Das Türkei-Dilemma
Klare Ansage, klare Angebote
Deutschland und die Türkei sind zerstritten wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Berlins Politik gegenüber Ankara ist widersprüchlich und unehrlich. Trotz der aktuellen Krisenrhetorik sind beide Seiten aufeinander angewiesen.
Es war einer der wenigen überraschenden Momente des diesjährigen Bundestagswahlkampfes. Die eigene schlechte Position vor Augen und die Hoffnung, endlich einmal gegen Kanzlerin Angela Merkel punkten zu können, legte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz auf offener Bühne eine Kehrtwende in der Außenpolitik seiner Partei hin und erklärte: „Wenn ich Bundeskanzler werde, werde ich die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei beenden.“ Einen Moment lang erinnerte Merkel Schulz daran, dass dazu ja noch 27 andere EU-Staaten etwas zu sagen hätten, doch im Wissen um die große Popularität der Schulz-Forderung bei den Wählern schwenkte dann auch die Kanzlerin auf die neue Linie ein. Ja, auch sie werde sich beim kommenden EU-Chef-Treffen im Oktober dafür einsetzen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden.
Populistische Versuchung
Diese Episode im „Duell“ der beiden Kanzlerkandidaten zeigt, wie man Außenpolitik auf keinen Fall machen sollte: Emotional, aus dem Moment heraus und aus kurzfristigen wahltaktischen Erwägungen. Die Quittung kam schon wenige Tagen später. Auf dem ersten EU-Außenministertreffen nach dem Fernsehduell zeigte sich, dass außer Österreich kaum ein anderes EU-Land gewillt ist, den Beitrittsprozess mit der Türkei zu beenden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die EU kann durch den Abbruch der Gespräche nichts gewinnen, aber viel verlieren.
Als erstes den letzten Rest an politischem Einfluss, den EU-Europa noch in der Türkei hat. Erdogan würde gegenüber der türkischen Bevölkerung leichter noch als jetzt schon behaupten können, dass „der Westen“ ein Feind der Türkei sei und das Land sich neue Partner im Osten suchen müsse. Die demokratische Opposition wäre um eine entscheidende Hoffnung ärmer, der Abbau von Demokratie und Rechtsstaat, der bereits in vollem Gange ist, würde sich noch einmal beschleunigen. Und was ist mit den deutschen Staatsbürgern die derzeit in türkischen Gefängnissen sitzen? Hätte man die Beitrittsgespräche erst einmal beendet, dürften ihre Chancen, in absehbarer Zeit wieder in Freiheit zu kommen, weiter schwinden.
Kanzlerin Merkel hat deshalb auch noch vor der Wahlentscheidung wieder den Rückwärtsgang eingelegt und erklärt, es sei auch denkbar, den Beitrittsprozess erst einmal nur auszusetzen, eine Position, die immerhin auch das europäische Parlament vertritt und die, anders als der Abbruch der Verhandlungen, für den es ein einstimmiges Votum braucht, per Mehrheitsentscheidung gefällt werden könnte. Man dürfe, so Merkel, der Türkei gegenüber kein Schauspiel interner Uneinigkeit bieten. Doch ist das ja bereits der Fall.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein EU-Minister Ömer Celik betonen genüsslich, wie sehr Deutschland doch innerhalb der EU isoliert sei. Und um noch einmal Salz in die deutschen Wunden zu streuen, ließ Erdogan den in der Türkei in U-Haft einsitzenden französischen Journalisten Loup Bureau auf Bitten des französischen Präsidenten Emanuel Macron eine Woche vor den Bundestagswahlen ziehen. Immerhin ist Macron entschieden gegen den Abbruch der Beitrittsverhandlungen und entwickelt sich immer mehr als neuer wichtigster Ansprechpartner der Türkei innerhalb der EU.
Sosehr Recep Tayyip Erdogan aus vielen guten Gründen beim deutschen Publikum verhasst ist – die neue Bundesregierung sollte sich hüten, aus dieser emotionalen Position heraus Außenpolitik zu machen. Denn tatsächlich braucht Europa die Türkei genauso wie die Türkei für eine gedeihliche Entwicklung Europa braucht. Außerdem ist Erdogan nicht die Türkei, und es wird natürlich eine Zeit nach dem jetzigen Präsidenten geben, für die man die Verbindungen aufrecht halten sollte.
Schlüsselland für Europa
Allein die geographische Lage der Türkei macht sie zu einem Schlüsselland für Europa. Die Türkei ist nicht nur die Brücke, sondern auch der Puffer zum Nahen Osten, zum Kaukasus und zu Zentralasien. Wie wichtig dieser Puffer ist, konnte man sehen, als Syrien kollabierte und die Türkei drei Millionen syrischer Flüchtlinge aufnahm, die sonst ebenfalls nach Europa gedrängt hätten. Die drei Milliarden Euro, die die EU der Türkei für die Versorgung dieser Flüchtlinge zugesagt hat, sind angesichts der Probleme, die das Land mit der großen Zahl an Flüchtlingen hat, viel zu wenig.
Die Türkei ist Mitglied der NATO – wurde übrigens noch vor der Bundesrepublik NATO-Mitglied – und ist auch nach dem Ende des Kalten Krieges noch ein wichtiger Pfeiler des westlichen Bündnisses in einer höchst instabilen Region. Auch wenn die Zusammenarbeit mit der Erdogan- Türkei im Moment höchst problematisch ist; die Forderung, das Land aus dem Bündnis herauszudrängen, ist langfristig höchst kontraproduktiv.
Noch wichtiger sind die wirtschaftlichen Beziehungen. Die Türkei wird in wenigen Jahren 80 Millionen Einwohner haben. Sie ist nach den USA, China, der Schweiz und Russland der fünftgrößte Handelspartner der EU. Der Warenaustausch mit der Türkei macht 4,2 Prozent des gesamten EU-Handelsvolumens aus, in Zahlen rund 145 Milliarden Euro im Jahr.
So wie die Türkei für die EU ein sehr wichtiger Markt ist, ist umgekehrt die Türkei existentiell auf den europäischen Markt angewiesen. Mehr als 40 Prozent ihres gesamten Handels wickelt die Türkei mit EU-Ländern ab, an erster Stelle mit Deutschland. Rund 60 Prozent aller Direktinvestitionen in die türkische Wirtschaft kommen aus der EU. Mehr als 6000 deutsche Firmen sind in der Türkei vertreten, eine wichtige Rolle spielen dabei deutsch-türkische Unternehmer. Gerade für Deutschland ist es deshalb von entscheidendem Interesse, gute wirtschaftliche und politische Beziehungen zur Türkei zu haben.
Trotzdem muss die Bundesregierung darauf reagieren, wenn in der Türkei immer mehr deutsche Staatsbürger ohne erkennbare Schuld offenbar gezielt verhaftet und teilweise monatelang ohne Anklage als politische Gefangene in U-Haft gehalten werden. Nachdem diplomatische Bemühungen hinter den Kulissen nichts gebracht haben, droht die Kanzlerin jetzt mit wirtschaftlichen Sanktionen. Als ersten Schritt hat die Bundesregierung innerhalb der EU ein Veto gegen den Ausbau der Zollunion mit der Türkei angekündigt. Außerdem sollen Rüstungsgeschäfte auf Eis gelegt werden und Hermes-Bürgschaften eingeschränkt werden.
Die Interessen der Türken
Das Ergebnis ist nicht besonders ermutigend. Zwar hat die türkische Regierung sofort eine „schwarze Liste“ mit hunderten deutschen Firmen zurückgezogen, die angeblich mit vermeintlichen Putschisten der islamischen Gülen-Bewegung in Kontakt stehen könnten, doch deutsche Staatsbürger sind deshalb nicht freigekommen. Die Reaktion zeigte ganz klar, dass die türkische Regierung ein großes Interesse daran hat, deutsche Firmen nicht zu verunsichern, in der politischen Auseinandersetzung aber nicht nachgeben will.
Die jetzige Krise mit der Türkei wird nur gelöst werden können, wenn die neue Bundesregierung tatsächlich eine neue kohärente Türkeipolitik entwickelt. Jahrelang zu behaupten, man halte sich an die Verträge und beteilige sich ja an den Beitrittsgesprächen, zu Hause aber immer wieder zu betonen, man wolle die Türkei ja gar nicht in der EU haben, wie Merkel das seit ihrem Amtsantritt gemacht hat, kann das Verhältnis zur türkischen Regierung nur zerstören, auch wenn der dortige Chef nicht Erdogan hieße. Man hätte längst klarstellen müssen, dass die Türkei kein Vollmitglied der EU werden wird und dem Land eine andere, realistische Alternative anbieten sollen. Wenn Sigmar Gabriel jetzt sagt, erfolgreiche „Brexit“-Verhandlungen könnten zu einem Modell auch für das zukünftige Verhältnis der Türkei zur EU werden, ist das immerhin ein Ansatz.
Vor allem aber sollte man endlich seine Versprechen gegenüber der türkischen Bevölkerung erfüllen. Im Rahmen des sogenannten Flüchtlingsabkommens war den Türken versprochen worden, dass sie zukünftig visafrei in die EU einreisen dürfen. Wer zeigen will, dass die Türkei mehr ist als Erdogan, sollte dieses Versprechen endlich einlösen. Das könnte innerhalb der türkischen Bevölkerung wieder etwas Vertrauen in die EU herstellen und damit auch Erdogan unter Druck setzen, sein Verhältnis zu Deutschland und anderen EU-Ländern zu verbessern.
Um das Verhältnis zur Türkei auf eine neue, stabile Basis zu stellen, braucht es mehr gegenseitiges Verständnis, klare Ansagen und positive Perspektiven.