wirtschaft zukunftsfähig machen. Der Ende Mai vorgelegte 750-Milliarden-Euro-Aufbauplan der EU-Kommission weist genau in diese Richtung: die „Förderung des ökologischen und digitalen Wandels“ soll – wie bereits von Merkel und Macron vorgeschlagen – im Zentrum stehen.
Wahrscheinlich wird die Bundesregierung (und andere Regierungen rund um den Globus) auch gar keine Wahl haben: Sie wird generell beim Klimaschutz entschiedener und ambitionierter handeln müssen. Denn eine weitere Folge von Corona dürfte sein, dass die jüngere Generation in den nächsten Jahren mit Macht Gerechtigkeit einfordern wird. Die Coronakrise bedroht vor allem das Leben der älteren Generation, der Klimawandel bedroht die zukünftigen Lebensbedingungen vor allem der jungen Generation. So wie die junge Generation in der ganz überwiegenden Mehrheit die große gesellschaftliche Anstrengung zur Bewältigung der Coronakrise mitträgt, so kann sie zu Recht von der Gesellschaft Entschlossenheit und Konsequenz in der Klimapolitik erwarten. Wer wollte ihr das verwehren? Wissenschaftliche Ergebnisse, Technologien, Kapital, politische Instrumente – alle Voraussetzungen dafür stehen bereit.
Dr. Thomas Unnerstall, RC Frankfurt Airport, war über 20 Jahre lang in leitenden Funktionen in der Energiewirtschaft tätig. Heute ist er internationaler Berater und Buchautor. 2018 erschien sein Buch „Energi wende verstehen“ (Springer-Verlag, 170 S.).