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Titelthema

Klappt es ohne Kernkraft?

Titelthema - Klappt es ohne Kernkraft?
© Illustration: Rohan Eason/Die Illustratoren

Die kommende Bundesregierung hat ehrgeizige Dekarbonisierungsziele ausgegeben. Doch wie können sie erreicht werden?

Fritz Vahrenholt01.12.2021

Verfolgt man die aktuelle klimapolitische Debatte in Deutschland, dann gewinnt man den Eindruck, die Rettung der Welt vor steigenden CO2-Emissionen liegt allein in deutscher Hand. Und tatsächlich nannte Greta Thunberg wenige Tage vor dem Weltklimakongress in Glasgow Deutschland einen der größten Klima-Schurken mit einer historischen Schuld. In den letzten 50 Jahren – das vorher emittierte Kohlendioxid ist längst verschwunden – haben die USA 250 Milliarden Tonnen CO2 emittiert, China 225 Milliarden Tonnen. Erst an sechster Stelle kommt Deutschland mit 45 Milliarden Tonnen. Aber darin enthalten sind die Emissionen der DDR, einem Staat mit den damals höchsten Emissionen pro Kopf weltweit. Und so wäre die richtige Antwort der deutschen Umweltministerin Svenja Schultze gewesen, mit Stolz darauf zu verweisen, dass kein anderes Land der Welt seine Emissionen in den letzten 30 Jahren um 40 Prozent reduziert hat. Nur Großbritannien kann da mithalten – und hat dies mit einem massiven Ausbau der Kernenergie geschafft.

Wie sehen die tatsächlichen Entwicklungen aus? China hat mittlerweile einen Anteil an der Gesamtemission der Welt von 31 Prozent, Deutschland hat nur noch einen Anteil von zwei Prozent. Von vielen wird die Kopfzahl als entscheidendes Kriterium angeführt. China emittiert pro Kopf 7,1 Tonnen CO2, Deutschland 8,8 Tonnen, die Entwicklungsländer deutlich weniger. Aber ist das der richtige Vergleich? Deutschland produziert Maschinen, Luftverkehrszeuge, Produkte für die Welt und kann nicht mit einem agrarisch strukturierten Entwicklungsland verglichen werden. Vor uns liegen im Pro-Kopf-Vergleich Länder wie Saudi-Arabien, Australien, USA, Kanada, Südkorea, Russland, Iran und die Niederlande.

Die Güte einer Volkswirtschaft im Hinblick auf die CO2-Vermeidung zeigt dagegen die CO2-Emission pro 1000 Dollar Bruttoinlandsprodukt (BIP). Und da steht Deutschland ganz vorne mit 0,15 Tonnen pro 1000 Dollar BIP. China benötigt 0,5 Tonnen CO2, um 1000 Dollar an Güter und Dienstleistungen zu erzeugen, der Weltdurchschnitt liegt bei 0,29 Tonnen. Das bedeutet, dass die deutsche und europäische Politik, die mit immer höheren Abgaben auf CO2 die Produktionen von Gütern hierzulande immer schwieriger machen, durch Produktionsverlagerungen nicht nur Arbeitsplätze und Wohlstand aufs Spiel setzen, sondern durch die Verlagerung der Produktion höhere CO2-Emissionen in Kauf nehmen.

China, die größte Exportnation der Welt, darf aber als „Entwicklungsland“ ohnehin bis 2030 etwa 40 Prozent mehr CO2 ausstoßen. Denn das Pariser Abkommen verlangt nur von den Industriestaaten Zusagen über einen Emissionsminderungsplan.

Für manche Menschen unbezahlbar

Deutschland hat bereits heute die höchsten Strompreise der Welt. Aber niemand thematisierte bislang, dass die Ursachen der nun massiv weiter steigenden Energiepreise zu einem Großteil in der europäischen Energiewende selbst zu suchen sind: in einer Politik, die den CO2-Preis auf 60 Euro pro Tonne hochschraubte, die in den Zeiten der Pandemie in Spanien, England, den Niederlanden und Deutschland Kohlekraftwerke stilllegte und sich nach der wirtschaftlichen Erholung wunderte, warum Gas in die Lücke der Stromversorgung drang und damit auch die Strompreise nach oben katapultierte. Dies alles zusammen mit einem schwachen Windjahr und der CO2-Brennstoffabgabe verdreifachte die Preise für Gas und Strom.

Der Erfolg der Energiewende wird allerdings auf der Seite der Versorgungssicherheit entschieden. Selbst eine Versechsfachung der Solarkapazität wird die Tatsache, dass nachts die Solarenergie null Strom liefert, nicht aus der Welt schaffen. Sechs mal null ist null. Auch sechs Windkraftwerke statt einem liefern bei Flaute keinen Strom. Allerdings führen sie bei Starkwind zu extremen kurzfristigen Überschüssen, die nicht anders zu bewältigen sind, als dass man die Produktion zeitweise abschaltet.

Mittlerweile ist allen Akteuren klar: Ohne gewaltige Speicherkapazitäten ist die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet. Doch wie groß diese Herausforderung ist, hört man selten. Deutschland braucht in einer Welt, in der auch Wärme und Verkehr und sogar die Industrie elektrifiziert werden sollen, drei bis vier Terawattstunden (TWh) Strom am Tag. Eine zehntägige Flaute erfordert also eine Speicherung von 30 bis 40 TWh Strom. Das entspricht der Hälfte der jährlichen Stromerzeugung Österreichs. Eine Batterielösung wäre unbezahlbar, Pumpspeicher (heute 0,040 TWh Speicherleistung) könnten kaum die Elektrizität für einen Tag bereitstellen. So bleibt als einzige technische Lösung der Wasserstoff. Doch in der Kette Strom zu Wasserstoff (–30 Prozent), Speicherung und Transport (–10 Prozent) und Rückverstromung (–60 Prozent) bleiben 25 Prozent der Primärenergie übrig. Zusammen mit den Kapital- und Betriebskosten dieser Kette kommt man auf einen Strompreis von 50 Cent pro Kilowattstunde, also das fünf- bis zehnfache des heutigen Niveaus. Damit wird eine Industriegesellschaft ihr eigenes Aus beschließen. Und keine Nation, die die mit dieser Deindustrialisierung verbundenen Wohlstandsverluste zur Kenntnis nimmt, wird diesem Beispiel folgen.

Am Frankfurter Flughafen wurden in der Vor-Corona-Zeit die Flugzeuge mit 5,4 Millionen Kubikmeter Kerosin betankt. Der Energiegehalt entspricht 50 TWh. Dafür benötigt man mindestens 100 TWh Strom, um den synthetischen Kraftstoff herzustellen – das ist so viel wie alle Windkraftanlagen an Land (105 TWh) liefern.

Der jährliche Energieverbrauch Deutschlands beträgt 2500 TWh, Wind- und Sonnenenergie leisteten einen Beitrag von 172 TWh, was etwa sieben Prozent entspricht. Rechnet man den Windenergieanteil auf eine 100-prozentige Energieversorgung durch Wind und Solar hoch, so müsste 15-mal so viel Windenergie erzeugt werden. Würde man im Abstand von einem Kilometer die größten Windkraftanlagen mit einer Leistung von fünf Megawatt errichten, würden etwa zwei Drittel der Landesfläche – egal ob Stadt, Land, Fluss – mit Windkraftanlagen beaufschlagt werden.

Die wichtigste Alternative bestünde darin, in Deutschland die Abtrennung und Ablagerung des CO2 in Tiefensedimenten, etwa unter der Nordsee, wieder zu ermöglichen. In Deutschland ist diese sogenannte CCS-Technologie für Kohle- und Gaskraftwerke verboten. Dieses Verbot hatte seinen Ursprung in Schleswig-Holstein, wo die Grünen im Jahr 2009 Unterschriften sammelten gegen die Endlagerung von CO2 in den dortigen Tiefengesteinen. Vorweg gegangen war der damalige Landesvorsitzende der Grünen, Robert Habeck, mit den Worten: „Schleswig-Holstein ist das Land der erneuerbaren Energien und keine Müllhalde für CO2.“ Die Landesregierung stellte einen Antrag im Bundesrat zum Verbot der CCS-Technik und 2012 wurde die Technologie bundesweit verboten. Das einzige deutsche Pilotkraftwerk mit CCS in Schwarze Pumpe wurde 2014 stillgelegt und die Anlage anschließend nach Kanada verkauft. Heute gibt es weltweit Initiativen, um auf diese Weise CO2-Neutralität von Kraftwerken und Industrieanlagen zu erreichen. Man stelle sich vor, man hätte diesen Weg in Deutschland weiter beschritten. Mit Fug und Recht könnten wir von China, Indien, den USA und anderen Kohleländern verlangen, eine solche Abscheidung einzuführen!

Es braucht pragmatische Lösungen

Ein Beitrag, der ohne Investition möglich wäre, ist die Laufzeitverlängerung der noch am Netz befindlichen sechs deutschen Kernkraftwerke. Sie produzieren immerhin 64 TWh zuverlässigen, kostengünstigen und CO2-freien Strom. Der Bundestag hätte es in der Hand, durch ein Vorschaltgesetz noch vor dem 31. Dezember 2021, das die entsprechenden Regelungen des Atomgesetzes außer Kraft setzt, einen Beitrag gegen die weitere massive Verteuerung und zu befürchtende Strommangelwirtschaft zu leisten. Um die 64 TWh der sechs Kernkraftwerke zu ersetzen, benötigt man 30.000 Megawatt Windkraftanlagen. Bei einer Verdoppelung des jährlichen Zubaus an Windkraftanlagen auf 5000 Megawatt bräuchte man acht Jahre, um diesen Verlust der Strommenge auszugleichen.

Darüber hinaus müsste das in Deutschland geltende Forschungsverbot von Kerntechnik zur Energieerzeugung abgeschafft werden, damit zukunftsfähige Kerntechnologien wieder in Deutschland erforscht werden können. Konzepte wie kleine modulare Kernkraftwerke oder der Dual-Fluid-Reaktor, die in der Lage sind, aus abgebrannten Brennelementen auf inhärent sichere Weise Strom zu erzeugen, ohne langlebige Rückstände zu produzieren, könnten Abhilfe schaffen.

Aber es ist kaum zu erwarten, dass SPD, Grüne und FDP sich an den Empfehlungen des Weltklimarats IPCC orientieren, der auf Seite 569 seines jüngsten Berichts empfiehlt: „Es werden intensivere Nutzung von Technologien wie erneuerbare Energien, Kernenergie und CCS benötigt.“ Warum folgen wir hier nicht der Wissenschaft?


Buchtipp

 

Fritz Vahrenholt, Sebastian Lüning

Unerwünschte Wahrheiten. Was Sie über den Klimawandel wissen sollten

Langen-Müller-Verlag 2020, 352 Seiten, 25 Euro

Fritz Vahrenholt

Prof. Dr. Fritz Vahrenholt war von 1991 bis 1997 Hamburger Umweltsenator (SPD). Anschließend ging er als Vorstand für Erneuerbare Energien zur Deutschen Shell AG, 2001 wurde er Vorstandsvorsitzender des Windenergie-Anlagenbauers REpower Systems. Danach leitete er die Geschäfte der Innogy GmbH.

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